Atomkraft: Die letzten ihrer Art

Im Herbst 2019 dürfte das finnische Kernkraftwerk Olkiluoto 3 endlich ans Netz gehen. Seine Technologie sollte eine Renaissance der Kernkraft einleiten. Stattdessen wird sie zu ihrem Sargnagel – und zwar nicht nur in Europa.

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Atomkraftwerk

Ein Atomkraftwerk – hier in den USA.

(Bild: Peretzp CC BY-SA 3.0)

Lesezeit: 5 Min.
Von
  • Jan Oliver Löfken
  • Peter Fairley

Zum Start gibt es schon das erste Jubiläum: Zehn Jahre ist es her, dass das größte und modernste Kernkraftwerk Europas ans Netz gehen sollte. Im September 2019 wird es für Olkiluoto 3 an der Westküste Finnlands nun tatsächlich so weit sein – wenn man nach all der Verzögerung dem jetzigen Zeitplan glaubt. Der "reguläre Betrieb" soll dann im Januar 2020 starten. Mit 1600 Megawatt Leistung soll der "Europäische Druckwasserreaktor" (EPR) gut ein Zehntel des finnischen Strombedarfs von etwa 80000 Gigawattstunden pro Jahr decken. Für die Klimaziele Finnlands spielt der EPR eine zentrale Rolle, zumal das Land bis 2029 komplett aus der Kohleverstromung aussteigen will.

Und doch: Was den Aufbruch in ein neues Zeitalter der Atomenergie einläuten sollte, entwickelte sich in Wahrheit zu ihrem Sargnagel. Statt vier Jahren betrug die Bauzeit 14 Jahre, statt 3,2 Milliarden Euro liegen die Kosten nun bei geschätzten neun Milliarden. Siemens stieg als einer der Projektpartner 2011 aus der Kernenergie aus, der zweite Partner Areva wäre fast daran pleitegegangen. Seit Jahren liefert er sich mit der Betreibergesellschaft TVO einen Rechtsstreit vor der Internationalen Handelskammer in Paris über die Kostenexplosion.

Eine wichtige Ursache für diese Entwicklung ist ausgerechnet jenes Bauelement, das den EPR sicherer machen sollte als alle anderen Reaktortypen: die Betonstruktur unter dem Reaktordruckbehälter. Sie soll im Fall einer Kernschmelze den geschmolzenen Reaktorkern wie eine Schüssel auffangen.

"Der Core-Catcher ist das zentrale Element, um bei einem schweren Störfall die Belastung für die Umgebung auf null zu halten", sagt Thomas Walter Tromm, Experte für Kernenergie und Sicherheit am Karlsruher Institut für Technologie. "Aber es ist eine enorme Herausforderung, für so lange Zeit die Sicherheit zu garantieren." Bei Olkiluoto bekam man die nötige Betonqualität für das Fundament lange nicht in den Griff.

Bei dem EPR-Schwesterreaktor gleicher Bauart, der seit 2007 im Flamanville in der Normandie entsteht, sieht es kaum besser aus. Auch er ist acht Jahre in Verzug. Geht er tatsächlich wie geplant 2020 ans Netz, wird er 10,9 Milliarden statt der anfangs angepeilten 3,3 Milliarden Euro gekostet haben. Man kann sich ausmalen, was das für das britische EPR-Projekt in Hinkley Point an der Südwestküste Englands bedeutet. Dort soll 2019 der Bau des nuklearen Teils von zwei Reaktoren beginnen. Die Fertigstellung wird für 2025 erwartet, mit derzeit auf 23,2 Milliarden Euro taxierten Kosten.

Verzögerungen und Kostenexplosionen schüren berechtigte Zweifel, ob der EPR jemals wirtschaftlich Strom erzeugen wird. Acht Cent pro Kilowattstunde im Volllastbetrieb wären möglich – aber Tromm zufolge nur, wenn die Betriebsdauer 60 Jahre beträgt. Selbst dann liegt der EPR-Strom bestenfalls gleichauf mit den Energiekosten aus großen Offshore-Windkraftanlagen. Im direkten Vergleich mit aktuellen Preisen an der Strombörse steht die Wirtschaftlichkeit auf Messers Schneide.

Denn die schwanken meist zwischen fünf und sieben Cent pro Kilowattstunde und schnellen nur für kurze Zeiten mal auf zehn Cent hoch. Aber auch unabhängig vom Strompreis sind solche Großanlagen kaum etwas für Staaten, die ihr Stromsystem an dezentral erzeugten Wind- und Solarstrom anpassen. "Hier sinkt mit dem Ausbau der fluktuierenden Stromerzeugung aus den Erneuerbaren der Bedarf an einer hohen Grundlast", sagt Tromm.

Sogar China, lange Ort der nuklearen Renaissance, scheint die Lust an der Technik zu verlieren. Das Land verfügt über die Kapazität, jährlich zehn bis zwölf Kernreaktoren zu bauen. Aber seit Ende 2016 hat China keine neuen Anlagen mehr begonnen, so der jüngste World Nuclear Industry Status Report. Denn auch wenn die Kernkraft offiziell noch immer als ein Muss gilt, inoffiziell steht die Technologie unter kritischer Beobachtung. Die Öffentlichkeit will sie nicht. Vor allem aber ist sie mit den zusätzlichen Sicherheitsvorkehrungen nach dem Fukushima-Desaster zu teuer.

Die Kosten für Wind- und Sonnenenergie sind mittlerweile 20 Prozent billiger als Strom aus neuen Kernkraftwerken in China, so der Analysedienst Bloomberg New Energy Finance. "Sehr teuer" sei die Kernkraft, meint auch Wenke Han, ehemaliger Leiter des Energy Research Institute bei der mächtigen National Development and Reform Commission, die die chinesische Wirtschaft plant. "Die Kernenergie in China wird in Zukunft sicherlich stärkerem Wettbewerb ausgesetzt sein." Er wettet: Sobald das Land die 88 Gigawatt nukleare Kapazität errichtet hat, die für 2020 im Plan stehen, wird es zu anderen Energiequellen übergehen.

(bsc)