60 Jahre Kompaktkassette: Musik am laufenden Band

Am 28. August 1963 feierte die Kompaktkassette in Berlin ihre Weltpremiere. Zum ersten Mal wurde individuelle Musik tragbar und erschwinglich.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 428 Kommentare lesen

Eine Philips CompactCassette von 1963

(Bild: Philips)

Lesezeit: 13 Min.
Von
  • Karl-Gerhard Haas
Inhaltsverzeichnis



Das Interesse war verhalten: Als der damals bedeutende niederländische Elektronikkonzern Philips auf der Funkausstellung unterm Berliner Funkturm seine Kompaktkassette präsentierte – ein Audio-Magnetband mit Aufnahmemöglichkeit – standen andere Gerätschaften und Technologien im Mittelpunkt des Interesses. Die gerade gestartete UKW-Stereophonie etwa – wie auch ausgewachsene Spulentonbandgeräte, die den Stereoton in guter Qualität aufnehmen und wiedergeben konnten.

Von annehmbarer Klangqualität wie auch Stereo waren sowohl der erste Kassettenrecorder, der Philips EL 3300, als auch die zugehörigen Bänder weit entfernt. Das Gerät selbst war mit 300 D-Mark zwar günstiger als alle am Markt erhältlichen Spulentonbandgeräte. Auf heutige Kaufkraft umgerechnet entspricht der Betrag aber rund 700 Euro – also alles andere als ein Schnäppchen. Es ließ sich nur mit damals ebenfalls verhältnismäßig teuren und immer zum falschen Zeitpunkt leeren Batterien betreiben; gleich fünf Babyzellen forderte der Niederländer. Aber: Man konnte mit ihm aufnehmen – also entweder seine eigenen Gesangsversuche zum Besten geben, die ersten Worte seiner Kinder konservieren oder per vor den Lautsprecher gehaltenem Mikrofon Musik aus dem Radio oder von Schallplatte speichern.

Zu jener Zeit war für Bild- und Tonaufzeichnungen Magnetband das Medium der Wahl. Die ersten praxistauglichen, maßgeblich vom Telefunken-Ingenieur Eduard Schüller entwickelten "Magnetophone" waren der Öffentlichkeit an derselben Stelle 28 Jahre früher präsentiert worden. Aber das Gefummel mit Bandspulen, das Einfädeln der Bänder und die Notwendigkeit, das Band vollständig auf eine Spule zu wickeln, bevor man es wechseln konnte, machten schnell klar: Für Normalverbraucher, die nur Musik hören wollen, ist das zu mühsam – das Band musste in ein festes Gehäuse.

Einen ersten Anlauf dazu unternahm die damals mächtige Radio Corporation of America – RCA – 1958. Das System hieß schlicht RCA Tape Cartridge. Aber Geräte und Kassetten waren zu groß und zu teuer – das System war kein Erfolg. Einen vollständigen Abriss der Kompaktkassetten-Vorläufer zeigt der britische Youtuber Techmoan hier.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

Mit Ihrer Zustimmmung wird hier ein externes YouTube-Video (Google Ireland Limited) geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Google Ireland Limited) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.

Eigentlich sollte die Kompaktkassette ein gemeinsames Format von Philips und dem fränkischen Unternehmen Grundig werden. Nur: Während Grundig ab 1960 gemeinsam mit Philips in dessen Wiener Tonbandgerätewerk an einer Einloch-Kassette tüftelte, bastelte ein Team um den Niederländer Lou Ottens in einem Philips-Werk in Hasselt, Belgien, an der Kompaktkassette.

Dem "Partner" Grundig teilte man dies erst kurz vor dem Marktstart 1963 mit – was den Firmenpatriarch Max Grundig derart wurmte, dass er 1965 ein eigenes, DC International genanntes Format auf den Markt brachte. Das setzte sich aber nicht durch und wurde bereits zwei Jahre später eingestampft.

Technisch war die Einloch-Kassette wohl wirklich der schlechtere Plan. Philips’ Verhalten war dennoch schofel – und dank DC International konnte es Max Grundig seinem treulosen Kompagnon heimzahlen. Denn Philips war klar, dass sich sein Format nur durchsetzen würde, wenn man Partner fände, die die Kompaktkassette in den USA und Japan erfolgreich vermarkten. Idealerweise zahlten der oder die Partner Lizenzen.

Die Niederländer wandten sich an Sony. Chef Norio Ohga war interessiert – zahlen wollte er aber an Philips nichts. Seine Verhandlungsmasse: Grundig habe ihm DC International für lau angeboten. Ob’s ein entsprechendes Angebot gab, lässt sich nicht mehr rekonstruieren. Sony behauptet, Grundig habe sich schon 1963, nach Philips’ Kompaktkassetten-Coup, an Sony gewandt. Lou Ottens vermutete im Nachhinein einen Bluff. Fakt ist: Philips ließ sich auf Sonys Bedingungen ein, Sony wurde aber kein Exklusivpartner – und die Kompaktkassette ein Welterfolg. Nachdem die Lizenzbedingungen geklärt waren, baute ab 1969 auch RFT aus Staßfurt, das Elektronikkombinat der ehemaligen DDR, Kassettenrekorder – und Orwo in Bitterfeld-Wolfen fertigte Kassetten. Erstes Modell war der KT-100 für 635 Mark der DDR, eine 90-Minuten-Orwo-Kassette kostete 30 Mark (Ost). In der damaligen BRD lagen Kassetten von Agfa oder BASF bei etwa 12 DM.

Das Tonband einer Kompaktkassette ist schmaler als das von Bandmaschinen – statt 6,35 sind es nur 3,81 Millimeter. Bandmaschinen ziehen das Band mit mindestens 9,5 Zentimetern pro Sekunde (cm/s) an den Tonköpfen vorbei, oft auch mit 19 cm/s. In Tonstudios waren 38 cm/s Standard. Je höher die Geschwindigkeit, desto besser der Frequenzgang der Geräte, also ihre Fähigkeit alle Töne, die ein gesunder Mensch hört, auch zu speichern. Breiteres Band und höhere Geschwindigkeit bedeuten zudem weniger Rauschen. Mit 4,75 cm/s war klar, dass die Kassette keine Chance gegen ein gutes Tonbandgerät hatte – zunächst.

Denn das Bandmaterial wurde besser – statt Eisenoxid (FE₂₀₃/Typ I) beschichtete man die Trägerfolien mit Chromdioxid (CR₀₂/Typ II), was die Hochtonwiedergabe verbesserte. Für einige Jahre gab es auch Doppelschichtbänder ("Ferrochrom"; FeCR/Typ III) mit einer Eisen- und einer Chromdioxidschicht. Die sollten nochmals etwas besser klingen, setzten sich aber nicht durch. Um 1980 kam dann Reineisen- oder Metallpartikelband ("Metal", Typ IV) auf: Hierfür wurde reines Eisen in Kunststoff gekapselt und dann auf die Trägerfolie gegossen, was die elektromagnetischen Eigenschaften der Bänder nochmals steigerte.

Philips Kassettenrecorder von 1963

(Bild: Philips)

Das Problem am Fortschritt: Für jeden Bandtyp mussten geeignete Tonköpfe her, die Rekorder an die Talente der Kassetten angepasst werden. Und: Selbst innerhalb der verschiedenen Typen machten die Hersteller im Laufe der Jahre Fortschritte – die Bänder wurden besser, verließen damit aber die für die Rekorder definierten Spezifikationen. Das DIN sortierte 1971 das Wirrwarr für Chromkassetten, 1978 ging die IEC das Thema für alle Bandsorten an – seitdem heißen sie offiziell IEC I/II/III und IV. Außerdem verpflichtete sie die Hersteller, die verschiedenen Bandtypen durch Kerben im Kassettengehäuse kenntlich zu machen. Entsprechend ausgerüstete Rekorder schalteten dann automatisch auf die korrekte Bandsorte, was einen häufigen Nutzerfehler eliminierte.

Auch die Mechanik in den Kassetten wurde immer besser. Denn ironischerweise war das einzige Detail, was sich das Team um Lou Ottens von der Kompaktkassette patentieren lassen konnte, ihr größter Schwachpunkt. Tonköpfe und Andruckrollen sitzen auf einem verschiebbaren Schlitten und werden für Aufnahme und Wiedergabe ins Kassettengehäuse gedrückt. Dessen mechanische Qualitäten entscheiden also mit darüber, wie präzise und mit welchem Druck das Band über die Köpfe geführt wird – billige Cassettenmechanik bedeutet flatternde Höhen und Aussetzer. Andere Kassettenformate überließen den Rekordern die Bandführung, was wesentlich zuverlässiger funktioniert.

Trotz der Fortschritte in Rekordertechnik und Bandmaterial: Kassetten rauschten hörbar. Der US-amerikanische Erfinder Ray Dolby leitete aus seinem professionellen Rauschunterdrückungssystem Dolby A das einfachere Dolby B (anfangs meist nur Dolby NR – Noise Reduction oder System genannt) ab, was das Bandrauschen um deutlich hörbare zehn Dezibel minderte. Derart gewappnet konnte man die schmale Tonspur für Stereoton nochmals halbieren. Die ersten Kassettendecks mit Dolby B erschienen im Sommer 1970 von Advent, Fisher und harman/kardon.

Von der zweiten Hälfte der 1970er bis in die frühen 1980er Jahre wollten verschiedene Firmen Dolby das Revier streitig machen: Telefunken entwickelte eine Rauschunterdrückung namens High Com (und zusammen mit dem japanischen Rekorderspezialisten Nakamichi noch eine Variante namens High Com II), dbx nannte sein System nach der Firma (also dbx), Toshiba seines A.D.R.E.S und Sanyo war mit einem System namens SuperD am Start. Alle versprachen um 20 bis über 30 dB geringeres Rauschen – und natürlich war keines der Systeme mit einem anderen kompatibel. Vor allem: Bei allen neueren Verfahren handelte es sich um Breitbandkompander – damit gefertigte Aufnahmen klingen fürchterlich, wenn man sie ohne die entsprechenden Schaltungen abspielt. Werden hingegen Dolby-B-Aufzeichnungen ohne wiedergegeben, tönen sie nur einen Ticken zu hell.

Der TPS-L2 Walkman von Sony aus dem Jahr 1979.

(Bild: Sony)

Diese Situation bewog Ray Dolby, Dolby C zu entwickeln. Im Prinzip kombinierte er je zwei der Dolby-B-Schaltungen, ließ sie aber in unterschiedlichen Frequenzbereichen arbeiten. Das wirkte ähnlich gut wie die Breitbandkompander, vermied aber viele derer Schwächen. Bei abrupten Dymanikwechseln oder schrillen Soloinstrumenten fingen diese nämlich an zu pumpen und konnten Bandrauschen nicht mehr maskieren. Dolby C war in der Hinsicht gutmütiger, wirklich schön klangen aber auch Dolby-C-Aufnahmen nicht, wenn man sie ohne dieses System wiedergab. 1989 erschien deshalb das aus dem professionellen Dolby SR abgeleitete Dolby S. Es senkte das Rauschen gegenüber Dolby C nochmal um einige dB und brachte das Kunststück fertig, dass damit gefertigte Aufnahmen auf Geräten ohne diese Schaltung nur leicht komprimiert, also etwas weniger dynamisch, klangen. Allerdings war auch der Schaltungsaufwand für Dolby S enorm. Bis es in den ersten Kassettendecks erschien, waren digitale Medien in allen Varianten verfügbar – für den großen Erfolg erschien Dolby S einige Jahre zu spät.

Bessere Tonköpfe, Antriebs- und Motorenkonzepte taten ein übriges: Die Kompaktkassette wurde high-fidel. Viele Konzepte übernahm man von Tonbandgeräten, etwa getrennte Tonköpfe für Aufnahme und Wiedergabe, eigene Motoren für den Bandtransport und die Tonwelle ("Capstan") – den eigentlichen Vortrieb bei Aufnahme und Wiedergabe. Eine Zeit lang tat sich der norwegische Hersteller Tandberg hier mit aufwendigen Geräten hervor, Ende der 1970er betrat dann mit Nakamichi ein japanischer Hersteller die Szene, dessen Rekorder für Jahrzehnte zum Inbegriff hochwertiger Kassettendecks wurden.

Das setzte natürlich auch die Konkurrenz unter Druck: Elektronische Laufwerkssteuerungen lösten die mechanischen Klaviertasten der frühen Geräte ab. Obwohl die Compact Disc damals bereits rund zehn Jahre auf dem Markt war, legten Firmen wie Pioneer und Sony Anfang der 1990er nochmal eine Schippe drauf und machten die Kassettentechnik gleichzeitig besser und günstiger. Das war gerechtfertigt: In vielen Autoradios kam zu jener Zeit das individuelle Musikprogramm von Kassetten, tragbare Kassettenspieler waren nicht nur unter Jugendlichen verbreitet und beliebt.

Wer nicht auf industriell bespielte Kassetten zurückgreifen wollte, die genauso viel kosteten wie ein Album auf Schallplatte, brauchte ein Gerät, um die eigene Musik aufs Band zu transferieren. Das änderte sich erst zum Jahrtausendwechsel, als CD-Rekorder und -Brenner erschwinglich wurden – ebenso wie tragbare CD-Spieler und CD-Autoradios.

Die Rekorder-Spitzenmodelle aus jener Zeit hätten – mit Reineisenband und Dolby S – die von Vielen vergötterte Vinylschallplatte locker an die Wand gespielt. Von einem Störabstand von rund 80 dB und einem auch bei hohem Pegel annähernd linearen Frequenzgang träumen die schwarzen Scheiben nur. Mit Band bleibt die Qualität zudem über die gesamte Spielzeit konstant, während die der Schallplatte zur Mitte hin deutlich in den Keller geht.

Mit dem Siegeszug von Heimcomputern verlangten auch deren Nutzer nach einer günstigen Speichermöglichkeit für Programme und Daten. Es lag nahe, wie an Großrechnern auf Magnetband zu setzen. Aber statt schrankgroßer Bandlaufwerke nutzten Commodore & Co. lieber günstige Kassetten, die erst mit dem IBM-PC nach und nach durch Disketten verdrängt wurden.

Ein gleichnamiger Youtube-Kanal fabuliert vom "Cassette Comeback", immer noch finden sich Neugeräte mit Kassettenlaufwerk, veröffentlichen Musiker ihre Werke auf Kompaktkassette. Wenn man genauer hinschaut, bleibt von der herbeigeredeten Neuauflage wenig übrig. Bei den aktuellen Mechaniken handelt es sich um Einfachstprodukte aus China, ebenso bei neuen Bändern. Die Patente der Dolby- und anderer Rauschunterdrücker sind längst abgelaufen – aber neu sind die Schaltungen nicht zu bekommen. Kassetten lassen sich nur in Echtzeit füllen, Bandführung und Tonköpfe der Rekorder sollten spätestens alle zehn Stunden mit Isopropanol und Wattestäbchen gereinigt werden – sonst entsteht der gefürchtete Bandsalat. Nur, wer sich mit der Technik etwas befasst, kennt die Feinheiten zum Einmessen und richtigen Aussteuern der Kassetten – alles Voraussetzungen für gut klingende Aufnahmen. Mit MP3 & Co. und erst recht Streaming ist dieser Aufwand schlicht überflüssig.

Es gibt nur zwei Gründe, sich auf dem Gebrauchtmarkt nach funktionierenden Kassettenrekordern umzuschauen – möglichst solchen ab Baujahr 1990 und der gehobenen Mittel- oder Spitzenklasse. 1. Begeisterung für die Technik. 2. ein großer Bestand an Kassetten, die man noch digitalisieren möchte. Als Unterhalter für unterwegs haben Speicherkarten, Smartphones oder MP3-Spieler die Kassette längst abgelöst, für Eigenaufnahmen sind moderne digitale Audiorekorder um Welten besser als die Top-Technik von einst.

Rivalisierende spätere Kassettenformate

Rekorder-Übersicht

Dreiteilige NDR-Doku: "Vom magnetischen Draht zum magnetischen Band"

(kbe)