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mehr als 1000 Beiträge seit 07.01.2000

"frei" und "offen" - dass ich nicht lache!

Wikipedia ist toll. Ehrlich. Im Schnitt benutze ich Wikipedia
mehrmals täglich, und verglichen mit klassischen Lexika à la
Brockhaus hat die Wikipedia viele, viele Vorteile.

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Aber: Wenn ich Wikipedia so nutzen würde, wie ich es gern tun würde,
dann würde ich mich selbst zum gläsernen Menschen machen.

In fast jedem Artikel, den ich lese, gibt es etwas zu verbessern.
Meist sind es nur Kleinigkeiten in Grammatik, Rechtschreibung oder
Textsatz, unpassende Formulierungen, fehlende Querverweise oder eine
unzureichende Gliederung; oft sind es aber auch inhaltliche
Ergänzungen, die ich gerne vornehmen würde. - Dinge, die ich schnell
und unkompliziert verbessern könnte, ohne dass es mich nennenswert
Zeit kosten würde.

Aber: Wenn ich das immer tun würde, dann würde ich in kürzester Zeit
ein sehr genaues Profil über mich als Person, über meinen Tagesablauf
und über meine Interessen, mein Wissen und meine Meinungen
hinterlassen.

Das will ich nicht, und daher lasse ich die allermeisten Fehler oder
Unzulänglichkeiten in der Wikipedia, die mir auffallen, unkorrigiert.

-

Noch schwieriger ist es für Menschen, die weitaus mehr als ich von
staatlicher und/oder gesellschaftlicher Überwachung und Repression
bedroht sind, zum Beispiel weil sie in extrem repressiven Staaten
leben.

Die Wikipedia sabotiert ihre eigene unzensierte Entwicklung, indem
sie keine anonymen Veränderungen zulässt. Wer anonym Inhalte
verändern will, erhält eine Fehlermeldung:

"This account or IP address has been blocked from editing.
You were blocked by [...] for the following reason (see our blocking
policy):
Tor proxy"
bzw.
"Dein Benutzername oder deine IP-Adresse wurde von [...] gesperrt.
Als Grund wurde angegeben:
offener Proxy"

Dass anonyme Verbesserungen an Wikipedia-Artikeln normalerweise nicht
möglich sind, ist offenbar gewollt:
http://en.wikipedia.org/wiki/WP:OW/t

-

Ich finde es völlig indiskutabel, wenn sich ein Nachschlagewerk
"frei" und "offen" nennt, das eine anonyme Mitarbeit bewusst
sabotiert.

In der Konsequenz heißt das: Wikipedia-Artikel werden nur von den
Menschen erstellt bzw. verbessert, die es sich leisten wollen und
können, persönlich für ihre Beiträge geradezustehen.

Das führt zwangsläufig dazu, dass kritische Stimmen gerade in
Artikeln zu heiklen Themen deutlich unterrepräsentiert sind.

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Die aktuelle Suche nach "Schiedsrichtern" geht m. E. meilenweit an
den tatsächlichen Problemen der Wikipedia vorbei.

Problem der Wikipedia ist _nicht_, dass es zu wenig Kontrolle über
die Inhalte gibt, sondern im Gegenteil dass es zu viel Kontrolle
durch Wikipedia-Autoritäten gibt.

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Ein großer Fortschritt wäre es m. E., wenn anonyme Verbesserungen (z.
B. über Tor-Server) wieder zugelassen würden.

Das würde es sowohl für Menschen, die sehr konkrete Repressalien zu
befürchten haben, als auch für Menschen, die einfach nicht ihren
alltäglichen Mediengebrauch überwacht wissen wollen, deutlich
leichter machen, die Wikipedia zu verbessern.

Gruß

.
Holger
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