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  • Emrymer

mehr als 1000 Beiträge seit 28.08.2020

Woran macht sich fest, was ein "Fehler" ist? Mit Regeln allein ist's nicht getan

Es gibt im Zusammenhang mit Verkehr nicht nur eine, sondern zwei mögliche "Fehlerfreiheits"-Definitionen.
Die erste ist: Hält ohne Rücksicht auf Umstände nominelle Anordnungen ein. Man kann fest davon überzeugt sein, daß man so etwas messen könnte. Dann gibt es schöne Prozentwerte...
Die zweite ist: Ordnet sich im Verkehr ein und trägt zum reibungslosen, insbesondere unfallfreien Gesamtgeschehen bei.

Menschen versuchen es in der Fahrschule überwiegend mit ersterem, wobei ein guter Fahrlehrer schon darauf verweisen wird, wie eine Situation sich aus Sicht der zweiten darstellt. Denn im Laufe der Zeit wird man mehr und mehr zur zweiten tendieren.
Und in der heimischen Verkehrserziehung wird sinnvollerweise auch immer die zweite priorisiert, wenn die erste gelehrt wird, Zitat: "Er hat die Regeln aber eingehalten ist ein trauriger Spruch für einen Grabstein!"

Das ergibt auch Sinn, denn Verkehrsregeln sind ja nicht entstanden, um Gesetze und Verordnungen schreiben zu können. Ihren Ursprung haben sie in der Feststellung, daß manche wünschenswerten Entwicklungen im Verkehr darauf angewiesen sind, daß Verhalten vorhersehbar ist. Und diese Vorhersehbarkeit wird durch Regeln erzeugt.
Nimmt man die Regeln entsprechend als "Soll-Lösungen" für Momente, in denen Interaktion stattfindet, ist es kein Fehler, in Fällen ohne Interaktion die Regeln beiseitezulassen. Ich muß nicht, wenn ich allein auf einer dreispurigen Autobahn unterwegs bin, ganz rechts fahren, denn es ist niemand da, für den das von Bedeutung wäre. Es ist kein Fehler, mich dann mit etwa gleichem Abstand zu beiden Seiten zu bewegen, egal wo die Linien sind, die für gänzlich andere Situationen dort angebracht wurden.

Ein Beharren auf formale Regeln kann Situationen unlösbar machen, vor allem, wenn sie ohne Fehlertoleranz daherkommt. Das macht kein vernünftiger Mensch. Ein vernünftiger Mensch läßt fünfe auch mal gerade sein, winkt einen anderen herein, schenkt jemandem die Vorfahrt, läßt Platz...
Man kann durchaus auch da eine Wertehierarchie ausmachen: erste Priorität hat, niemandem körperlich zu schaden. Zweite ist die Vermeidung von Blechschäden. Daran schließt sich das zügige gemeinsame (!) Vorankommen an. Das eigene zügige Vorankommen folgt erst etwas später.
Dann gibt es ein paar, bei denen der Gemeinschaftsaspekt nicht richtig eingeordnet ist, die machen Probleme. Für solche Fälle gibt es dann Regeln, die dem daraus sprechenden Egoismus Grenzen setzen. Die anderen nehmen die Regeln als einvernehmlich geregelten Normalfall, von dem abgewichen wird, wenn das der Situation besser gerecht wird. (Wegen subjektiver Einschätzungen von "besser" kommt es allerdings gelegentlich zu Unfällen.)
Der "Fehler", der da zu zählen wäre, wäre also: hat das eigene Verhalten die Situation nich maßgeblich beeinflußt (kein Fehler), verbessert (kein Fehler) oder verschlechtert (Fehler)? Ein zu strikt auf Regelkonformität ausgerichtetes Vorgehen kann dann durchaus ein Fehler sein.

Das Problem ist, daß beim autonomen Fahren allenfalls - wenn überhaupt - gemäß der ersten Fehlerdefinition optimiert wird. Das ist aber gar nicht die, die "im wirklichen Leben" maßgeblich ist. Darum ist es nicht sinnvoll, darauf zu beharren, daß es zu Verbesserungen gemäß der ersten Fehlerdefinition gekommen ist. Dadurch behindern sie eher den reibungslosen Ablauf und werden zu ärgerlichen Störfaktoren.
Eine Optimierung auf die zweite Variante ist aber noch weitaus schwieriger, weil da sehr viel Interaktion inbegriffen ist. Darum sind ältere Vielfahrer ggfs. trotz vieler formaler Fehler relativ unfallfrei unterwegs, während Fahrschulabgänger trotz vieler formaler Richtigkeiten dann doch einen Blechschaden beklagen.

Die Balance aus dem Einhalten formaler Regeln, die wichtig ist (!), um ein für andere vorhersehbares Verhalten an den Tag zu legen, und Interaktion, die diese Regeln auslegt oder auch mal beiseitewischt, macht das reibungslose Ganze eines komplexen Verkehrsgeschehens aus. Mit Regeln allein ist es nicht getan.

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