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  • Mov Faltin

mehr als 1000 Beiträge seit 11.12.2013

Ach, ach, Heimat

Zeter und Moria!

Ein kurzes Dribbling vorbei an der Otto-Fleck-Schneise der Verwüstung, aber dann, trapp-trapp, weiter, denn da gibt es ja nichts mehr zu sehen außer höchstens »All your data are belong to us« (was bei Publikation durchaus interessant wäre). Ein paar Meter weiter, am Nordend des idyllisch in der Flugschneise gelegenen Stadtwaldes der Würstemetropole, heißt es aber schon richtig »All your base are belong to us«, ab 2021 hat der DFB dann da sein neuen Mauschelhaus. Und zwar, obwohl sich in einer Abstimmung die Mehrheit von Bürgern für einen Verbleib der dortigen Galopprennbahn und des Klein-doch-nicht-Mini-Golfplatzes darin aussprach. Aber relative Mehrheiten sind der Politik Frankfurts seit jeher wurscht, das Quorum war nicht erfüllt, und also hält man sich lieber, wie sonst nur in München den Brätdarmmagnaten, den Weinkeller warm. Der übrigens ja nun doch auch in FIFA machen will. Aber das ist wohl egal; in Frankfurt ist man das Abgehobensein allenthalben gewohnt, auch abseits der Cocktailwürstchenskyline.

Abgehoben auch die Politiker mit ihrem Burggraben, der sie, wenn das so dreist weitergeht, demnächst wohl davon abhalten wird, auch außerhalb ihres Geckundgackergeheges die unschuldige Bevölkerung zu verschrecken. »Oh, das muss eine von diesen Sirenen sein, die leuchtet rot und stößt komische Laute aus! Herrje, herrjemine, der Russe! Wo ist der Bunker?« Dabei gibt es in Berlin gar keine Sirenen, und erst recht keine Schutzräume für den Bürger. Nein, es ist bloß Frau Künast, die sich da gerade lauthals und nach Luft schnappend ein Loch in den Bauch gefreut hat (und zwar parallel zu mir darüber), dass sie erfolgreich das Twittervolk getrollt hat. Ein klarer Sympathiepunkt, endlich einmal! Fast sympathisch ist mir auch die Justizministerin. Nicht, weil sie tolle Sachen macht -- sondern, weil ich ihr abnehme, dass sie tolle Sachen machen will. Auf jeden Fall rotiert sie mit erwähnenswerten Ansätzen durch die Flure der Republik, dass einem vom bloßen Zusehen schwindlig werden kann.

Aber zurück zu Moria. Eine Abstimmung über eine Aufnahme ist gelaufen, und die Grüne und die Linke waren ihren Linien erfreulich treu; die Union und AfD ebenfalls, nur eben in die andere Richtung. Allein die SPD des Ex-Cum-Hotshot Olaf Schloz mit seinem Warburgdilemma hat sich mal wieder ganz verdreht. Wie ein lustiges Springkraut im Walde. Plopp, verbogen. So kennen wir sie, die Roten. Dabei hätte irgendwem, der sich auf der Genossen Zuraten die ganze Zeit bloß von Brot und Wasser nährt, durchaus auffallen müssen, dass das Rot bei den Köpfen der SPD eigentlich nur vom Weintrinken kommen kann. Vielleicht ein guter Breisgauer, aus Südbaden, vom Kellerfritz. Dem Schreckgespenst der Galopper und Klein-, aber noch nicht Minigolfer.

Der Namensgeber dessen bald nicht mehr aktueller Adresse übrigens, Otto Fleck, war ein Expressionist. Und beteiligt an der Kasselersezierung. Nein, Moment, an der Kasseler Sezession. Ein Spalter! Also so wie die Bauherren des Schlozgrabens von Berlin. Die, die sich am Ende doch nur selbst aussperren werden.

Einsperren lassen hat sich hingegen kurzerhand der Toptyp und Toppertypist sowie mindestens dreifache Wortwertwart Uli Stoer-Scala bei seiner neuerlichen revolutionären Riesenreportage. Es geht beim wohl bestbepreisten Nobelnewser und Royalreporter diesmal um die Moren der Migration, ums Ausgegrenzt- und ums Eingesperrtsein. Und um plötzlich gesperrte Golfplätze. Und natürlich um Flecken der Sezession. Aber nicht um Kassel. Warum auch.

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Und Stärke sei dem Schwachen hold -- eine Kanndasdennwahrseinholladiewaldfeereportage der personifizierten Strahlkraft zwischen Morgenstern und Spiegelbild, Uli Stoer-Scala, dem einzigst legitimsten Verkünder absolutester Wahrstheiten.
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Stärke brauchen sie in Angola, im Südwesten Afrikas. Und Dikamba Ngola ist stark. Das ist der Grund, warum er sich im Jahre 1772 freiwillig aufmacht, aus einem Dorf in der Gegend von Balombo. Durch die Steppe und über zunehmend staubige Pfade nach Mbenguela. Er zählt die größeren Steine an allen Fingern und Zehen und beginnt dann wieder von vorne. Er zählt viel, das letzte Mal in seinem Leben. Er zählt sich bis ans große Wasser, hinter der Stadt, dorthin, wo kleine hölzerne Ruderboote auf dem Sand liegen, beschützt von ein paar davorstehenden Schwarzen und einem buckligen Portugiesen mit schwarzem Bart. Dikamba Ngola spricht sie an, doch keiner versteht seine Sprache. Er muss mit Händen und Füßen klarmachen, dass er gehört hat, dass es hier Arbeit gebe, am Meer. Der Portugiese gibt ihm zu verstehen, er solle sich zu ihnen gesellen. Sie geben ihm süßes Brot zu essen und Wasser zu trinken und eine Wolldecke und bedeuten ihm, zu warten. Einen ganzen Tag lang suchen sie Schatten unter den kieloben liegenden Booten und warten. Am nächsten Abend erreicht eine große Gruppe junger Ambundu den Strand von Mbenguela, flankiert von einer Handvoll bewaffneten Schwarzen mit gefährlichen Gesichtern -- sicher keiner Mumbundu -- und zwei Portugiesen. Gemeinsam kippen sie die Boote, schieben sie ins flache Wasser und rudern mit ihnen hinaus, zu einem hölzernen Schiff mit zwei großen Masten. Die Ambundu müssen rudern, kilometerweit. Stärke brauchen sie in Angola.

Und stark stellt sich Bertrand Moore seinen Vorfahren Dikamba Ngola vor -- und damit seinen eigenen Migrationshintergrund. Er hat seinen Vorfahren selbst getauft, Dikamba ist der einzige Ausdruck der afrikanischen Sprache, den er kennt. »Dikamba heißt Freund, so wie beim NBA-Spieler Mutombo«. Moore darf sich seine eigene Herkunft ausmalen; er muss es sogar. Denn die Geschichte seiner Ahnen lässt sich nicht genau nachzeichnen. Es gibt kaum Namen, keine Datenspuren, keine Aufzeichnungen, kein Tagebuch, kein Logbuch. Von wem sollte das auch geschrieben sein? Schreiben können zu der Zeit die meisten Portugiesen nicht einmal. Aber Bertrand Moore vermutet, dass Dikamba Ngola als Arbeitswilliger nach Kuba kommt, freiwillig. Und von dort nach Louisiana verschifft wird, das damals noch unter französischer Flagge steht und damit eine freiheitliche schwarze Bevölkerung hat. Moore kennt nur ein paar überlieferte Geschichten von seinem Vorfahren, mit Hexen und Geistern und Kobolden. Er hat sich aus diesen Überlieferungen seine eigene Herkunft, seine eigene Identität zurechtgefiltert. Und das, was er für Hokuspokus hält, aussortiert. Vielleicht würde ihm ein Aberglaube ein wenig Hoffnung und Sinn schenken. Hier, in Angola, im Süden der USA.

Stärke brauchen sie im Süden der USA. Auch in Louisiana. Seit jeher, vor allem aber seit dem Verkauf von Louisiana durch die Franzosen anno 1803. Jahrzehnte danach wird Moores Ururgroßvater von seinem Herren in den Sezessionskrieg gesandt. Es geht um viel für den Süden, das weiß der Ururopa. Um Unabhängigkeit und Freiheit und das Recht auf Wohlstand. Darum, dass seine Halterfamilie weiterexistieren kann mit ihrer Farm nördlich von New Orleans. Die Konföderationsstaaten wehren sich gegen eine Diktatur aus dem Norden der USA, mit Vorschriften von ferne, die der Lebenspraxis zuwiderlaufen. Sie wollen autonom sein, keine bloße Kolonie des Nordens. Sie wollen nicht auf die Bereiche verpflichtet werden, die ihre Schwachstellen sind, sondern auf die Stärken ihres Landes setzen. Auf Rohstoffe und Landwirtschaft. Vor allem auf Baumwolle. »King Cotton« nennt der Süden sein Druckmittel ausfallender Baumwollexporte. Damit will er das Vereinigte Königreich dazu bringen, den Konföderierten beizuspringen. Doch das schlägt fehl. Der Süden scheitert mit seiner Unabhängigkeit gegen die »Schwarzen Republikaner« von Washington; die Farmgemeinde des Ururopas kapituliert bereits zwei Jahre nach Kriegsbeginn. Moores Ururgroßvater soll im Nachbarstaat weiterkämpfen für die Konföderierten. Während Louisiana dazu verpflichtet wird, die Sklaverei einzustellen. Ohne die rund 45% Sklaven gibt es keine wirtschaftliche Perspektive für den Süden; es gibt paramilitärische Aufstände, eine Militärbesatzung durch den Norden, und das Land liegt in Trümmern, verarmt. Stärke brauchen sie im Süden der USA.

Der Ururgroßvater ist kriegsentscheidend, glaubt man Bertrand Moore. Im erbarmungslosen Sezessionskrieg der 1860er Jahre gibt es eine Übereinkunft zwischen den Unionstruppen des Nordens und den Konföderierten des Südens: Kriegsgefangene müssen innerhalb von zehn Tagen entweder ausgetauscht werden oder per »parole« entlassen -- also gegen das Versprechen, nicht wieder zu Waffen zu greifen und auch nicht zu fliehen. Dies ermöglicht beiden Lagern die Fokussierung auf die Gefechte. Gleichzeitig besteht eine Vereinbarung über Austauschkurse von Kriegsgefangenen. Es gibt einen einheitlichen Wechselkurs von Offizieren zu einfachen Soldaten von 1:15, und ansonsten gilt ein Umtauschkurs von 1:1, auch für Partisanen. Bis der Norden 1863 ein paar Schwarze, darunter Moores Ururgroßvater, zurücktauschen will. Der Süden verweigert sich: Schwarze sind offiziell keine Angehörigen des Südstaatenmilitärs und als Sklaven ebensowenig Bürger, sondern Eigentum ihrer Halter. Damit ist eine Rückgabe an die Konföderiertentruppen unrechtmäßig, eine Enteignung der rechtmäßigen Besitzer. Der Süden muss also ablehnen, und Unionsgeneral Ulysses S. Grant -- späterer US-Präsident und selbst aus einer Sklavenhalterfamilie -- nimmt dies zum willkommenen Anlass, das Abkommen zum humanen Austausch komplett einzustellen. Und das entscheidet den Krieg zugunsten des Nordens, sagt Moore.

Stärke brauchen sie, die Gefangenen, etwa in Form von Mais. Doch mit der Einstellung des Austauschs sowie der damit verbundenen »parole«-Regelung verhungern landauf landab Kriegsgefangene. Die Priorität liegt im erbarmungslosen Kampf eben nicht auf der Durchfütterung des Feindes. Der Ururgroßvater entkommt der Gefangenschaft kurz vor Kriegsende. Ohne sein linkes Bein und fast verhungert kehrt er zurück nach Louisiana, wo seine Halterfamilie zwei gefallene Söhne betrauert und das Land nicht mehr bestellen kann. Bertrand Moores Ururgroßvater wird befreit aus seinem Arbeitsverhältnis, während dessen eigener, schwarzer Sohn bei der Halterfamilie bleiben darf; Moores Ururgoßvater erhält dafür das Wahlrecht. Und schlägt sich obdach- und erwerbslos über Bettelei und landwirtschaftliche Kleindiebstähle durch bis New Orleans, wo sich seine Spur verliert. Kleinkriminalität, um nicht zu verhungern. Mais, Reis, Soja, Kartoffeln -- Stärke brauchen sie in Louisiana.

Und Arbeitskraft. Aber sie dürfen die Sklaverei nicht fortführen. Also übernehmen die Südstaaten die neumodische Erfindung der Haftstrafe -- und setzen Gefangene zum Wiederaufbau ein. Auch Bertrand Moores Urgroßvater, der sich den Namen Tom Moore gegeben hat, nach seinem Idol »Thomas Overton Moore«, wird von seiner Halterfamilie entlassen. In Folge ausgefeilter Strafrechtsnovellen -- etwa einer Erweiterung um den präzise auf Ex-Sklaven zugeschnittenen Straftatbestand der »vagrancy«, der Arbeits- und Obdachlosigkeit -- wird Tom Moore verhaftet. Ebenso wie Unmengen anderer »befreiter« Ex-Sklaven. Die Strafgefangenen werden dann an Unternehmer verliehen, für einen Spottpreis. Etwa für Feldarbeit, Minenarbeit, oder zum Bau der Eisenbahn. Es kommt regelmäßig vor, dass die schwarzen Gefangenen dabei ums Leben kommen. »Plötzlich war das Leben von Sklaven nichts mehr wert; zuvor waren Sklaven der wertvollste Besitz von Grundeigentümern gewesen«, erinnert sich Bertrand Moore an die Überlieferungen. Sein Urgroßvater Tom hat unheimliches Glück: Die Halterfamilie, bei der er zuvor untergebracht war, leiht ihn gezielt aus -- und bietet ihm so sein altes Zuhause, zu privilegierten Lebensbedingungen. Einige seiner Mithäftlinge hingegen werden von derselben Grundbesitzerfamilie geschunden, der jüngere der zwei verbliebenen Söhne peitscht sogar einige Gefangene aus. Und verheimlicht das vor den Schwestern, damit der Arzt nicht geholt werden muss. »Das war die schlimmste Zeit für uns Schwarze -- nach der Abschaffung der Sklaverei«, glaubt Bertrand Moore. »Davor waren wir wenigstens ein Statussymbol gewesen für eine kleine Elite, wir waren irgendwie wertvoll. Und was hat sich effektiv geändert?«

Viel hat sich geändert: Die Minenschufterei, die manuelle Landwirtschaft, die Arbeiterindustrie -- all das ist nicht mehr so entscheidend. Vieles ist automatisiert worden. Heutzutage geht der Trend zu Dienstleistungen. Eigentlich ist alles anders. Was Bertrand Moore mit seiner Frage meint, ist: »Was hat sich für die schwarze Bevölkerung geändert?« Die Sicherheit und bisweilen Fürsorge durch Sklavenhalter, wenn auch offen rassistisch, gibt es nicht mehr. Es gibt eine Freiheit, aber die ist verpflichtend. Ein einfacher Lebensweg, mit klaren Vorgaben, den gibt es nicht. Ist denn das Leben nicht mehr determiniert durch die Hautfarbe? -- »Doch. Man muss sich nur einmal die Gefängnislandschaft anschauen«, sagt Bertrand Moore. »Viel hat sich da nicht geändert. In vielen Gefängnissen sind zwei Drittel der Insassen schwarz. Und über sogenannte 'prison farms' werden Insassen weiter zur Arbeit gezwungen, bei minimaler Entlohnung. Wir haben hier zum Beispiel alles, sind ein kommerzieller Betrieb. Hier kannst du als Häftling auf dem Feld arbeiten, du kannst beim Rodeozirkus mitmachen für die Touristen, du kannst in der Werkstatt schaffen -- wir haben hier alles. Alles, um konföderiert zu bleiben.« Bertrand Moore ist Häftling in Angola, im Staatsgefängnis von Louisiana, umflossen vom Mississippi. Viel hat sich offensichtlich nicht geändert.

Auch im Gefängnissektor ist eine Privatisierung eingetreten, wenn auch nicht in Angola, Louisiana. Bald 10% des Gefängnisbetriebes in den USA ist an Privatunternehmen ausgelagert worden. Die sollen den Strafvollzug wirtschaftlicher betreiben. Um das zu erreichen, gibt es verschiedene Maßnahmen. So werden Häftlinge dazu gezwungen, für einen Hungerlohn, beispielsweise für 50 Cents pro Tag, Arbeit im Gefängnis zu verrichten wie etwa Putzen. Oder die Betreiber dünnen Mahlzeiten auf das Allernötigste aus, was noch zum kärglichen, dünngemergelten Überleben reicht -- was dann die Häftlinge dazu verleitet, ergänzend im überteuerten Gefängnishandel einzukaufen und dem Betreiber Einkünfte zu bescheren. Auf der anderen Seite wird freilich gespart bei Personal und Infrastruktur. »Das sieht man schon an den ganzen Schmalzärschen«, sagt Bertrand. Er meint damit die durchweg übergewichtigen Gefängniswärter, die durch die Gänge gewankt kommen. »Je fetter, desto ärmer!«

Es sind nämlich nicht nur die privat betriebenen US-Gefängnisse qualitativ wie quantitativ unterbesetzt und überbelegt. »Und genau hier kommt der Rassismus ins Spiel«, sagt Bertrand Moore. So gut wie alle US-Gefängnisse sind segregierend, trennen strikt zwischen den einzelnen Rassen. »Selbst im Bundesgefängnis von Atlanta hast du drei Fernsehräume, drei Duschräume und so weiter. Einen für die Schwarzen, einen für die Weißen, und einen für die Latinos. Jedes Gefängnis braucht die Rassenspannungen -- und deshalb stiftet es dazu an.« Weil die Wärter ein zu einfaches Ziel seien und kollektive Revolten nicht einmal ansatzweise beherrschen könnten, spiele das System einzelne, äußerlich erkennbare Gruppierungen gegeneinander aus.

»Die Arische Bruderschaft, genauso wie die schwarzen Rassisten, die werden im Knast geschmiedet«, weiß Bertrand Moore. »Davor waren das oft aufgeschlossene Leute, die mit anderen rumgehangen sind. Danach nicht mehr. Die Gefängnisse exportieren den Hass und Rassismus in die gesamte USA. Von unten.« Dabei wäre gerade ein Gefängnis derjenige Ort, in dem die Integration forciert werden könnte. Weil dort und nur dort die Freizügigkeit eingeschränkt ist. 68% aller Häftlinge, also mehr als zwei von drei, fahren in den drei Jahren nach ihrer Entlassung wieder in den Knast ein -- nicht enthalten ist die Dunkelziffer derjenigen, die zwar rückfällig werden, aber nicht erwischt. Warum sind die Zahlen so hoch? »Es ist einfacher hier. Da weißt du genau, wo du hingehörst und wohin nicht. Du brauchst nur flüchtig in den Spiegel schauen. Als Nigger, als Beaner, als… als… als Whitey«, zögert Bertrand Moore, ihm fällt offenbar kein Schimpfwort für Weiße ein. -- Honky? -- »Was ist Honky? Jedenfalls: sogar als Mulatte«, ergänzt er, grinst und zwinkert verschwörerisch. Bertrand Moore bezeichnet sich selbst als Mulatte. Und zugleich als Schwarzer. Vielleicht, weil er in Angola einsitzt. Vielleicht auch, weil er sich mit seiner Herkunft identifiziert -- mit dem Angola, das er nur aus Erzählungen kennt.

Angola, das in Afrika, das ist Bertrand Moores Lebenstraum. Er zählt auf seinem langen Weg bis zur Entlassung jede Woche, die er in Richtung Afrika hinter sich lässt -- aber nicht mit Händen und Füßen, sondern nach Möglichkeit mit seinem »shank«, einem Behelfsdolch, mit dem er mühsam eine unauffällige Strichliste ins Bettgestell ritzt. Tradition. Und doch weiß er nicht, wie er es nach Südwestafrika schaffen soll. Er kann ja nicht einmal in den USA überleben, draußen, seit zehn Monaten ohne Frau und Kind. Er hat gehört, es soll ein grünes Land sein, in dem man Brasilianisch spricht, und das nur dünn besiedelt ist. In Angola, da kann er endlich einmal so lange die Sonne sehen, wie er mag. Bis zum Untergang. In Angola sitzt kein Zellengenosse auf Schritt und Tritt in seiner Privatsphäre, nur unterbrochen von schweißtreibender Arbeit auf dem Gefängnisgelände, die ihm kurzes Alleinsein ermöglicht: Zeit zum Nachdenken. Keine nervtötenden Schreie, die durch die Halle gellen. Kein Klopfen und Klappern aus anderen Zellen. Keine Fernsehgeräusche oder laute Gespräche. Keine fetten weißen Sadisten in Wärteruniform. Nur die Maschinen aus der Werkstatt kreischen und knattern. Derzeit poliert er Golfbälle auf. Die irgendwer aus dem gefängniseigenen Golfplatzteich gefischt hat. Für den nächsten Tiger Woods. Wenn der es denn schaffen sollte, sauber zu bleiben. »Wenn das ein Bruder ist, dann schlägt der uns ein paar Bälle hier rüber.« Wenn Bertrand Moore auch nur ein einziges Mal auf der Driving Range gewesen wäre, wüsste er, dass der Rekord selbst bei allerbesten Bedingungen kaum höher liegen kann als 500 Yards. Ohne Zaun. Aber Bertrand Moore kann kein Golf.

Denn die Unterhaltung in Angola, Louisiana, die ist für die Leute von außerhalb reserviert, nach Voranmeldung und Hintergrundcheck. Vom edlen »Prison View Golf Course« bis hin zum Prison Museum und Gefängnis-Rodeozirkus, bei dem die Insassen mitreiten. »Wir Schwarzen geben da bloß die Affen«, sagt Bertrand Moore. Er darf das, er darf rassistisch sein. Er muss es sogar. Schließlich sitzt er in einem US-Knast. Und da gilt: Sie wollen keine Stärke.

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(Mehr unsteigerbarst wonnewahre Prädikatsreportagen und -interviews gibt es über die Forensuche nach dem unbestrittenen Halbgott perfekter Publizistik, Uli Stoer-Scala.)
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Aber vielleicht Musik? https://www.youtube.com/watch?v=zyK_b2LrMKU

Das Posting wurde vom Benutzer editiert (13.09.2020 03:08).

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