Algorithmen: Der hartnäckige Mythos vom berechenbaren Menschen

Der Glaube des Silicon Valleys, dass es die Gesellschaft optimieren kann, reicht weit zurück – und ist in den 1960ern schon einmal gescheitert.

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US-Präsident John F. Kennedy, hier bei seiner Rede an der Rice University, Houston, 1962. Schon seinen Wahlkampf wollten die Demokraten mittels Datenanalyse vorhersagen.

(Bild: Unsplash, History in HD)

Lesezeit: 9 Min.
Von
  • Christine Rosen
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Wer für die Bank of America oder die US-Armee arbeitet, hat möglicherweise bereits eine Software von Humanyze benutzt. Das Unternehmen ist aus dem MIT Media Lab hervorgegangen und beschreibt seine Produkte als „wissenschaftsgestützte Analytik zur Förderung der Anpassungsfähigkeit“. Wenn das vage klingt, könnte das Absicht sein. Humanyze verkauft unter anderem Geräte zum Ausspionieren von Mitarbeitern, zum Beispiel NFC-Sensoren, Ausweise mit RFID-Tags oder Mikrofone, die Ton und Lautstärke (aber nicht die eigentlichen Worte) von Gesprächen aufzeichnen.

Oder arbeiten Sie im Gesundheitswesen, im Einzelhandel oder in der Finanzbranche? Dort nutzen Unternehmen die Software von Receptiviti. Das in Toronto ansässige Unternehmen will „Maschinen dabei helfen, Menschen zu verstehen“, indem sie Mails und Slack-Messages nach sprachlichen Hinweisen auf Unzufriedenheit durchsuchen. „Wir machen uns Sorgen über unsere Wahrnehmung als Big Brother“, sagte der CEO von Receptiviti kürzlich zum „Wall Street Journal“. Er zieht es vor, die Überwachung der Mitarbeiter als „Achtsamkeit des Unternehmens“ zu bezeichnen. (Orwell hätte zu diesem Euphemismus sicherlich auch etwas zu sagen gehabt.)

Solche „People Analytics“ werden meist mit der Verbesserung von Effizienz oder Kundenerlebnis gerechtfertigt. Einige Regierungen und Gesundheitsexperten erhoffen sich von Tracking-Anwendungen auch, die Verbreitung von Covid-19 zu stoppen. Dabei vermeiden Unternehmen und Regierungen jedoch oft entscheidende Fragen: Wer sollte was wissen? Sind die Informationen korrekt? Was ist damit anzufangen? Und wird es jemals eine zuverlässige Formel für menschliches Verhalten geben?