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  • Mov Faltin

mehr als 1000 Beiträge seit 11.12.2013

Vom Warten und Boxen durchs Leben

Ach, herrje. Advent. Also, genaugenommen erst Adventadvent. Aber noch ohne Lichtlein, sondern einfach so zum Warten. Für die trotzstampfkräftigen klopsigen Wulstkinnkinder auf ihre Adventskalender zum vorzeitigen Vermampfen. Und der Pulitzpolitskribentenanwärter, selbsterklärt, hisst auch schon eifrig die Jamaika- oder die Albanien- oder die Totenkopfflagge -- und skribbelt und hibbelt herum, als würde gleich ein US-Experte für pauschale Kausalattribuierung bekanntgeben, dass "es" der Russe war. Der Lufthans in FRA wartet weiterhin emsig darauf, dass auf der eher temporal als geographisch weitentfernten Basisstation der pleiteverzögerten Konkurrenz im Brandenburgischen noch viele Defekte und Verzögerungen entstehen.

Warten, warten, warten!

Aber die wahre Elite im Warten, das ist nicht das verfressene Adipöschen, das ist nicht der Stürmergeschützler der Demokratie. Die wahre Elite im Warten, das ist auch nicht die vereinzelte Seniorin, die in eigentlicher Hörweite der Sprechstundenhilfe die Lesezirkelgarnituren besiecht und mit den Dritten in sich hineingreist und -grinst in froher Voraussicht auf einen neuen bunten Strauß an Gebrechensgeschichten für des Winters Kaffeekränzchen und zufällige Rollatorbegegnungen an den Zebrastreifen oder Kassenschlangen dieser Stadt. Die wahre Elite im Warten, das ist ebenfalls nicht dasjenige HB-Rumpelstilzchen, das kabelgebunden und durch die hübsch verschleifte O2-Rufzentrumsdienstlsietsungsleitung gefesselt seit zweieinhalb Stunden im Rhythmus von "Für Elise" auf- und niederdopst, Qualm aus den Ohren, auf dass es irgendwann mal wieder portabelfonen können dürfen möge.

Die wahre Elite im Warten, das ist der Taxler. Wenn der nicht am Taxistand rumsteht und wartet -- oder beim Arzt, weil Oma Gertrude vor ihm die Krankennarrative ausgegangen sind --, dann schnappt er sich einen Lappen und ein Fläschchen Politur für seinen Benz und -- wartet. Es sollte nicht verwundern, wenn hinter der windigen Uber-App auch eine Initiative der Taxifahrer steht, die einfach ihre Wartezeit maximieren möchte, indem sie ihre Kondukteurshektik an Digitaldeppen outsourcet. Nein, der Taxler in Deutschland wartet am liebsten selbst: logo! Wenn er andere hätte warten lassen wollen, wäre er Zugführer geworden. Und so ist es wohl der Neid, auf die Fahrgäste von Bahnsteigen und Wartehallen nebenan, der die Taxifahrer in unserer Stadt bewogen hat, sich ein Schachbrett an den Taxistand vorm Bahnhof zu installieren. Damit auch sie während des Wartens noch warten können, auf den nächsten Zug. Verschachtelt wie sonst nur Blackboxes. Ich kenne jedenfalls keinen, der das Warten derart zu zelebrieren weiß. Warten in männlich, in weiblich oder sonstig; Warten in schwarz, weiß, mokka oder döner; Warten freitags um nulldrei oder sonntags um einundzwanzig Uhr; Warten hinter Zwirbel-, Zwick- oder Damenbärten; Warten in Hindi, Türkisch, Thai, Arabisch oder Polnisch, in allen Sprachen dieser Welt, bis auf Deutsch vielleicht: am Bahnhofsstand herrscht jedenfalls energischstes Warten. Warten, bis ein selbstherrlicher Pozzo in diese gediegene Tradition hineinplatzt und sein Gepäck livriert in den Stauraum gewuchtet haben will. Savoir attendre vom Feinsten!

Letzten Monat saß da unweit der Schachzocker noch eine weitere Gestalt auf einer Bank, anhand der Warteroutine unverkennbar ein Taxler, und starrte auf ein neben ihm liegendes Zettelchen im DIN-A5-Format mit zwei Mensch-ärgere-Dich-nicht-Figuren darauf. Ein Lineal hatte er auch noch auf dem Blatt plaziert. Ein Spiel, das ich noch nicht kannte? Ich musste einfach fragen. "Ähm, Entschuldigung..." -- keine Antwort -- "Entschuldigen Sie bitte?" -- "Ja, was ist denn! Sehen Sie nicht, dass ich beschäftigt bin?" -- "Ja, doch, tut mir leid, ich wollte eigentlich nur fragen, womit?" -- "Na, mit einem Blatt Papier, zwei Spielfiguren und einem Lineal! Wohl keine Augen im Kopf?!" stöhnte es aus ihm widerwillig hervor, bevor er sich wieder demonstrativ von mir ab- und seinem Blatt zuwandte. Das hatte nicht geklappt, und ohnehin hatte ich nicht die Zeit für eingehende Überredungsavancen, denn mein Bus kam.

Am nächsten Tag sah ich ihn wieder dasitzen. Ihm war wohl das DIN-A5-Papier ausgegangen, denn jetzt hatte er den gleichen Aufbau neben sich liegen, nur eben auf DIN A4. Und blickte immer noch mürrisch-konzentriert auf die Anordnung neben ihm. Gewieft wie ich nun mal bin, versuchte ich es mit einem Trick: "Tschuldigung, ist Ihr Taxi noch frei?" -- "Nein." -- "Wie?" -- "Nein!" -- "Aber da sitzen ja noch nicht einmal Sie drin!" -- "Eben! Nix Fahrer, nix Taxi. Pause." -- "Ah so, ja. Und wenn ich Ihnen ein saftiges Trinkgeld spendiere?" -- "Ich brauche kein Trinkgeld. Ich brauche höchstens Platz. Hast Du etwa mehr Platz für meine zwei Figuren?" -- "Äh, nein." -- "Dann zisch ab! Und lass gefälligst auch die Kollegen in Ruhe!" Ich nahm also wieder den Bus.

Tags darauf sah ich ihn nicht mehr auf der Bank sitzen. Ich musste zweimal hinschauen, bis ich ihn dahinter ausmachen konnte, im Schneidersitz auf dem Gehsteig. Vor sich hatte er diesmal ein DIN-A3-Blatt ausgebreitet, auf dem eine gelbe und eine rote Spielfigur aus Holz Platz gefunden hatten sowie ein Lineal. Mit durchfurchter Stirn saß er da, stoisch grübelnd, und diesmal wähnte ich mich vorbereitet: Aus meiner Umhängetasche zog ich ein DIN-A2-Blatt Papier, tippte seine Schulter an und fragte: "Brauchen wohl mehr Platz, was?" -- "Oh, ist das für mich? Das ist aber nett. Ich bin übrigens der Harry." Harry! Ich hätte es ahnen müssen. Immer, wenn irgendwas funktioniert, gibt es irgendwas, das das ästhetische Hochgefühl situativer Perfektion gleich wieder zerschellen lässt wie ansonsten nur frühmorgens der Wecker meine Träume. "Das kann ich gut gebrauchen. Weil auf dem hier ist zu wenig Platz." -- "Ja, aber können Sie mir sagen, was Sie da machen?" -- "Ich philosophiere." -- "Aha." -- "Ja." -- "Ach." -- Keine Reaktion. -- "Und wie?" -- "Hmpf. Siehst Du diese Figuren hier? Das sind zwei Taxis. Ein langsames, rotes, und ein schnelles, gelbes. Die fahren dieselbe Strecke. Das gelbe ist zehnmal so schnell wie das rote. Aber das rote ist früher losgefahren und hat also Vorsprung. Und ich messe jetzt aus, wann das gelbe Taxi das rote überholt. Das Problem dabei ist, dass jedes Mal, wenn das gelbe Taxi zu dem Ort aufgeschlossen hat, an dem das rote zuvor war, das rote Taxi ja immer schon wieder ein Stück weitergefahren ist. Jedes Mal ist das so! Ich messe da also den Abstand. Mit dem Lineal da. Und wenn ich den anfänglichen Vorsprung zu klein wähle, dann ist mein Lineal zu ungenau, und wenn ich ihn größer wähle, ist jedes Mal das Blatt zu klein. Deswegen brauche ich ein größeres Blatt. Wie das, das Du mir mitgebracht hast." -- "Aber, äh, Achilles und die Schildkr..." -- "Achilles interessiert mich nicht. Ich stehe nicht so auf Griechen mit Versen. Nutzloses Zeug. Ich bin Praktiker. Deswegen messe ich das ja auch genau aus, alles!" Alles klar, ein Verrückter. "Weißt Du, man könnte sagen, ich bin verrückt. Bin ich aber nicht. Geschieden, kein Besuchsrecht, Unterhaltzahlung noch und nöcher, und überhaupt keine Perspektive. Da widme ich mich lieber der Iteratur." -- "Der was?" -- "Na, ich bin Iterat, Du Holzkopf. Ich vollziehe meine Routinen immer und immer wieder, Mal um Mal. Das bringt mich wenigstens auf andere Gedanken." Und mit einem Augenzwinkern in Richtung Taxischlange: "Mantra statt Manta, weißte? Schachspielen geht halt nicht, vor allem wegen der Dame, die immer allen in den Rücken fällt. Das erinnert mich zu sehr an zuhause. Also, früher jetzt." -- "Ja, aber..." -- "Und selbst wenn ich irgendwann diese verdammte Aporie mit dem Überholen gelöst haben sollte, durch präzise Messung versteht sich, nicht durch so geisteswissenschaftliche Hirnfürze, dann bin ich hier draußen, inmitten der anderen Taxler, immer noch in meiner eigenen Dieselfilterblase. Ich muss nur höllisch aufpassen, dass mein Wagen nicht in der ersten Reihe steht und ich in der Nähe meines Autos -- oder gar sympathisch -- bin. Ansonsten kommt irgendsoein Businessheini mit seiner Aktentasche aus der Bahnhofshalle gehastet und schnoddert mich mit seinem Vorstadtleben voll. Mein Haus, mein Auto, meine Frau, Hammer, oder, meine Kinder, mein Einkommen, hier, weißte, hastewas, hast ja so untertänig zugehört, Dein Trinkgeld, na, isdasnix!" -- "Ja, aber... Geht das schon lange so?" -- "Naja. Früher habe ich anders iteriert. Um ein Uhr mittags aus dem Bett, ran an den Rechner, und dann neun Stunden Minimum gezockt. Übers Internet. Um mein afk-Leben nicht präsent zu haben. Eskapismus nennt man sowas. Aber das hat ein jähes Ende gefunden." -- "Gesundheitliche Probleme? Augenschmerzen? Geldsorgen?" -- "Ach, Du hast ja keine Ahnung! Diese verfickten Hörensuhne von Spielstudios haben mich voll am Arsch gekriegt!" -- "Was?" -- "Naja, ich musste jedes Mal ordentlich Geld abdrücken, um für meine Charaktere irgendwelche Blackboxes mit Loot purchasen zu können und sie auszustatten. Und für das Geld für die Beuteboxen, weißt Du, was ich dafür gebraucht hätte? Ein beschissen gescheites, strukturiertes Leben! Da hätt ich doch genausogut afk spielen können, wenn ich doch eh so erfolgreich bin. Drecksäcke!"

Eins musste ich ihm lassen, dem Taxler: Das mit dem Eskapismus konnte er wie kein anderer. Und auch Deutsch konnte er erstaunlich gut.

Das Posting wurde vom Benutzer editiert (26.11.2017 20:26).

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