Das gebrochene Versprechen

Der technische Fortschritt erhöht den Wohlstand für alle, lautete lange das Mantra der Ökonomen. Doch der Unterschied zwischen Reich und Arm ist in den Vereinigten Staaten größer denn je – und wächst weiter. Ist die Digitalisierung schuld?

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Von
  • David Rotman

Der technische Fortschritt erhöht den Wohlstand für alle, lautete lange das Mantra der Ökonomen. Doch der Unterschied zwischen Reich und Arm ist in den Vereinigten Staaten größer denn je – und wächst weiter. Ist die Digitalisierung schuld?

Das Problem lässt sich schwer übersehen. An einem belebten Morgen belegen Obdachlose mit ihren bescheidenen Habseligkeiten in der Innenstadt von Palo Alto, dem Zentrum des weltweiten Technologie-Booms, scheinbar jede verfügbare öffentliche Sitzbank. Nur zwanzig Autominuten entfernt hat sich in San Jose das angeblich größte Obdachlosen-Lager des Landes etabliert. Der „Dschungel“ zieht sich entlang eines Baches, in Gehentfernung zur Zentrale der Softwareschmiede Adobe sowie des glänzenden, hochmodernen Rathauses.

Die Obdachlosen sind nur das sichtbarste Zeichen der Armut in dieser Region. Nüchterne Zahlen bestätigen den ersten Eindruck. 2013 erreichte das mittlere Jahreseinkommen im Silicon Valley 94000 US-Dollar; weit über dem nationalen Mittelwert von rund 53000 Dollar. Doch schätzungsweise 31 Prozent der Arbeitsplätze bringen gerade mal 16 Dollar oder weniger pro Stunde ein – also rund 30000 Dollar pro Jahr. Das reicht nicht, um in dieser Gegend mit ihren notorisch hohen Lebenshaltungskosten eine Familie durchzubringen. Die Armutsquote des Santa Clara County im Herzen des Silicon Valley beträgt, unter Berücksichtigung der Lebenshaltungskosten, rund 19 Prozent.

Die soziale Ungleichheit ist so offensichtlich, dass sie mitunter sogar die Gewinner des Hightech-Booms irritiert. An der University Avenue, der Hauptstraße Palo Altos, „betteln Menschen auf der Straße“, klagt beispielsweise Vivek Wadhwa, Fellow des Rock Center for Corporate Governance der Universität Stanford sowie der Singularity University, einer Privatuniversität, an der sich die Elite des Silicon Valley versammelt (siehe TR 11/2014, S. 46). „Es sieht aus wie in Indien“, sagt Wadhwa, der selbst in Delhi geboren wurde. „Das Silicon Valley ist ein Ausblick auf die Zukunft, die wir uns schaffen“, ergänzt er. „Und der ist wirklich beunruhigend.“ Viele von denen, die der jüngste Technologie-Boom reich gemacht hat, fügt er hinzu, scheine „das Chaos, das sie anrichten“, nicht zu kümmern.

Dabei ist eigentlich genug Geld da. Der im Silicon Valley generierte Reichtum sei „verschwenderischer denn je“, sagt Russell Hancock, Präsident des Joint Venture Silicon Valley, einer gemeinnützigen Gruppe, die die Regionalentwicklung fördert. „Aber von früheren Booms im Technologiesektor haben immer alle profitiert. Das gilt heute nicht mehr. Plötzlich gibt es Gegenreaktionen, die Menschen sind aufgebracht.“ In der Tat wurden Firmenbusse mit Steinen beworfen, die Google-Mitarbeiter von ihren Häusern in San Francisco zur Arbeit im Silicon Valley transportieren.

(wst)