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Argumente statt Offenbarungen

Tobias Hürter

Der Dialog zwischen Kirche und Forschungswelt könnte jetzt eine neue Qualität bekommen.

"Nun scheint mir offenkundig, dass die Wissenschaft als solche Ethos nicht hervorbringen kann. Andererseits ist doch auch unbestreitbar, dass die grundlegende Veränderung des Welt- und Menschenbildes, die sich aus den wachsenden wissenschaftlichen Erkenntnissen ergeben hat, wesentlich am Zerbrechen alter moralischer Gewissheiten beteiligt ist. Insofern gibt es nun doch eine Verantwortung der Wissenschaft um den Menschen als Menschen, und besonders eine Verantwortung der Philosophie, die Entwicklung der einzelnen Wissenschaften kritisch zu begleiten."

Joseph Ratzinger am 19. Januar 2004 in München Als nach der Wahl des neuen Stellvertreters Gottes auf Erden die niedliche Freude über "Papa Ratzi" verflog, machte sich in Deutschland offene Besorgnis breit. Manch einer, der Ratzinger als Reaktionär kannte, sah die katholische Kirche im Rückschritt in die dogmatische Enge. Die Regentschaft Benedikts XVI. werde die Säkularisierung Europas weiter treiben, prophezeite "Die Zeit".

Besonders dort, wo man sich auf dem Kontinent der Aufklärung am kompetentesten fühlt, in der Naturwissenschaft, fürchtet man neuen Ärger - schließlich gehört der Gegensatz zwischen Kosmologie, Evolutionstheorie, Fortpflanzungsmedizin und Biotechnologie einerseits, christlicher Schöpfungslehre und Moral andererseits zu Ratzingers Lieblingsthemen. "Der Spiegel" sieht den Papst schon gegen die "Tempelsäulen der Moderne", Technik und Wissenschaft, anrennen, und der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" schwant eine "neue Qualität der Konfrontation zwischen Kirche und Wissenschaft".

Diese Aussichten sind nicht so düster, wie sie auf den ersten Schreck scheinen. "Neue Qualität" hat der Dialog zwischen katholischer Kirche und der Wissenschaftswelt nach der Ära Wojtyla wahrlich nötig. Und "Konfrontation" kann fruchtbar sein, wenn beide Seiten sie fair führen.

Sicherlich ist Joseph Ratzinger nicht weniger konservativ als sein Amtsvorgänger. Aber er brilliert mit Scharfsinn, wo Karol Wojtyla sein Charisma spielen ließ. Er spricht - jedenfalls meistens - in Argumenten statt in Offenbarungen. Mit Naturforschern und aufgeklärten Intellektuellen sucht Ratzinger seit langem aktiv den Dialog. Er spricht gern von der "notwendigen Korrelationalität von Vernunft und Glaube, die sich gegenseitig brauchen und das gegenseitig anerkennen müssen".

Das ist ein eindeutiges Gesprächsangebot. Wer es annehmen will, muss sich ein Stück weit auf Ratzingers rationalistisches Verständnis seiner Religion einlassen. Für ihn spendet der christliche Glaube nicht nur Trost und Lebenshilfe, er liefert handfeste Erkenntnis. Von Kirchenvater Augustinus von Hippo (über den er einst promovierte) hat Ratzinger gelernt, dass ein Christ seinen Gott nicht durch mythische Ahnungen erkenne, sondern durch "vernünftige Analyse der Wirklichkeit".

Deshalb sieht er keinen Gegensatz zwischen Glauben und aufklärerischem Denken, sondern eine Symbiose: Die christliche Theologie ist religiongewordene Aufklärung. So kommt Ratzinger dazu, das Christentum einerseits als einzig wahre Religion zu sehen, andererseits als natürlichen Kooperationspartner der Naturwissenschaft, der anderen großen Quelle rationaler Erkenntnis: "Der Wissenschaft geht es um das Funktionieren der Dinge. Im Glauben geht es darum, wozu eigentlich dies Ganze da ist." Nach Ratzingers Verständnis entstehen die "Pathologien" dieser Arbeitsteilung, wenn einer der beiden Partner sich absolut über den anderen erhebt.

Die Darwin'sche Evolutionslehre etwa gerate erst dann in Konflikt mit dem christlichen Schöpfungsgedanken, wenn man sie als "erste Philosophie", als Universallehre versteht. "Die Versuchung, nun erst den rechten Menschen zu konstruieren, die Versuchung, Menschen als Müll anzusehen, ist kein Hirngespinst fortschrittsfeindlicher Moralisten", malt Ratzinger die Konsequenzen aus. Auf dem Podium der Katholischen Akademie in München im Januar 2004 unterzog Ratzinger seine Dialogfähigkeit einem erfolgreichen Praxistest. Er lieferte sich einen fulminanten Redewettstreit mit dem Frankfurter Soziologen und Philosophen Jürgen Habermas über Glaube, Gemeinsinn und Rationalität. Ratzinger blieb souverän, selbst als es mitten ins Habermas'sche Terrain ging. Ihm schien sogar fast so etwas wie eine Teilbekehrung Habermas' zu gelingen: Die "Modernisierung des öffentlichen Bewusstseins" in der "postsäkularen Gesellschaft" müsse nicht zuletzt "religiöse Mentalitäten erfassen", gestand Habermas zu.

Umgekehrt beteuerte auch Ratzinger seinen Lernwillen. Auch die Religion habe ihre "Pathologien", sagte er in München, "die höchst gefährlich sind und die es nötig machen, das göttliche Licht der Vernunft sozusagen als ein Kontrollorgan anzusehen, von dem her sich die Religion immer wieder neu reinigen und ordnen lassen muss."

Das gelehrte Zwiegespräch in München hatte ein großes Vorbild: Im 18. Jahrhundert begriff Großinquisitor Prosper Lambertini, dass die Kirche ihre Machtstellung nicht mehr mit bloßer Gewalt sichern kann. In der Epoche der Aufklärung wirkten Argumente besser als Schwerter. Lambertini begann einen Briefwechsel mit dem Philosophen Voltaire. Die beiden schrieben sich weiter, als Lambertini zu Papst Benedikt XIV. gewählt wurde - und unerhörte Toleranz an den Tag legte. Er hob sogar den Bann gegen die heliozentrische Lehre des Nikolaus Kopernikus auf.

Ratzinger hat sich den gleichen Papstnamen gegeben, und wie Lambertini damals sieht er seine Kirche heute an einem Wendepunkt: "Das Christentum befindet sich gerade im Raum seiner ursprünglichen Ausdehnung, in Europa, in einer tief greifenden Krise, die auf der Krise seines Wahrheitsanspruchs beruht." Es wäre zu hoffen, dass er dieser Krise wie der Modernisierer Lambertini mit einer Entdogmatisierung der Kirche begegnet.

Leider hat Ratzinger in letzter Zeit auch Anhaltspunkte dafür geliefert, das Gegenteil zu befürchten. Wenn es um Macht geht, vergisst er mitunter seine Grundsätze. So hielt er es im Juni 2004 für nötig, zu Gunsten von George W. Bush in den US-Präsidentschaftswahlkampf einzugreifen. Das Onlinemagazin Salon. com zitiert aus einem Rundschreiben Ratzingers an die amerikanischen Bischöfe, in dem Ratzinger vor einem gewissen "katholischen Politiker" warnt, der für "freizügige Abtreibungs- und Euthanasiegesetze wirbt und stimmt" - womit er niemand anderen als John Kerry meinte. Solch ein Politiker begehe eine "schwere Sünde", deshalb müsse ihm die Kommunion verweigert werden, ebenso jenen, die mit ihm zusammenarbeiten.

Solch mittelalterliche Antworten auf Fragen des 21. Jahrhunderts passen nicht recht zum aufgeklärten Selbstverständnis Ratzingers. Wobei man nicht vergessen darf, dass Ratzinger damals als Präfekt der Glaubenskongregation, der Nachfolgeorganisation der Inquisition, quasi von Amts wegen zum Hardliner verdammt war. Es war seine Aufgabe, den Klerus auf Linie zu halten. In Sachen Abtreibung etwa ließ er durch akribische Gutachten das Kirchendogma untermauern, dass der Mensch bereits bei der Empfängnis seine unsterbliche Seele erhält. Schon die Scholastiker waren weiter: Thomas von Aquin verlegte die Beseelung in spätere Stadien der Embryonalentwicklung.

Sein Amts- und Namensvorgänger Prosper Lambertini alias Benedikt XIV. hat Ratzinger vorgemacht, dass sich auch ein Großinquisitor Toleranz beibringen kann, wenn die Umstände es gebieten. Heute, in Zeiten des Utilitarismus, der Stammzellforschung und der Quantenkosmologie droht der christlichen Moral und Schöpfungslehre die Marginalisierung, wenn sie im Dogmatismus erstarren. Wenn sie sich erneuern, winkt ihnen eine wichtige Lotsenfunktion. Nun hat Benedikt XVI. die Wahl. (wst [1])


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