Essen aus dem Baukasten

Industriell verarbeitete Lebensmittel galten einmal als schrecklicher Auswuchs der Moderne. Dann kamen Vegetariertrend und Gesundheitsbewegung und machten fleischlose Mortadella sowie laktosefreie Milch zu Lifestyle-Produkten. Das hat auch seine guten Seiten. 

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht
Lesezeit: 5 Min.
Von
  • Denis Dilba

In Plastikfolie verschweißt und mit typisch goldgelber Farbe sieht das „Wilmersburger Stück Cheddar-Style“ auf den ersten Blick tatsächlich so aus wie seine namensgebende Verwandtschaft aus Südwestengland. Allerdings darf sich der 300 Gramm schwere Block, der vom Kölner Unternehmen Vekontor vertrieben wird, laut EU-Verordnung 1308/2013 nicht Käse nennen: Er besteht hauptsächlich aus Wasser, Pflanzenfett und Stärke, einigen Aroma- und Farbstoffen sowie einer gehörigen Menge Salz. Und doch – oder gerade deswegen – hat er Vorzüge, die im Supermarktregal gut ankommen: Er ist sowohl vegan als auch – da ohne Milch und Klebereiweiß hergestellt – laktose- und glutenfrei. Zudem ist die Produktion des veganen Kunstkäses bis zu 40 Prozent billiger als die von echtem Käse.

Was heute als Inbegriff einer modernen Art zu essen gilt, wäre früher als verhasste Chemie bei kaum einem Ernährungsbewussten auf den Tisch gekommen. Als die Verbraucherzentrale Hamburg 2009 im Internet Produkte mit dem „Nepp-Käse“ outete, war der Aufschrei groß: Das mit viel Lebensmitteltechnik-Einsatz produzierte Käse-Imitat wollte niemand auf Pizza oder im Schnitzel Cordon bleu finden, schon gar nicht, ohne davon zu wissen. Denn damals waren die meisten Produkte nicht entsprechend gekennzeichnet. Inzwischen hat offenbar ein Sinneswandel stattgefunden. Er betrifft bei Weitem nicht nur Käse, sondern auch Fleischersatzprodukte wie vegetarische Mortadella, die zu rund zwei Dritteln aus Eiklar sowie etwas Pflanzenöl und sehr viel Lebensmittelchemie besteht (siehe Seite 90). Nahezu alles, was als vegetarisch oder besser noch vegan, als gluten- und laktosefrei beworben wird, gilt inzwischen als ethisch korrektes und vor allem gesundheitsförderndes Lebensmittel. Es verkauft sich exzellent.

Das britische Marktforschungsunternehmen Mintel ermittelte dazu eindrucksvolle Zahlen: Trugen 2010 ein Fünftel aller neu eingeführten Lebensmittel und Getränke in Deutschland eine „frei von“-Bezeichnung, waren es 2015 bereits fast ein Drittel. Zu den „frei von“-Produkten zählten die Analysten neben veganen, gluten- und laktosefreien Produkten auch solche, die auf Allergene, Hormone, künstliche Zusatzstoffe oder gentechnisch veränderte Organismen verzichten. Damit verschwimmt die Grenze teilweise zwischen künstlich „frei von“ gehaltenem Novel Food – wie das designte Essen unter Fachkundigen heißt – mit Erzeugnissen aus naturnahem Bioanbau, in dem konsequent auf Gentechnik und Hormone verzichtet wird. Die Marktentwicklungen der beiden Segmente sind deshalb nicht scharf voneinander abzutrennen. Und doch lohnt ein Vergleich: Der Umsatz mit Öko-Erzeugnissen wuchs zwischen 2010 und 2015 von sechs Milliarden auf 8,6 Milliarden Euro. Damit liegt Bioware zwar klar vor Novel Food. Aber die Neuankömmlinge wachsen stärker. Der Umsatz mit den Fleisch- und Milchalternativen sowie pflanzlichen Brotaufstrichen, Müsli und Cornflakes in Deutschland hat sich im gleichen Zeitraum von 208 Millionen Euro auf 454 Millionen mehr als verdoppelt, gibt das Kölner Institut für Handelsforschung in einem aktuellen Branchenreport an.

Einen Grund dafür liefern Marktforscher der Nielsen Group: Nur knapp jeder Dritte (32%) will hierzulande genau wissen, welche Zutaten die Lebensmittel enthalten. Im europaweiten Durchschnitt sind es hingegen 40 Prozent. Die Hersteller profitieren von dieser unkritischen Haltung. In den lukrativen Markt steigen nun auch vermehrt Supermarktketten ein. So bietet Rewe aktuell 30 Artikel seiner vor drei Jahren gegründeten Eigenmarke „Frei von“ an. „Die Produkte werden sehr gut angenommen. Das Sortiment soll daher weiter moderat wachsen“, sagt Rewe-Sprecher Raimund Esser. Er betont dabei, dass die Produkte nur für Menschen sinnvoll seien, die auch ein entsprechendes gesundheitliches Leiden hätten.

Joachim Westenhöfer, Professor für Ernährungs- und Gesundheitspsychologie an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg, beobachtet allerdings, dass die weitaus meisten Konsumenten solcher Nahrungsmittel gar nicht an Unverträglichkeiten leiden. In Deutschland sei nur etwa ein Prozent der Bevölkerung von der Krankheit Zöliakie betroffen. Das in vielen Getreidesorten enthaltene Klebereiweiß führt bei ihnen zu Entzündungen im Dünndarm. „Diese Menschen müssen sich glutenfrei ernähren“, sagt der Wissenschaftler. Darüber hinaus gibt es noch etwa ein bis fünf Prozent der Bevölkerung, die mehr oder weniger schwere Probleme beim Verdauen von Gluten haben „Alle anderen, die sich glutenfrei ernähren, machen das nur, weil sie irgendwo gelesen haben, dass es gesünder sein soll, oder weil es die Nachbarn, Freunde oder irgendwelche Hollywoodstars machen“, sagt Westenhöfer. Bereits 2014 vermieden neun Prozent der deutschen Verbraucher Gluten laut einer Umfrage im Auftrag von Spiegel Online. Heute kann man bereits von zweistelligen Zahlen ausgehen. „Für die Hersteller ist dieser Trend natürlich großartig. Sie bringen mehr Produkte auf den Markt, über die dann die Medien mehr berichten, wodurch wieder mehr Menschen glauben, dass glutenfrei gleich gesund ist“, sagt Westenhöfer.

Die Fokus-Artikel im Einzelnen:

Seite 84 - Novel Food: Vom Schreckgespenst zum Markteroberer

Seite 88 - Scanner: Moderne Vorkoster sollen Mogelpackungen entlarven

Seite 90 - Fleisch: Gibt es ernst zu nehmende Alternativen zu einem echten Steak?

Seite 94 - Bier und Wein: Ale mit Pfirsichnote und Moscato d’Asti aus dem Chemiebaukasten

Seite 96 - Interview: Gentechnik und Öko-Landwirtschaft müssen sich nicht ausschließen

(inwu)