Zugegeben, es ist nicht immer einfach, die eigenen Fallstricke und Widersprüchlichkeiten zu erkennen. Auch mir widerfährt hin und wieder ein Lapsus, wie ich ihn soeben im Artikel gelesen habe:
Gefühle sind - wie sollte es anders sein - subjektiv. Hier geht es um das Problem, die eigene Subjektivität in Beziehung zu setzen mit dem objektiven Rest, also der Gesellschaft.
Der erste Satz läßt hoffen, daß der Autor die generelle Subjektivität jeglicher Wahrnehmung erkannt hat. Doch schon im nächsten Satz geht er davon aus, daß irgend jemand über eine objektive Vorstellung verfügen könnte, was und wie die Gesellschaft sei. Dabei sind nicht nur Gefühle subjektiv, sondern alle Wahrnehmung.
Der Autor unterstellt damit gleichsam, über eine objektive Wahrnehmung der Gesellschaft zu verfügen, denn er deutet ja an, daß er genau wisse, daß es den »objektiven Rest, die Gesellschaft« gäbe – oder er schreibt von etwas, an das er selber nicht glaubt, das er selber nicht überblickt und das er auch nicht wahrzumehmen in der Lage ist. Tatsächlich schreibt er wie jemand, der davon überzeugt ist, den Gegenstand seiner Beschreibung ausführlich zu kennen – denn nicht ausführlich könnte ja den fragwürdigen Objektivitätsanspruch niemals erfüllen.
Wahrnehmung ist in erster Linie Interpretation von Signalen. Es gibt keine zwei Menschen, die alle von den Sinnesreizen gelieferten Signale in derselben Weise und Quantität interpretieren. Deshalb kann es keine objektive Wahrnehmung geben, denn wie schon gesagt, jede Wahrnehmung ist subjektiv.
Wahrnehmung bedeutet nichts anderes als die Ergebnisse einer Interpretation als wahr – zutreffend – anzunehmen. Doch was trifft da eigentlich zu? Die Vorstellungen, die wir uns von einem wie auch immer gearteten Ding machen, werden von unserem Interesse an diesem Ding bestimmt. Vorstellungen, Modelle sind immer nur in Form von Abstraktionen produzierbar. Auf unserer inneren Landkarte, auf der das jeweilige Ding symbolisch verzeichnet ist, werden jedoch niemals alle nur denkbaren Aspekte eines Dings abgebildet, sondern, wie bereits gesagt, nur jene, die uns interessieren, weil sie uns dabei helfen, unsere jeweiligen Zwecke zu »verwirklichen«. Ein Vater wählt, um seine Tocher abzubilden, ganz andere Aspekte dieser jungen Frau wie z.B. ein potentieller Liebhaber. Ein Bauer sieht die Kuh auf der Weide mit ganz anderen Augen als ein Kind. Wer sie nicht kennt, der sollte sich vielleicht einmal mit der Abstraktionsleiter von Anatol Rapoport befassen oder mit Alfred Korzybski:
https://www.gleichsatz.de/b-u-t/gene/leiter.html
https://www.gleichsatz.de/b-u-t/gene/korz.html
Diese Zusammenhänge sind keineswegs trivial, sondern erfordern oft nicht nur Überwindungsarbeit, sondern ebenso Ausdauer und philosophische Hingabe. Nur wer es wirklich wissen will, wird früher oder später dahintersteigen, was es mit unserer Wahrnehmung auf sich hat.
Um an die Intention des Autors anzuknüpfen: Die Behauptung einer objektiven Vorstellung von einer Sache ist immer auch der Versuch, Macht auszuüben. Der angeblich objektive Betrachter behauptet, als einziger oder im Verbund mit einer jeweiligen Gruppe Gleichgesinnter über die »richtigen«, weil ja »objektiven« Vorstellungen zu verfügen; alle anderen, die von diesen Vorstellungen abweichen, müssen sich daher zwangsläufig irren. Diese angenommene Einzigartigkeit erzeugt das Gefühl von Macht, ganz besonders, wenn man sie dazu verwendet, anderen befehlen zu wollen, die eigenen Vorstellungen zu übernehmen, andernfalls man sie diffamiert und entwertet: »Du bist zu blöd, das zu erkennen, was ich sehe. Dich kann man nicht ernst nehmen.«
Die Annahme einer »objektiven Realität« ist aber nichts weiter als eine kindliche Illusion. Kinder wissen noch nichts davon, wie sie wahrnehmen, wie sie Landkarten erstellen, wie sie sich die scheinbar materielle Welt erobern und kategorisieren. Sie tun es einfach und erfreuen sich daran – wenn man sie läßt.
Der Autor fragt dann weiter, woher die »Anmutung von Belanglosigkeit« komme, die sich (in ihm) bei der »Begegnung mit aktuellen Produkten in Film oder Literatur« einstellt. Ehrlich gesagt verstehe ich die Frage nicht wirklich: Er fragt, woher sein Gefühl der Belanglosigkeit komme? Kommen Gefühle von irgend woher? Aus meiner Sicht sind Gefühle wichtige Regungen im eigenen Körper, mit denen wir unsere innere wie auch äußere Umwelt abtasten und bewerten: Wie fühlt es sich an, in genau dieser Situation zu sein? Oder: Wie schmeckt mir diese oder jene Vorstellung einer Sache, eines Dings, eines Menschen etc.? Ist das Gefühl angenehm oder unangenehm?
Wie kann ich beim Anschauen eines Films oder beim Lesen eines Buches das Gefühl von Verlust empfinden und dann auch noch fragen, woher dieses Gefühl stamme? Na aus mir stammt es, woher denn sonst? Was soll das für ein Verlust sein? Verlustempfindungen habe ich, wenn mir etwas abhanden gekommen ist, wenn z.B. ein nahestender Mensch sich von mir abgewendet hat oder verstorben ist, oder wenn ich meine Geldbörse oder meinen Hausschlüssel verloren habe oder gar ein Gliedmaß. Aber beim Lesen oder Videogucken? Vielleicht erinnert mich eine dort dargestellte Handlung an einen vergessenen oder verdrängten Verlust? Oder mal ganz banal ausgedrückt: Wenn mir ein Buch, ein Film usw. nichts sagt, dann empfinde ich Belanglosigkeit und lese bzw. schaue nicht weiter. Na und?
Anschließend macht der Autor ein weiteres Faß auf, indem er seichte TV-Unterhaltung »echter Berührung« (ob er damit körperliche Nähe oder emotionales Berührtsein meint, bleibt unbestimmt) gegenüberstellt. Was hat das Eine mit dem Anderen zu tun? Es gibt Paare, die bumsen beim Fernsehen. Es gibt Familien, die reden nicht mehr miteinander, weil sie fast nur noch vor der Glotze hocken. Es gibt isolierte Menschen, die täglich allein vor ihrer Glotze hocken (oder vor dem Videospiel). Aber kann denn nicht jeder Mensch für sich selber entscheiden, ob er das haben möchte?
Eigentlich kann ich da nicht so wirklich mitreden, denn ich besitze seit über 35 Jahren weder Radio noch Fernseher, lese lieber interessante Fachbücher oder schreibe Kommentare im Telepolis-Forum. Dennoch weiß ich aus vielfältiger Beobachtung, wie einsam sich Menschen fühlen, die aus welchen Gründen auch immer beim täglichen passiven Medienkonsum gelandet sind und dort nicht mehr herausfinden – wollen! Wer, wie der Autor andeutet, vom TV-Konsum echte Berührung erwartet, lebt in einer geistigen Grundverwirrung, die ihn ständig Darstellung mit direkter Erfahrung verwechseln läßt. Kein noch so schöner Liebesfilm kann die Erfahrung der Liebe ersetzen, kein Porno das Gefühl, mit einem echten Menschen Sex zu haben, kein noch so brutaler Actionfilm die Erfahrung von Gewalt. Ich fürchte, es ist sogar genau umgekehrt: frühe Gewalterfahrungen bringen Menschen dazu, sich immer wieder Darstellungen von Gewalttätigkeit auszusetzen, verlorene (Mutter-) Liebe wird nur unzureichend ersetzt durch seichte Schmachtfetzen und die Flucht vor der Konfrontation und Auseinandersetzung mit potentiellen Sexualpartnern treibt die Menschen zur pornographischen Ersatzhandlung. Vielleicht ist es so, vielleicht auch nicht ...
Beim Öffnen des nächsten Fasses entgleitet dem Autoren nun vollends der Bezug zur Wirklichkeit: »Gefühle entstehen, wenn sich die Dinge ändern: "Emotionen werden erzeugt, wenn wir von dem Reizniveau, an das wir uns mit der Zeit gewöhnt haben, abweichen", schreibt der Philosophieprofessor Aaron Ben Ze'ev. Und wenn wir uns daran halten, das eigene Gefühl unter die Beobachtung des Intellekts zu stellen, also reflexiv damit umzugehen, bekommen wir auch vielleicht heraus, was daran über das Subjektive hinausgehend das Gesellschaftliche seinen Anteil hat.«
Der ganze Absatz ist sowas von nebelhaft, daß man dort alles Mögliche hineininterpretieren kann. Gefühle entstehen, wenn sich die Dinge ändern? Welche Dinge? Dinge sind Verdinglichungen, und die macht unser Gehirn: Phänomene werden zu abgegrenzten Dingen erklärt. Es gibt kein Ding ohne Grenzen. Grenzen sind aber vor allem auf den Landkarten einzgezeichnet. Ein Foto von der Erde aus dem Weltraum aufgenommen zeigt keine Grenzen. Das Ab- und Eingrenzen ist eine Denkleistung. Gefühle entstehen ständig, alles ändert sich ständig, es gibt keinen Stillstand. Die Vorstellung von Stillstand, dem Gegensatz zu Veränderung, entspringt dem menschlichen Verstand, der mit quasi eingefrorenen Vorstellungen der Wirklichkeit arbeitet. Symbole auf unserer Landkarte sind unbeweglich, starr, sie markieren einen Orientierungspunkt und nicht wirklich ein lebendiges System im Außen. »Alles ist im Fluß« können wir zwar als Symbol denken, aber uns nicht wirklich vorstellen. Allein schon die Vorstellung von einem reißenden Fluß gerät uns wieder, auch wenn wir das nicht wollen, zu einer Momentaufnahme, zu einem starren Bild. Allein auf diesem Umstand beruhen zahllose Irrtümer des menschlichen Geistes.
Ich nehme meine Empfindungen nicht als singulär auftretende Einzelgefühle wahr, sondern als fließend, vergleichbar vielleicht mit einem Farbenspiel, wo sich ständig andere Farben hineinmischen und Verläufe zeigen. Die Vorstellung von zeitlich klar abgegrenzten Einzelempfindungen ist das Resultat von gedanklichen Momentaufnahmen. Sobald ich mein Denken, mein Interpretieren oder auch den inneren Monolog zurückdränge oder für eine kurze Zeit ganz abstelle, werde ich mir des Flusses meiner Emotionen bewußt. Es erfordert ausdauernde Übung, das zu bewerkstelligen, zumindest für westlich geprägte Menschen, die ja ständig einem Fluß der Interpretationen ausgesetzt sind, mit dessen Hilfe sie eigentlich nur vor unerwünschten Emotionen flüchten: die sogenannte Flucht in den Neokortex.
Vielleicht bin ich ja durch die Sachliteratur der letzten beiden Jahrzehnte, die ich inzwischen bevorzuge, etwas anspruchsvoll geworden, und wenn, ist das aus meiner Sicht auch gut so. Ich kann diesem Artikeltext jedenfalls nichts für mich Wertvolles entnehmen, er ödet mich ein wenig an, oder um mit den Worten des Autors zu reden: Ich konnte mich beim Lesen dem Gefühl von Belanglosigkeit nicht entziehen, weshalb ich auch nicht den ganzen Text gelesen habe. Den Beitrag hier zu schreiben, hat dagegen echte Freude bereitet.