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  • Hartmut Semken

mehr als 1000 Beiträge seit 12.04.2000

Ich verstehe es nicht

und werde es nie verstehen.

Dieselben Leute, die den 3-Klassen-Strom bejubeln wollen das
Ein-Klassen-Internet "bewahren", das es nicht gibt und nie gegeben
hat und auch nicht mehr geben wird.

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,

die sogenannte Netzneutralität ist eine Illusion und nicht einmal ein
Ideal.
Die Premium-Dienste, bei denen z.B. Anschlüsse auch am Wochenende
entstört werden, Bandbreiten von der filiale zum SAP-Server in der
Firmenzentrale garantiert sind oder die Latenz der Übertragung
kontrolliert wird, existieren.

Und sie sind gewollt.
Und sie könnten auch von informierten Kunden gewollt werden, würden
die einfach zwischen VoIP, Download, eMail und Stream unterscheiden
können.

Wer heute bei bestimmten Anbietern einen "ISDN und DSL
Komplettanschluss" bestellt und geliefert bekommt, bekommt ein
Kästchen ins Haus, da kommt ein S0-Bus heraus (wie aus einem
ISDN-NTBA) und ein Ethernet.
Gerne wird das als "kombiniertes DSL-Modem mit Splitter und NTBA"
benannt.

Ist es aber nicht.
Tatsächlich nutzt das Ding nur das DSL-Spektrum, legt in einen
priorisierten ATM-VC mit fester Bandbreite den VoIP-Verkehr und der
kommt dann auf dem S0-Bus an.
Ein einfacher Test zeigt schnell, ob so ein Anschluss echtes ISDN
ist: man schliesse ein Uraltmodem der Klasse V.32/V.32bis an und
wähle eine Gegenstelle mit identischem Modem an. Da die
VoIP-Kodierungen nicht besonders phasentreu sind - vor allem wenn die
Latenz schwankt - geht das mächtig in die Hose, will man über so
einen Kanal tatsächlich Daten übertragen.

Ich fühle mich echt im falschen Film.
So sinnvolle Dienste wie Bandbreiten- oder Latenzgarantie wären heute
endlich möglich, nachdem praktisch alle ATM-Features ("ATM?
Viiiieeeel zu komplizieeeert! Zu teuer! Will kein Mensch haben!") via
MPLS doch noch auf IP draufgepfropft wurden und die Protokolle
endlich in den 90ern angekommen sind.

Und jetzt sind sie möglich und dann kommen irgendwelche Romantiker
daher und wollen, dass das auf gar keinen Fall angeboten werden darf.

Man verstehe mich nicht falsch: IP hat echt seine Vorteile und die
Idee, einen Protokollstack bei OSI 3 anfangen und die Layer 1 und 2
bewusst offen zu lassen, war und ist genial: damit funktioniert IP
auf allen Medien vom nassen Schnürsenkel bis zur Glasfaser (or over
avian Carriers RFC 1149 :-).
Das ist COOL! Das war nicht nur cool, das ist cool.

Um dies zu erreichen musste IP komplett anspruchslos gestaltet sein
bezüglich des Layer 2 und vor allem mit solchen Trägerprotokollen
zurechtkommen, die Null Garantien bieten. Z.B. besagte Uraltmodems.
Wenn aber manche Layer2 keine Bandbreitengarantien bieten _können_,
dann kann der IP-Layer das auch nicht an den TCP-LAyer weitergeben -
also kann das nicht geboten werden.

Dennoch war immer möglich, IP-Netze auf Trägernetzen mit den
entsprechenden Eigenschaften zu implementieren - und dann diese
Garantien doch zu bieten.
So wie es _gemacht_ _wird_.

Genau wie RAM ("any program will expand to use all available memory",
one of Murphys laws of computing) ist Bandbreite eine knappe
ressource.
Also jedenfalls sehr oft, denn die Physik setzt uns Grenzen bei den
Modulationen.
Speziell wireless ist immer knapp: bei Kupfergebundener Kommunikation
kann ich Modulation X (wie beim Air Channel) einsetzen. Und auf dem
Nachbar-(Koax-)Kabel nochmal, ist also immer erweiterbar wo es die
Luftschnittstelle nicht ist.

Glasfaser ist "praktisch unbegrenzte Bandbreite", jedenfalls solange
ich nicht an Grenzen der Sendedioden oder Empfangsdioden stosse.
Zugegeben: davon sind wir ziemlich weit weg.
Als aber damals die STM-1 Anschlüsse der (nocht nicht Telekom)
Deutschen Bundespost verfügbar wurden, hat man händeringend nach
Applikationen gesucht, die so viel Bandbreite überhaupt _füllen_
können.
"Videotelefonie" wurde damals geboren - für den Zweck: sinnlos
Bandbreite füllen (raffinierte Codecs wie MPEG gab es noch nicht).

Die Erfahrung zeigt: Bandbreite ist knapp und wird es bleiben.

Und auch wenn ich jetzt wie der Herr Westerwelle zu klingen beginne:
Der Markt ist das bewährte Mittel, bei knappen Ressourcen eine
sinnvolle Allokation zu erzeugen.
(Oh Grusel! Habe ich das echt getippt? Womöglich gar gedacht?).

so doof das klingen mag: es stimmt leider.
Klar wäre das anstrengend: ich müsste als informierter Kunde
überlegen, welche Applikation ich wie bevorzugen will und ob ich
bereit bin, für Nicht-Aussetzer beim VoIP-Gespräch einen Aufshclag
von 5% zu zahlen.
Oder ob ich für 2 Euro im Monat extra ein "Fastpath" auf meiner
DSL-Leitung schalten lassen, damit meine Latenz quer durch das
Gewurschtel bis nach Vélizy von 200 auf 195 ms sinkt.
Echt mal: wenn mir einer anböte, für 5 Euro im Monat die Latenz auf
180ms _fest_ zu garantieren: gekauft. Ich hasse diese Corpse-Runs
jedes Mal wenn irgend so ein unterdimensionierter "Best Effort"
Router bei Dingenskirchens mal wieder mitten im Raid rebooten musste!

Sorry, Leute, das Netzneutralitäts-Gefasel ist für mich nur "Gute
Alte Zeit" Romantik.
Und die konnte ich schon nicht gut vertragen bei den WWI-Stories
meines Großvaters.

hase

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