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  • Graf von Monte Carlo

488 Beiträge seit 05.06.2010

Wir brauchen keinen Fork sondern ein verteiltes System: Evopedia, scy/levitation

Ein wesentliches Problem ist, dass die zentralen Strukturen in der
Wikipedia zur Machtausübung animieren und somit auch Leute anzieht,
welche Gefallen an Macht haben. Das sieht man am Problem des
übertriebenen Löschens in der deutschen WP aber auch an den
Versuchen, Inhalte zu kontrollieren, z.B. mit dem Vorwurf der
Pornographie. Ich sehe die immer weiter verschärften
Relevanzforderungen als Teil des Übels, denn sie verleihen zufällig
gerade den Admins, welche diese durchsetzen, immer mehr Macht - und
es gibt nicht wenige Autoren, welche deswegen die Lust verlieren.
Auch Astroturfing wird immer mehr zum Problem, und es hat die gleiche
Wurzel - der Reiz eines technischen Mittels, mit dem sich mit dem
Mittel der Zensur auf eine wichtige Informationsquelle Einfluß nehmen
läßt. Das es immer wieder um Löschen und Sperren bis hin zu religiös
rechtfertigter Zensur geht, ist kein Zufall, sondern eine
fundamentale Konstante im Verhältnis von Machtstrukturen und
Hierarchien zu einer freien Weitergabe von Wissen.

Zum Glück ist es technisch mittlerweile möglich, die Wikipedia
genauso wie Open Source Projekte radikal zu demokratisieren, nämlich
mit verteilten Versionskontrollsystemen, kurz DCVS ("Distributed
Version Control System"). Ein solches System, genannt git, verwaltet
z.B. den gesamten Quellcode des Linux-Kernel. Wenn man am Kernel
etwas ändern möchte, läd man sich die vollständigen Sourcen herunter.
Die Änderungen speichert man nach dem Testen in seiner lokalen
Git-Datenbank (Repository). Seine Änderungen übermittelt man
schließlich einem Maintainer, der sich um diesen betreffenden Aspekt
der Kernels kümmert, und der sie in seine Version des Kernels
einpflegt, und der sie z.B. wieder an Linus Torvals oder aber den
Maintainer einer Spezialversion weiter geben kann. Es gibt natürlich
konkurrierende Änderungen, aber auf die Dauer setzen sich die
besseren Varianten durch. 

Das Knackpunkt ist, dass es gar keine zentrale und hierarchische
Verwaltung der Kernel-Sourcen geben _muss_. Tatsächlich existieren
zahllose gleichwertige Alternativversionen, aus denen immer mal
wieder ausgewählte Ideen und Code in den Mainstream-Kernel übernommen
werden. Doch die Vorteile der Integration überwiegen so sehr, dass es
nicht zu einer dauerhaften Zersplitterung kommt.

Es gibt vor allem einen wesentlichen technischen Unterschied zur
Wikipedia: Der Umfang der Wikipedia-Quellen ausgedrückt in Bytes ist
deutlich größer, wir reden von 3 - 10 Gigabyte. Das steht dem aber
heute nicht mehr entgegen, sich per BitTorrent einen Abzug der
gesamten Wikipedia herunter zu laden und z.B. auf einem Handy zu
speichern, so dass man Inhalte auch offline lesen kann. Das geht zum
Beispiel mit Evopedia, eine Offline-Reader Software die auf meinem
Handy (ein Nokia N900) läuft:

http://evopedia.info/

Der Speicherplatz ist auf heutigen Geräten und Flash-Medien nicht
mehr das Problem. Zeitraubend ist die erstmalige Datenübertragung,
diese erfolgt bei git jedoch so, dass bei Updates aus einem anderem
Git-Repository nur Unterschiede übertragen werden, was die
Übertragung beschleunigt.

Ein Tool, um Wikipedia Dumps in git Repositories umzuwandeln, gibt es
auch schon: Levitation.

http://scytale.name/blog/2009/11/announcing-levitation

https://github.com/scy/levitation

Die Benutzung eines solchen Systems hätte das Potenzial, die
organisatorischen und politischen Strukturen in der Wikipedia
grundlegend zu verändern. Ein Blick auf einige Punkte:

1) Wikipedia wird damit unzensierbar. Da jeder Nutzer eine eigene
Kopie der Wikipedia auf seinem Laptop, Smartphone, oder Tablet hat,
kann man ihn auch nicht mehr daran hindern, Inhalte zu lesen. Da ich
Varianten der Wikipedia ohne weiteres von jemandem bekommen kann, der
einen Internetanschluß hat, lassen sich diese ohne weiteres privat
weiter geben.

2) Es wird Personen geben, die sich speziell für bestimmte Themen
interessieren und Verbesserungen zusammenstellen und redigieren. Wenn
ich mich beispielsweise für Einsteins Relativitätstheorie
interessiere, kann ich einen Branch der Wikipedia bekommen von
jemand, der in diesem Bereich fit ist, und der Verbesserungen an
Artikeln zum Thema überwacht.  Will ich mich  über medizinische
Themen informieren, so kann ich einen Branch nutzen, der von
Fachärzten durchgesehen wird. In diesem Sinn kann ein DVCS eine
fachliche Professionalisierung stark fördern, da Fachautoren viel
weniger Zeit dafür verschwenden müßten, sich mit Unsinn
auseinanderzusetzen.

3) Eine solche verteilte Struktur ist viel weniger anfällig für
Astroturfing (das ein zunehmendes Problem wird) und Desinformation.
Interessiere ich mich für Umweltschutz, sagen wie für Gentechnik oder
Kernenergie, so gibt es vielleicht eine Version von jemand, der bei
BUND arbeitet, und der ein kritisches Auge auf Beiträge mit
industriefreundlicher PR hat.  Natürlich kann auch ein Lobbyverband
der Atomindustrie wie das "Deutsche Atomforum" einen Branch
herausgeben - bitte, wer diesen lesen will! Alle diese Branches kann
ich in meinem git-Verzeichnis parallel verwalten, und diejenigen die
ich gut finde, kann ich meiner Haupt-Version hinzufügen und diese
weiter geben... an Kumpels oder Familienmitglieder etwa. 

4) Eine solche Struktur würde die Einflußmöglichkeiten der Admins
drastisch reduzieren und die Wikipedia demokratisieren. Dazu ist gar
nicht unbedingt immer nötig, einen Fork vorzunehmen, wenn mir etwas
nicht paßt: Allein die Möglichkeit, einen Fork zu schaffen oder an
einem bestehendem Fork weiter zu arbeiten, stellt ein Gegengewicht
dar zu z.B. überzogenen Relevanzkriterien oder wie auch immer
motivierten Zensurbestrebungen. Dieser Aspekt - Entwickler haben
immer die Freiheit, woanders hin zu wechseln - ist ein wesentliches
Moment in Open Source Projekten. Schließlich kann jeder
Entwickler/Autor auch die bisherigen Ergebnisse seiner Arbeit einfach
mitnehmen - sie gehören ja der Allgemeinheit.

5) Eine Wikipedia ohne Admins würde nicht bedeutetn, dass alles in
regelloses Chaos und Irrelevanz versinkt. Vielmehr gäbe es
konkurrierende Versionen und Branches, und es würden natürlich
normalerweise die am meisten weiter entwickelt, welche die meisten
Leser finden. Genauso wie bei einer Evolution von Tierarten würden
sich erfolgreiche Änderungen in alle Branches hinein ausbreiten und
durchsetzen. Vandalismus würde ganz einfach verschwinden, da es
keinen Anreiz mehr dafür gäbe (wer würde mir persönlich einen Artikel
übermitteln, in dem steht "Peter ist schwul"?)

6) Es würde sich wahrscheinlich - ähnlich wie beim Linux-Kernel -
eine lose, mehrstufige Organisation herausbilden, bei der Personen,
die sprachlich versiert und in ihrem Gebiet Experten sind, zentrale
Editionen herausgeben, die wieder von anderen genutzt und integriert
werden. Git erlaubt es, beim Zusammenführen von mehreren Branches
automatisch bereits korrigierte Fehler zu übergehen.

7) Selbstverständlich würde es eine "jugendfreie" Version geben,
welche puritanische Gemüter beruhigt. Vermutlich würden auch Forks
entstehen, die verschiedene Weltanschaungen repräsentieren,
vielleicht mehr humanistisch geprägte, streng islamische ohne Bilder
von Mohammed oder katholische ohne Abbildung von Kondomen. Das
hindert mich aber überhaupt nicht daran, mich über diese
verschiedenen Anschaungen zu informieren, genauso wie man sich
breiter informieren kann, indem man verschiedene Zeitungen liest.
Durch die verteilte Struktur von git ist es ohne weiteres möglich,
dass z.B. meine Rechtschreibkorrektur an einem Artikel über
Umweltschutz in der katholischen Variante erscheint, auch wenn ich
mich an dieser nicht direkt beteilige.

Betrachtet man die Möglichkeiten einer DVCS-Wikipedia unter diesem
Aspekten, so entspricht eine verteilte Verteilung und Weitergabe von
Wissen den Zielen einer freien Enzyklopädie viel besser als eine
zentrale Instanz, wo letztlich Einzelne Entscheidungen vornehmen
müssen, was sie als relevant und wahr ansehen oder was andere ihrer
Meinung nach nicht sehen dürfen.


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