Bewusstsein beim Sterben: Wie das Gehirn ein letztes Mal aktiv wird

In einer Studie beobachteten Forscher eine starke Aktivierung von Gammawellen, die auf eine Art inneres Bewusstsein hinweisen könnten.

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(Bild: agsandrew / Shutterstock.com)

Lesezeit: 5 Min.
Von
  • Veronika Szentpetery-Kessler
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Was passiert im Gehirn, wenn wir sterben, nachdem unser Herz stehengeblieben ist und der Sauerstoffmangel einsetzt? Lange haben Wissenschaftler angenommen, dass das Denkorgan dann kaum noch funktioniert. Eine kleine retrospektive Pilotstudie lieferte kürzlich jedoch Hinweise darauf, dass es bei Sterbenden über verschiedene Gehirnbereiche hinweg noch mal zu einer kurzen, aber starken Gehirnwellen-Aktivierung im Gamma-Frequenzband kommen kann. Parallel zu dieser plötzlichen Gehirnaktivität schlug ihr Herz schneller.

Das haben Forscher um Jimo Borjigin von der University of Michigan School of Medicine bei zwei von vier Patienten auf einer Intensivstation beobachtet. Ihre Ergebnisse haben sie im Fachjournal "PNAS" (Proceedings of the National Academy of Sciences) veröffentlicht. Ein Gammawellen-Aktivitätsanstieg gilt als potenzieller Biomarker von einer Art innerem Bewusstsein. Die drei benachbarten hinteren Gehirngebiete, in denen er auftrat, gelten als eine Art "Hot Zone", die mit dem Träumen, mit visuellen Halluzinationen bei Epilepsie und mit anderen veränderten Bewusstseinszuständen in Verbindung gebracht wird.

Die vier Patienten befanden sich nach einem Herzinfarkt auf der Intensivstation im Koma. Weil es in solchen Fällen zu epileptischen Anfällen kommen kann, wurden ihre Gehirnwellen zur frühen Erkennung und medikamentösen Behandlung per Elektroenzephalografie (EEG) überwacht. Dazu wurde auch ihre Herzschlagrate beobachtet. In allen vier Fällen hatten die Familien wegen der schlechten Gesundheitsprognosen dann entschieden, die künstliche Beatmung abzuschalten und bei einem auch den Herzschrittmacher.

"Wir wissen überraschend wenig darüber, was beim Sterben passiert", sagt Borjigin. Klar ist nur, dass bei einem Herzstillstand das nach außen gerichtete Bewusstsein verloren geht. Ob man in diesen Momenten aber ein nach innen gerichtetes, verdecktes Bewusstsein haben kann, sei unbekannt, schreiben die Forscher. Ebenso unklar sei, welche Gehirnprozesse die verschiedenen Nahtod-Erlebnisse erklären könnten, von einem sehr hellen Licht bis hin zu dem Gefühl, seinen Körper verlassen zu haben, von denen bis zu 20 Prozent von Herzinfarkt-Überlebenden berichteten. Diese Fragen haben Borjigins Forschung mitmotiviert.

"Lange dachten alle, das Gehirn ist dem Herz ausgeliefert und verhält sich beim Herzstillstand wie ein stiller Zuschauer, nachdem das Herz stehen bleibt", sagt Borjigin. "Unsere Studie zeigt, dass potenziell das Gegenteil der Fall ist. Das Gehirn ist super aktiviert, als ob es noch mal innerlich aufgeweckt wird", führt die Forscherin aus. Als würde es spüren, dass gerade etwas Lebensbedrohliches passiert.

Noch sei unklar, was das bedeutet und "warum man [in diesem Moment] subjektives Bewusstsein oder subjektive Wahrnehmung braucht". Die Forscherin fragt sich, ob es sich um eine extremere Form jenes Prozesses handeln könnte, wenn man nachts vom Gehirn aufgeweckt wird, weil man durch eine Schlafapnoe Atemaussetzer bekommen hat: "Ist dieser Gamma-Anstieg ein Versuch des Gehirns sicherzustellen, dass man diese Tortur überlebt?"

Möglicherweise reagiere das Gehirn auch auf den Sauerstoffmangel beim Sterben, wenn es zuvor durch Krampfanfälle, bei denen die Atmung aussetzen kann, traumatisiert wurde. Es könnte sich also um eine Art posttraumatische Stressreaktion handeln. Die Gammawellen-Aktivierung trat bei jenen beiden Patienten auf, die zuvor schon mal Anfälle gehabt hatten. Diese seien aber nicht in den letzten 24 Stunden vor ihrem Tod passiert.

Bei den beiden anderen Patienten kam es weder zum starken Gamma-Anstieg, noch zu einem beschleunigten Herzschlag, nachdem ihre Beatmungsgeräte entfernt wurden. In einem Fall zeigte das EEG Muster aus kurzen Aktivitätsaufschwüngen (Bursts) mit Pausen (Supression) dazwischen, was eine schlechte Prognose bedeutet. Bei der zweiten Patientin lag das Ausbleiben des Herzratenanstiegs vermutlich daran, dass sie ein Spenderherz besaß.

Verpflanzte Herzen können nicht wieder vollständig an das autonome Nervensystem angeschlossen werden, das bei Anstrengung oder Stress die Schlagrate erhöht. Weil diese auch vegetativ oder unwillkürlich genannte Nervensteuerung eine Rolle bei der Gamma-Aktivierung spielen könnte, wie Borjigin vermutet, könnte das die fehlende Gamma-Aktivierung bei diesen beiden Patienten erklären.

Borjigin ist klar, dass diese Ergebnisse aufgrund der kleinen Patientenzahl noch sehr vorläufig sind und nicht verraten können, was die Patienten beim Sterben wahrgenommen haben. Um im Detail zu verstehen, warum das Gehirn beim Sterben erhöhte Gamma-Aktivität zeigt und was das bedeuten könnte, seien weitere Studien mit mehr Patienten nötig. Borjigins Team hat bereits einen Förderantrag für die Datenauswertung von mehreren Dutzend Patienten gestellt.

Die aktuelle Untersuchung bestätigte frühere Tierversuch-Ergebnisse Borjigins mit Ratten. Bereits 2013 und 2015 hatte sie ebenfalls im Fachjournal PNAS publiziert, dass das Gehirn der Nager auch eine starke Gammawellen-Aktivierung zeigt, sobald die Forscher ihnen – unter Anästhesie – eine Kaliumchlorid-Injektion in das Organ geben oder sie Kohlendioxid einatmen ließ. Ersteres stoppt das Herz, das Zweite löst einen körperweiten Sauerstoffmangel aus.

(vsz)