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Agile Softwareentwicklung: Kanban effektiv einsetzen und Fallstricke vermeiden

Maika Möbus

(Bild: LanKS/Shutterstock.com)

Im Interview geht Kanban-Pionier David J Anderson auf die HintergrĂŒnde der Methode ein und erklĂ€rt, was zu einer erfolgreichen Umsetzung nötig ist.

Kanban ist aus der Welt der agilen Softwareentwicklung nicht mehr wegzudenken. Als BegrĂŒnder der Methode in der IT gilt der Buchautor und Organisationstrainer David J Anderson. Im GesprĂ€ch mit heise Developer teilte er Einsichten in die Entstehung, den aktuellen Stand und mögliche Zukunftsaussichten von Kanban. Zur erfolgreichen Implementierung lĂ€sst sich das von Anderson mitbegrĂŒndete Kanban Maturity Model heranziehen, das dafĂŒr eine schrittweise Orientierungshilfe bietet. Es soll dabei helfen, den organisatorischen Reifegrad eines Unternehmens zu bestimmen und voranzutreiben und somit bekannte Fallstricke beim Einsatz von Kanban zu vermeiden.

heise Developer: Im Jahr 2005 etablierten Sie die Verwendung von Kanban in der Softwareentwicklung, fĂŒnf Jahre spĂ€ter erschien Ihr Buch "Kanban: Successful Evolutionary Change for Your Technology Business" ("Kanban: EvolutionĂ€res Change Management fĂŒr IT-Organisationen"). Wenn Sie heute ein Ă€hnliches Buch schreiben wĂŒrden, was wĂŒrden Sie daran Ă€ndern?

David J Anderson: Um ehrlich zu sein, hat sich wenig verĂ€ndert. Obwohl ich knapp zwei Kapitel ĂŒber Feedback-Mechanismen wie Operations Review geschrieben habe, musste ich diese deutlicher ausfĂŒhren und habe eine sechste generelle Praktik zu dem ursprĂŒnglichen FĂŒnfer-Set hinzugefĂŒgt. Ich wĂŒrde heute STATIK (the systems thinking approach to implementing Kanban) hinzufĂŒgen. Weglassen wĂŒrde ich vermutlich den frĂŒhen Abschnitt zur Geschichte der Community und zu Ă€hnlichen Arbeiten von anderen, die inzwischen zum Großteil in Vergessenheit geraten sind. Das sechste Kapitel zu Work Item Types und Workflow wĂŒrde ich etwas deutlicher und offensichtlicher gestalten.

heise Developer: Wie ist die Entstehungsgeschichte von Kanban, das hÀufig mit der japanischen Automobilindustrie assoziiert wird, und wie gelangte es in die Welt der Softwareentwicklung?

Anderson: Das Konzept der Signalkarten ist viel Ă€lter als die Automobilherstellung. Es wurde in Japan schon seit Hunderten von Jahren verwendet und das Konzept von Strichlisten ist auch in Europa weit verbreitet. Toyota hat diese Strichlisten oder Signalkarten fĂŒr den Einsatz in der Automobilproduktion modifiziert. Davon inspiriert habe ich die gleiche Technik fĂŒr die Wissensarbeit, fĂŒr Dienstleistungen und allgemein fĂŒr die Industrie der immateriellen GĂŒter angepasst.

heise Developer: Welche MissverstĂ€ndnisse herrschen rund um Kanban, die aufgrund falscher Erwartungen zu EnttĂ€uschung fĂŒhren könnten?

Anderson: Kanban soll der verbesserten Erbringung von Dienstleistungen dienen, etwa der Softwareentwicklung, und die Kanban-Methode verwendet virtuelles (oder immaterielles) Kanban sowohl fĂŒr diesen Zweck als auch als Hauptantrieb fĂŒr evolutionĂ€re Verbesserungen. Man sollte also zunĂ€chst erkennen, dass man in einer Branche arbeitet, die immaterielle GĂŒter anbietet, und dass die Kanban-Methode dabei helfen soll, diese Dienstleistungen nach dem Motto "start with what you do now" in einem evolutionĂ€ren Prozess schrittweise zu verbessern.

heise Developer: Welche Tipps können Sie geben, wenn ein Unternehmen vergeblich versucht hat, Kanban-Methoden zu implementieren?

Anderson: Es gibt zwei hĂ€ufige GrĂŒnde des Scheiterns: das False Summit Plateau (Plateau des falschen Gipfels) und Over-Reaching (ÜbererfĂŒllung). Der "falsche Gipfel" entsteht durch die Annahme, dass es bei Kanban nur um eine visuelle Tafel oder eine einfache Workflow-Visualisierung gehe. Das kann zu der Frage "Wir haben Kanban umgesetzt und es war gut, was nun?" fĂŒhren, deren Antwort lauten sollte: "Mehr Kanban". Das Problem der ÜbererfĂŒllung tritt eher auf, wenn professionelle Coaches involviert sind und mit ihrem Wissen angeben wollen. Sie entwerfen Kanban-Systeme und -Implementierungen, die zu viel und zu frĂŒh fĂŒr die Organisation sind, was dazu fĂŒhrt, dass diese daran ersticken. Die Folge ist eine festgefahrene, oft abgebrochene Implementierung.

Wir haben das Kanban Maturity Model entwickelt, um diese beiden Fehlerursachen zu beheben. Es gibt kein schlechtes Kanban, sondern nur dessen unangemessene Umsetzung, bei der die Praktiken schlecht auf die organisatorische Reife abgestimmt sind.

heise Developer: Was hat es mit dem Kanban Maturity Model auf sich – wie ist es entstanden und wodurch zeichnet es sich aus?

Anderson: Das Kanban Maturity Model (KMM) definiert ein Modell der organisatorischen Reife. Es ist nicht Kanban selbst, das reift, sondern wir beobachten einen Reifegrad in Organisationen. Geeignete Kanban-Praktiken werden dann auf den Reifegrad der Organisation abgestimmt.

Das KMM bildet einen Leitfaden, einen Fahrplan fĂŒr Berater, Coaches oder Manager mittlerer und großer Unternehmen, die ihr Unternehmen umgestalten und verbessern wollen. Es stellt sieben Stufen der organisatorischen Reife anhand der sechs allgemeinen Kanban-Praktiken dar, um eine angemessene Anwendung dieser Praktiken und eine erfolgreiche Umsetzung des Ansatzes zu gewĂ€hrleisten.

Die Entstehung des KMM basiert auf den beiden zuvor erwĂ€hnten möglichen Fehlerursachen. Ermöglicht wurde das Modell durch die Sammlung von Fallstudien innerhalb von 10 bis 15 Jahren und die Erfahrung in der Arbeit mit Unternehmen. Gemeinsam mit Teodora Bozheva beobachteten wir eine Korrelation zwischen Erfolgs- und Misserfolgsmustern und den beobachtbaren Reifegraden von Organisationen. Wir erkannten, dass es einen Bedarf an Leitlinien fĂŒr die Auswahl geeigneter Kanban-Praktiken und die Förderung evolutionĂ€rer VerĂ€nderungen gab. Zu viele Berater und Coaches sowie Unternehmenssponsoren wollen schnell und hart durchgreifen und revolutionĂ€re VerĂ€nderungen einfĂŒhren – "too much, too soon" fĂŒhrt oft zum Scheitern. Das KMM soll dabei helfen, den aktuellen Reifegrad eines Unternehmens zu ermitteln und herauszufinden, was der nĂ€chste Schritt zur Weiterentwicklung sein sollte.

Heise prÀsentiert: Kanban Day 2022
Kanban Day 2022

(Bild: Kanban Day am 22. Februar 2022 [1])

Kanban ist mehr als Projektmanagement – das zeigt der von Heise und dpunkt.verlag ausgerichtete erste Kanban Day am 22. Februar 2022 [2], der einen Schwerpunkt auf Kanban als Managementmethode legt. In der Online-Konferenz teilen Expertinnen und Experten ihr Wissen darĂŒber, wie Kanban sich gewinnbringend in Unternehmen einsetzen lĂ€sst. Wer Kanban effektiv einsetzen will, ist bei der Online-Konferenz genau richtig.

Aus dem Programm [3]

  • Das Schweizer Messer zur Unternehmensverbesserung
  • Yes, we Kanban: Warum Kanban gerade fĂŒr Teams wichtig bleibt
  • Portfolio Kanban – das große Ganze sehen
  • Flow in der Strategiefindung
  • Leadership auf allen Ebenen
  • Navi fĂŒr ihren Change – das Kanban Maturity Model
  • Lernen im System: Kanban-Metriken in der Praxis

Flankierender Workshop

heise Developer: Mit welcher Frage zur Implementierung von Kanban werden Sie bei Ihrer tÀglichen Arbeit am hÀufigsten konfrontiert?

Anderson: Womit sich die meisten Menschen schwer tun, ist die korrekte Identifizierung von Work Item Types – was ist die abstrakte Bedeutung eines Tickets auf einem Board? Als Hilfestellung fordere ich die SchĂŒler auf, die Typen von Work Items zu identifizieren, die sie in einem CafĂ© vorfinden könnten: Espresso-GetrĂ€nke, Filterkaffee, Tees, Backwaren, herzhafte Speisen, die erhitzt oder getoastet werden mĂŒssen, und so weiter. Wir versuchen auch, die am hĂ€ufigsten gestellten Fragen in Blogartikeln auf unseren Websites zu beantworten. Einer unserer Artikel kann dabei helfen [5], das Konzept der Classes of Service besser zu verstehen.

David J Anderson

David J Anderson ist ein bekannter Kanban-Experte und -Theoretiker sowie CEO des Schulungsunternehmens David J Anderson School of Management [6]. Im Laufe seiner langen Karriere im IT-Bereich arbeitete er zunĂ€chst bei IBM, Sprint, Motorola und Microsoft, bevor er im Jahr 2008 seine eigene Firma grĂŒndete. Er ist der Pionier der Kanban-Methode, des Fit-for-Purpose Frameworks und Enterprise Services Planning und Autor erfolgreicher FachbĂŒcher wie "Die Essenz von Kanban – kompakt", "Kanban: EvolutionĂ€res Change Management fĂŒr IT-Organisationen" und "Fit for Purpose: Wie Unternehmen Kunden finden, zufriedenstellen und binden".

Die am hĂ€ufigsten gestellte Frage lautet: "Kann ein Ticket auf dem Board rĂŒckwĂ€rts bewegt werden?" Die Antwort darauf ist: "Ja, aber es kommt darauf an." Organisationen mit hohem Reifegrad wĂŒrden Tickets nicht rĂŒckwĂ€rts wandern lassen, sondern sie wĂŒrden einen "Stop-the-Line"-Ansatz (andon) verfolgen, Ă€hnlich dem, den wir bei Toyota sehen. Toyota ist jedoch ein Unternehmen der Reifegradstufe 5 und hat die Reife, das Band zu stoppen. FĂŒr viele unserer Kunden ist es richtig, die Tickets rĂŒckwĂ€rts zu verschieben. Dazu finden sich auf unserer Website weitere Informationen [7].

heise Developer: In welche Richtung wird sich Kanban Ihrer Meinung nach in Zukunft entwickeln?

Anderson: Wir beobachten, dass die Kanban-Methode in vielen Bereichen der Dienstleistung und der immateriellen GĂŒter angewandt wird: Architekten, Anwaltskanzleien, Buchhaltungsabteilungen, Werbeagenturen, Marktforschungsunternehmen, Erdölexploration und Geophysik, pharmazeutische Forschung, Fernseh- und Medienproduktion und Personalwesen, um nur einige zu nennen. Unsere Herausforderung besteht darin, die Fachsprache zu entfernen und die Methode einem möglichst breiten Publikum zugĂ€nglich zu machen. So haben wir mit unserem Partner Lilian Mateu begonnen, Schulungsangebote fĂŒr vertikale MĂ€rkte zu entwickeln, zum Beispiel Kanban fĂŒr Juristen.

heise Developer: Können Sie weitere Details zu Ihren aktuellen Projekten nennen?

Anderson: NatĂŒrlich hat die Corona-Pandemie unser GeschĂ€ft verĂ€ndert und es hat sich ins Internet verlagert. Das hat uns viele neue Möglichkeiten eröffnet, und die Kombination von Online-Plattformen wie KMM Plus mit Online-Schulungen wird in den kommenden Jahren ein wichtiger Schwerpunkt fĂŒr uns sein. Diese Plattform haben wir bei meiner Unternehmensgruppe, Mauvius Group, ins Leben gerufen. Sie war ursprĂŒnglich als Lernplattform mit der Idee eines Online-Buchs konzipiert, um Menschen aus aller Welt Zugang zu den neuesten, stĂ€ndig aktualisierten KMM-Buchinhalten zu bieten – ohne Versand oder Wartezeit direkt auf den Laptop. Da wir aber viele Möglichkeiten fĂŒr die Lernplattform gesehen haben, haben wir sie zu einer kompletten Plattform mit gemappten Inhalten inklusive Suchfunktion und Videos weiterentwickelt, die die Konzepte erklĂ€ren. Sie richtet sich an drei Zielgruppen: erstens Kanban-Expertinnen und -Experten, zweitens Trainer und drittens Coaches beziehungsweise Berater.

Was das Training betrifft, so sehen wir eine Nachfrage nach unserem Material fĂŒr UnternehmensfĂŒhrung und Produktmanagement. Unsere zwei neuen Kurse an der David J Anderson School of Management – Kanban Product Professional und Kanban Leadership Professional – können alternative Lernpfade bieten, die man einschlagen kann, nachdem man ein Kanban Management Professional geworden ist. Sie sind fĂŒr diejenigen gedacht, die ihr Wissen mehr in den Produktbereich vertiefen wollen, um ihre Kunden besser zu verstehen, oder mehr in die FĂŒhrungsaspekte.

heise Developer: Herr Anderson, wir danken fĂŒr das GesprĂ€ch!

Das Interview fĂŒhrte Maika Möbus, Redakteurin bei heise Developer.

(mai [8])


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[1] https://kanban.inside-agile.de/
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[3] https://kanban.inside-agile.de/#programm
[4] https://kanban.inside-agile.de/veranstaltung-13787-se-0-flight-levels-einfuehrung.html
[5] https://mauvisoft.com/2020/12/07/better-prioritization-sequencing-classes-of-service-explained/
[6] https://djaa.com/
[7] https://djaa.com/kanban-evergreen-dont-move-items-backward-on-the-kanban-board/
[8] mailto:mai@heise.de