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  • no1984

mehr als 1000 Beiträge seit 18.02.2005

"Sei mutig!" - So wurde ich vor zehn Jahren in der Wikipedia empfangen

"Sei mutig!" - Mit dieser Aufforderung wurde ich in der Wikipedia
begrüßt, als ich vor circa zehn Jahren meinen ersten Artikel
geschrieben habe.

> https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Wikipedia:Sei_mutig&stable=0

Das hat mich ziemlich motiviert. Ich konnte sofort mitmachen, meine
Änderungen wurden als potentielle Verbesserungen behandelt und die
(schon damals komplexen) Richtlinien, wie Artikel und
Artikel-Änderungen aussehen sollen, konnte ich nach und nach lernen.
Ich habe bestehende Artikel geändert und neue Artikel angelegt, und
meine Änderungen waren ohne vorherige "Sichtung" sofort aktiv, d. h.
auch für alle anderen Menschen sichtbar, die den Artikel aufgerufen
haben.

Natürlich hatten nicht alle meiner Änderungen Bestand. Aber "Sei
mutig!" war einfach wahnsinnig motivierend, und diese Aufforderung
hat mich angespornt, viel Zeit in die Verbesserung der Wikipedia zu
investieren.

Das ist zwar erst zehn Jahre her, aber es kommt mir vor, als wäre es
in einem anderen Zeitalter gewesen. Den "Sei mutig"-Artikel gibt es
immer noch, aber er hat mit der Wirklichkeit nichts mehr zu tun:

Wenn ein Wikipedia-Neuling heute einen Artikel sieht, den sie
verbessern könnte, muss sie erstmal feststellen, dass der Artikel,
den sie sieht, gar nicht der aktuelle Artikel ist. Der aktuelle
Artikel ist noch nicht "gesichtet".
Wenn sie sich dann zur aktuellen Version geklickt hat (und halbwegs
verstanden hat, was denn der Unterschied zwischen den beiden
Artikel-Versionen ist), macht sie ihre erste Änderung. Und dann ruft
sie den Artikel noch einmal auf ... und sieht ihre Änderung nicht.
Weil es erstmal etliche Stunden, oft genug sogar mehrere Tage dauert,
bis die Änderung "gesichtet" ist und somit standardmäßig angezeigt
wird. Motivierend ist das nicht.

"Früher" war meine Änderung sofort aktiv. Ich habe eine Kleinigkeit
geändert, die Seite noch einmal aufgerufen und meine Änderung
gesehen. Und gewusst, dass alle anderen, die die Seite aufrufen,
meine Änderung auch sehen. Das war motivierend. Es hat Spaß gemacht,
gleich noch einmal auf "Bearbeiten" zu klicken und den Artikel noch
weiter zu ergänzen. Und die Änderung zu speichern. Und dann noch mehr
zu verbessern.

Heute warte ich erstmal stundenland ängstlich, ob meine Änderung
akzeptiert wird.

Wenn eine Wikipedia-Nutzerin feststellt, dass es zu einem Thema noch
keinen Artikel gibt, dann kann sie leicht einen neuen Artikel
erstellen. Sie schreibt erstmal nur einen oder zwei Sätze. "A sind
eine Art aus der Gattung der Ringelwürmer, die ausschließlich in
Osteuropa vorkommt." Oder: "B ist eine südfranzösische Kleinstadt im
Département Vaucluse." Oder: "C ist eine Liebesballade der Sängerin
D, die im März 2014 Platz 3 der Billboard Hot 100 erreichte."

Solche Mini-Artikel waren früher gern gesehen. Sie waren die
Grundlage für Artikel, die im Laufe der Zeit wachsen und gedeihen
konnten. Ich selbst habe mehrere Artikel, die heute ausgedruckt
etliche DIN-A4-Seiten lang sind, erstmal als Ein- oder
Zwei-Satz-Artikel angelegt und erst Tage oder Wochen später ergänzt.
Und dann weiter ergänzt. Und noch weiter ergänzt.

Heute werden solche Artikel gelöscht. Minimalen Artikeln ("stubs")
wird keine Zeit gelassen, sich zu entwickeln, auch wenn
> https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Wikipedia:Artikel&stable=0#Umfang
etwas anderes behauptet.

Heute an der deutschsprachigen Wikipedia mitzuarbeiten, erfordert
extrem viel Frustrationstoleranz. Änderungen werden nicht als
potentielle Verbesserungen behandelt, sondern als potentielle
Angriffe auf den Status Quo eines Artikels. Neue Artikel werden nicht
als potentielle Bereicherung behandelt, sondern als potentielle
Verschmutzung des wertvollen Namensraums. Und neue Artikel-Versionen
sind so gefährlich, dass es etliche Stunden und oft genug sogar
mehrere Tage dauert, bis sie für die breite Masse freigeschaltet
("gesichtet") werden.

Kein Wunder, dass bei Wikipedia (de) fast nur noch eine kleine Zahl
extrem hartnäckiger IntensivnutzerInnen mitmacht: Es wird der breiten
Masse von Menschen, die nur sehr vereinzelt Artikel verbessern oder
neu anlegen wollen, unnötig schwer gemacht, sich an Wikipedia zu
beteiligen. Und es wird denjenigen, die trotzdem Änderungen
einpflegen, extrem schwer gemacht, mitzuarbeiten und
Erfolgserlebnisse zu haben.

"Wer hat in der Wikipedia das Sagen?" - Ich habe mir jetzt einige
Heise- und Wikipedia-Artikel durchgelesen, um zu verstehen, wer in
der Wikipedia das Sagen hat. (Wer wählt/bestimmt die WMF-Mitglieder?
Wer wählt/bestimmt die Admins? usw.) Ich weiß es immer noch nicht.
Aber eines weiß ich: Die große Zahl der Wikipedia-NutzerInnen, die
Lust haben, die Wikipedia nicht nur zu konsumieren, sondern auch
weiter zu entwickeln; diese große Zahl ist es nicht, die in der
Wikipedia das Sagen hat.

Schade.

(... aber immerhin klasse, dass die freien Lizenzen, die in der
Wikipedia genutzt werden, einen Fork erlauben. Ich bin sehr
zuversichtlich, dass es in den nächsten zehn oder 20 Jahren einen
erfolgreichen Fork geben wird, der sich wieder mehr auf Kooperation
und die Beteiligung Vieler, und weniger auf Ausgrenzung und die
Diktatur durch wenige Admins konzentriert.)

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