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  • alexnoe

mehr als 1000 Beiträge seit 30.08.2003

Einpedalfahren hat nichts mit Rekuperation zu tun

Zitat aus dem Artikel:

Wer sich daran gewöhnt hat, mag es nicht mehr missen und Energie spart es obendrein (ein bisschen).

Diese Gerüchte halten sich sehr hartnäckig. Das hat sich eine Marketing-Abteilung ausgedacht hat, um die Anzahl der Vorteile, mit denen ein E-Auto beworben werden kann, um 1 zu erhöhen:
- Beschleunigung von 0 auf 50 in der Stadt in 2 Sekunden. Da kann kein Verbrenner mithalten. So kommen die übergewichtigen Kinder schneller in der Schule an.
- Bei 3 Tonnen gewinnt man fast jede Kollision. So kommen die übergewichtigen Kinder sicherer in der Schule an.
=> reicht noch nicht, daher weiteres Argument:
- Rekuperation während des Einpedalfahrens
Schon hat man 3 statt 2 Argumente, und Autotester glauben, dass "Rekuperation während des Einpedalfahrens" bedeutet "Rekuperation dank Einpedalfahrens". Im Artikel hier steht es immerhin richtig:

Die Bremse wirkt angesichts der Lenkpräzision auf dem ersten Drittel Pedalweg regelrecht schlapp. Das ist der Bereich, in dem das Auto ganz oder vorwiegend regenerativ bremst...

Die Erfindung des Einpedalfahrens stammt vermutlich noch aus einer Zeit, als Autos noch etwas weniger Software enthielten, als wegrostende Bremsscheiben bei E-Autos und Plugin-Hybriden noch als normal galten, und es auch sonst Fahrerassistenzsysteme, die heute als normal gelten, noch nicht gab.

Mit der Rekuperation hat das heute nicht mehr viel zu tun, allenfalls, wenn es der Hersteller seltsam ausgelegt hat. Jedes bessere E-Auto ist in der Lage, u.a. anhand des Drucks auf das Bremspedal zu entscheiden, ob ausschließlich per Rekuperation gebremst wird, oder ob die herkömmliche Bremsanlage dazu benötigt wird, oder ob es wieder einmal Zeit ist, die Bremsscheiben zu entrosten. Ein Spareffekt durch Einpedalfahren kann sich nur dann ergeben, wenn der Fahrzeughersteller eine nach heutigem Maßstab sehr einfache Software-Regelung nicht hinbekommt.

Dazu kommen Systeme wie die Motorschleppmomentregelung: Sie verhindert, dass die Räder durch plötzliches Loslassen des Fahrpedals blockieren. Beim E-Auto mit Einpedalfahren kommt das Problem zwar von anderer Stelle als bei Verbrennern, wirkt sich aber genauso aus: Lässt man das Fahrpedal los, und reicht die resultierende Bremswirkung, um die Räder blockieren zu lassen (es kommt jedes Jahr im Winter zu überraschender Glätte, mit der niemand rechnen konnte), muss die Bremswirkung ja reduziert werden, um die negativen Auswirkungen blockierter Räder zu vermeiden. Ich weiß nicht, wie das bei E-Autos dann heißt, aus Fahrersicht muss das System aber das gleiche erreichen wie eine Motorschleppmomentregelung.

Ist der Akku randvoll, dürfte Bremsen per Rekuperation schwierig werden. Das dürfte zwar sehr selten der Fall sein, weil man fast immer erstmal losfahren muss, ehe man gleich wieder bremst, aber ignorieren darf der Hersteller das trotzdem nicht. Die Wirkung bei gleichem Bremsdruck (oder beim Loslassen des Fahrpedals) muss gleich bleiben.

Man sieht also: Die Software muss ohnehin ziemlich stark eingreifen können, um den heute üblichen Stand der Technik und Sicherheit zu erreichen. Die Software muss ohnehin anhand der angeforderten Bremswirkung, Akkuladestand und der ABS-Sensoren entscheiden, welches Teilsystem welchen Beitrag zur angeforderten Verzögerung leistet, muss aber die Bremswirkung verringern können, wenn Räder blockieren, egal wo die Bremswirkung herkommt. Ob die Anforderung einer Verzögerung nun durch das Loslassen des Fahrpedals oder erst durch das Betätigen des Bremspedals entsteht spielt dabei überhaupt keine Rolle.

Im Massenmarkt, wenn es irgendwann keine Verbrenner mehr gibt, wird der Effekt so sein: Ein Rentner, der 50-60 Jahre lang mit 3 Pedalen gefahren ist, vielleicht ein paar Jahre mit 2 Pedalen, hält sich für mutig und will sich im öffentlichen Straßenverkehr auf Einpedalfahren umstellen, weil es ja so toll ist (Stand in der Presse, und der Verkäufer hat es auch gesagt). Und dann wundern sich alle, dass 50-60 Jahre Fahrerfahrung nicht von heute auf morgen umtrainiert werden können, und dass vorausfahrende Rentner dauernd hart bremsen. Das hätte ja keiner ahnen können, wird es heißen. Begeisterte E-Auto-Tester, die nichts anderes kennen und den Unsinn mit der Rekuperation geglaubt haben, hätten sich sofort an das Verhalten gewöhnt, wird es heißen. Auf die Idee, dass Rentner mit 50-60 Jahren Fahrerfahrung mit Dreipedalfahren anders reagieren, konnte ja keiner kommen, wird es heißen.

Das würde bei jeder echten Gebrauchstauglichkeitsanalyse (neudeutsch: Usability) durchfallen. Zusammen mit der Touch-Bedienung fast aller heutiger Fahrzeuge.

Das Posting wurde vom Benutzer editiert (30.09.2022 12:51).

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