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  • Twister

mehr als 1000 Beiträge seit 27.11.2000

In your eyes

Draußen flattert wieder eine Taube vorbei. Vor längerer Zeit war es
so, dass man sie Flugratten nannte, aber das ist lange her. Heute
sind es saubere Tiere, nur ab und zu geben sie einen Ton von sich,
ansonsten beleben sie einfach die durch den Schmutz und die Abgase
oft genug deprimierende Umgebung, genauso wie die künstlichen
Eichhörnchen, Schmetterlinge... Vor langer Zeit war es auch, dass die
Tiere krank wurden und seien wir doch ehrlich, sie machten so viel
Dreck, gefährdeten den Flugverkehr, brachten Krankheiten. Irgendwann
hatte ein findiger Forscher die Idee, Tiere lebensecht zu gestalten
und sie einerseits zur Belebung der Umgebung zu nutzen, andererseits
aber auch zur Aufklärung und Prävention. In manchen der Tauben sind
jetzt kleine Kameras, aber nicht in allen. Niemand wollte eine
Totalüberwachung, niemand wollte einen Überwachungsstaat. Also nutzte
man einfach die Tatsache, dass es ja keine Totalüberwachung gab, wenn
nicht alle Kameras funktionsfähig waren oder überhaupt im Einsatz.

Die Taube läuft auf dem Dach gegenüber herum, schaut dann zu meinem
Fenster herüber. Man kann nichts sehen, weiß nicht ob die kleinen
Augen einfach nur auf mein Fenster gerichtet sind oder ob sie
aufnehmen, was hier bei mir passiert, was ich sage, was ich tue. Es
ist ähnlich wie beim CyberChat. Niemand weiß, welche der Gespräche
abgehört oder aufgezeichnet werden, welche Kriterien es gibt. Aber es
werden nicht alle abgehört, nicht alle aufgezeichnet. Überall ist es
so, dass prinzipiell die Möglichkeit besteht, aber sie schon
technisch nicht genutzt werden kann. Die Kamera in meiner Wohnung,
die trotz der vielen Vögel und Schmetterlinge, notwendig ist - sie
ist nicht immer eingeschaltet, aber im Zuge von Terrorbekämpfung und
der Bekämpfung der häuslichen Gewalt wurde sie notwendig.

Die Taube flattert davon und der Baum öffnet eine seiner künstlichen
Knospen. Ich frage mich, warum man nicht längst den
Unsicherheitsfaktor Mensch komplett eliminiert hat, aber
wahrscheinlich wollte niemand sich selbst abschaffen, so begeistert
von der Sicherheit war man dann doch nicht. Ich überlege ob ich über
etwas nachdenken soll, was mir irgendwann einmal Sorgen bereitet hat,
aber manchmal bekomme ich davon Kopfschmerzen, also lasse ich es
lieber. Ich bin sicher, dass es nicht mit dem Chip zusammenhängt, den
ich, wie alle, trage. Dieser wird nur bei schweren Straftaten
aktiviert und sehr sanft. Alles in allem leben wir also in keinem
überwachungsstaat sondern lediglich in einem Staat, der durch
Prävention dafür sorgt, dass wir uns benehmen.

Arno kommt nach Hause, mein Mann. Wie immer ist er muede von der
Arbeit, ueber die er nichts erzählen darf. Jeden Tag, bevor er seinen
Arbeitsplatz verlässt, löscht ein kleiner Chip, all sein Wissen um es
am nächsten Tag wieder zu integrieren. So ist gewährleistet, dass
kein geistiges Eigentum nach außen dringt. Irgendjemand sagte mal,
diese Methode hätte Nebenwirkungen, aber die Studie diesbezüglich
wurde wegen Urheberrechtsverletzungsklagen von der
Chipherstellerfirma eingezogen und noch heute wird prozessiert. Arno
setzt sich hin und gibt etwas von dem Ketchuparoma auf das
Wuerstchen, das auf seinem Teller liegt und aus dem HyperFutureCenter
stammt, wie alles, was man kaufen kann. Ich setze mich zu ihm und
trinke etwas von der Nährlösung, die uns gleichzeitig positiv
beeinflussen und leistungsfähiger machen soll, sie schmeckt nach
Himbeere. Arno sabbert ein wenig beim Essen und ich tupfte seinen
Mund ab. Wir sind sehr still während wir essen, viel gibt es nicht zu
erzählen und vor allen Dingen wissen wir zur Zeit nicht, welche
Meinungen und Kommentare gegen Urheberrechte verstoßen, welche gegen
die neuen Bestimmungen zur nationalen Sicherheit verstoßen, denn um
den Terroristen keine Chance zu geben, sich zu tarnen, sind die
Bestimmungen geheim.

Als Arno sich schlafen legt, schaue ich nach draußen. Die künstliche
Knospe hat sich wieder geschlossen, draußen sitzt die Taube auf dem
Fensterbrett und schaut mich an. Ich bin froh, dass es trotz aller
notwendigen Sicherheit noch Freiräume gibt, dass wir nicht immer und
ueberall ueberwacht werden. Ich lege mich vorsichtig neben Arno und
schließe die Augen einen Moment lang. Dann streichele ich Arno über
die Wange und ich glaube, ich weine. Und Arnos Augen scheinen mir
plötzlich so wie die Augen der Taube. Ich schaudere und Arno fragt
mich, ob er mir helfen kann, mich irgendwie trösten kann. Sehen seine
Augen so aus wie die der Taube oder nicht? Ich glaube, ich will es
nicht wissen.
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