Ansicht umschalten
Avatar von Queerdenker
  • Queerdenker

822 Beiträge seit 20.03.2005

Alle Jahre wieder

tönt dieselbe Leier von der Gründungskultur, der Gründungsoffensive
und die Hymne der Freiberufler. Immer wieder fallen Leute darauf
herein. Nun verstehe ich bei der lumpigen Mathematikausbildung in
Deutschland, dass viele Bürger komplexere Zusammenhänge nicht
durchschauen. Doch allein das bürgerliche Grundrechnen sollte schon
dazu beitragen die Höhenflüge vor der Bauchlandung zu stoppen. Manche
Gründer flechten in ihr betriebswirtschaftliches Modell auch sofort
die Fantastereien der BWLer mit hinein, die da als edel gewandete
Studenten glauben, dass die Karrieren am Getränkeautomaten besiegelt
werden. Leichtsinn und naiver Optimismus übertünchen das Ziel des
neuen Unternehmens: es soll Gewinn abwerfen - nichts anderes. Die
Durststrecken kommen von allein, deshalb sollte man bei der Planung
stets davon ausgehen, dass sich die Unternehmung vom Beginn an
rechnet. Im nächsten Schritt sollte auch bedacht werden, dass der
Kundenkreis größer als die Familienangehörigen und die besten Freunde
sein sollte. Aber, warum wird diese Form von der Regierung so
angepriesen?

Weil sie sehr bequem mit dazu beiträgt, den Sozialstaat auf ein
Almosenniveau zu reduzieren. Jeder Selbstständige ist ein
Arbeitsloser weniger. Jeder zusätzliche kostenlose Praktikant, jeder
Mitarbeiter in dem neuen Unternehmen ist ein weiterer Arbeitsloser
weniger. So kann der wirtschaftliche Aufschwung herbei gelogen
werden. Der Staat zieht sich aus seiner Verpflichtung zurück, denn
der Selbstständige ist für sich allein verantwortlich. Seine
Mitarbeiter können sehen, wo sie bleiben, wenn das Gehalt nicht
fließt, die SV-Beiträge nicht überwiesen werden. Einem Unternehmer
passiert da übrigens nichts. Bis ernste Maßnahmen greifen, vergeht
viel Zeit. Schließlich will man ja keine "Arbeitsplätze" durch
Zwangsinsolvenz gefährden. Darum zaudern die Krankenkassen mit
drastischen Maßnahmen.

Was soll die dritte Dönerbude mit Volksmusik in Klostermansfeld,
einer Region mit 50% Arbeitslosigkeit? Es ist Drehort für das
Fernsehteam vom MDR um im "Riverboat" vor verdummten Zuschauern von
"Gründungskultur" zu schwafeln. Wie vielen "schwer vermittelbaren"
Fachkräften wurden Geschäftsideen als Schornsteinexperten angeboten?
In jedem Dorf ist ein Schild mit einer Niederlassung zu finden. Von
Tintentankstellen (hat ja was mit IT zu tun) bis zu Nachhilfeschulen
gibt es nichts, was nicht den Arbeitslosen angeboten wird um an der
Gründungsoffensive teilzunehmen. Ganz abgesehen vom betrügerischen
Strukturvertrieb. Die Gutgläubigen stecken das letzte Geld und viel
Zeit in diese Unternehmungen um am Ende doch "Ergänzende Leistungen
zum Lebensunterhalt" beziehen zu müssen. Wozu dieses gigantische
Nullsummenspiel?

Weil die Herrscherkaste sich als gottgleiche "Arbeitsschöpfer"
stilisieren möchte. Die Arbeitslosenstatistik wird solange gefälscht,
bis es passt. Probleme der Angestellten in solchen Pleiteunternehmen
treten nicht wie bei Opel in den Vordergrund, wo Politiker sich
exponieren können, nein die Unzahl der um ihr Gehalt Betrogenen, die
immer noch dem Chef die Stange halten, obwohl die Spatzen bereits
"Insolvenzverschleppung" von den Dächern pfeifen, weil die Hoffnung
zuletzt stirbt - die sieht Keiner. Da leiden anonym Familien, die
keine Öffentlichkeit haben, weil die Politik eine schlichte Wahrheit
vorenthält: es ist kein Bedarf für zusätzliche Dienstleistungen
vorhanden.

Das wollte ja Keiner in Ostdeutschland wahrhaben. Ostdeutschland ist
überflüssig. Die Bevölkerung kann mit wenigen Ausnahmen des
persönlichen Grundbedarfs vom Westen unterhalten werden. Der
demografische Wandel sorgt dann für eine Selbstbereinigung. Die
Kultur der Selbstständigkeit dient nur die Preise gnadenlos ins
Bodenlose fallen zu lassen. Nehmen wir Erfurt, das berühmte Projekt
"Steinstr.20". Bei der Submission zu der Ausschreibung der 
Gebäudesanierung gab der billigste Anbieter einen Angebotspreis ab,
der noch nicht einmal die Materialkosten deckte! Das nenne ich
gründungsoffensiv - in die Pleite. Man will möglichst viele kleine
Unternehmen, die sich gegenseitig die Preise kaputt machen, damit es
noch billiger in Deutschland wird. Die Gebäudereinigerbranche ist das
beste Beispiel dafür. 

Die Intention der FDP/CDU/CSU-Regierung ist ganz schlicht und
einfach: "Wir wollen die Verelendung, damit die hauchdünne
Oberschicht, die sich längst den Pflichten dieser Gesellschaft
entzogen hat, über ein Helotenpack verfügen kann, das ihnen stets zu
Willen ist und diese Rolle selbstständig wahrnimmt."

Es gehört zu den schmerzlichen Einsichten, dass die Aura der
Selbstständigkeit sehr schnell verfliegen kann. Es ist keine
menschliche Schande mit seiner Geschäftsidee zu scheitern. Aber es
ist ein Verbrechen, wenn Menschen aus politisch-strategischen
Überlegungen, aus purem Machterhalt in eine Selbstständigkeit des
"schönen Scheins" getrieben werden. Die Menge der erfolgreichen
Geschäftsideen ist nämlich beschränkt.  Von der Umsetzung ganz zu
schweigen.    

Bewerten
- +
Ansicht umschalten