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Börse auf Speed

Bryant Urstadt

Zeitenwende an der Börse: Frankfurt schafft bis 2012 den Parketthandel ab, weil immer mehr Aktien automatisiert gehandelt werden - weltweit und in blitzartiger Geschwindigkeit. Kleine Fehler in diesem System könnten sich zur nächsten Finanzkatastrophe auswachsen.

Zeitenwende an der Börse: Frankfurt schafft bis 2012 den Parketthandel ab, weil immer mehr Aktien automatisiert gehandelt werden – weltweit und in blitzartiger Geschwindigkeit. Kleine Fehler in diesem System könnten sich zur nächsten Finanzkatastrophe auswachsen.

Für einen Mann, der möglicherweise gerade dabei ist, die internationalen Finanzmärkte zu destabilisieren, macht Manoj Narang einen recht entspannten Eindruck: Mit Ziegenbärtchen und Nickelbrille, gekleidet in ein blaues Shirt und einen dunkelgrauen Pulli, sitzt er leger auf seinem Drehstuhl. Gerade hat er 15 Millionen Aktien im Gesamtwert von 600 Millionen Dollar gekauft und verkauft. Solche Umsätze sind für Narang nur der Start in einen ganz normalen Tag. Es ist Freitag, 12 Uhr, und er hat gerade erst angefangen.

Narang ist der Chef von Tradeworx, einer Hedgefonds- und Finanztechnologie-Firma, die sich auf den computergelenkten Aktienhandel spezialisiert hat. Das bedeutet, alle Entscheidungen werden von Rechnern getroffen. "Wir führen zwei Betriebe", erklärt Narang. "Der erste kauft und verkauft Anteile in etwa einer Sekunde und hält sie im Schnitt zwei oder drei Tage fest – das ist der mittelschnelle Fonds. Der Hochgeschwindigkeitsfonds könnte jede Sekunde Tausende Transaktionen durchführen, mit einer Verweildauer von wenigen Minuten."

Am Ende des Tages werden die Computer 60 bis 80 Millionen Aktien gehandelt haben – die meisten davon in der letzten Handelsstunde von drei bis vier Uhr nachmittags. Tradeworx und andere Firmen liefern sich dann ein Wettrennen um winzige Preisunterschiede. Den größten Gewinn macht das Unternehmen mit der schnellsten Hardware und den besten Algorithmen. Narang schätzt, dass er sich mit seinem Volumen im Mittelfeld der besten 50 Trader bewegt. Wenn alles gut geht, liegt am Feierabend sein Aktienbestand bei null. Am nächsten Tag beginnt das Spiel dann wieder von vorn.

Vor fünf Jahren hat der automatisierte Börsenhandel gerade mal 30 Prozent des Marktes ausgemacht. Heute schätzt die Tabb Group, eine Beratungsgesellschaft aus Westborough im US-Bundesstaat Massachusetts, den Anteil der Computerdeals an den insgesamt über zehn Milliarden Aktien, die täglich an den verschiedenen Börsenplätzen des US-Markts gehandelt werden, auf rund 60 Prozent. Die Gewinne aus High-Frequency-Geschäften allein in den ersten drei Quartalen des vergangenen Jahres beziffert Tabb auf mindestens acht Milliarden US-Dollar. Die Explosion des automatisierten Handels geht einher mit einer massiven technischen Aufrüstung. Der Hedgefonds Renaissance Technologies aus East Setauket im US-Bundesstaat New York etwa prahlt, seine Rechenleistung entspräche der des Lawrence Livermore National Laboratory, dem Standort des größten und schnellsten Rechners der Welt.

Das Parkett der US-Börsen ist ruhig geworden, die Aktivitäten haben sich zu stillen Serverparks verlagert, verstreut in den gesamten USA. Das Tradeworx-Büro in Red Bank/New Jersey liegt etwa eine Fahrstunde außerhalb von Manhattan und ist doch ein gefühltes Lichtjahr von der Wall Street entfernt – man kann sich kaum einen ruhigeren Ort vorstellen. Etwa ein Dutzend Angestellte, die meisten mit Abschlüssen hochkarätiger Universitäten in Naturwissenschaft, Mathematik oder Ingenieurswissenschaften, arbeiten größtenteils schweigend.

In Manoj Narangs Büro sind die Vorhänge zugezogen, damit der große Monitor besser zu sehen ist. Das Display zeigt keine laufenden Börsenticker, keine blinkenden Aktualisierungen des Dow-Jones-Index, denn Narangs Strategie ist "marktneutral": Wenn sie funktioniert, und das tut sie meistens, dann verdient er Geld, egal in welche Richtung sich der Markt bewegt – die Gewinne sind unabhängig von steigenden oder fallenden Kursen. Auf der Wand gegenüber des Fensters hängt eine Weißwand-tafel mit dem typischen Gekritzel von Softwareentwicklern: ein buntes Flussdiagramm, ein paar Variablen und gelegentlich mit Kästchen umrandete Zahlen, mit den Worten Kaufen oder Verkaufen. Auf dem Monitor ist dagegen nur eine einzige große Zahl in einem Kasten zu sehen, die laufend aktualisiert wird. Sie steigt und fällt, aber meistens steigt sie: der aktuelle Tagesgewinn von Tradeworx.

Wie der Hochgeschwindigkeitshandel funktioniert und was er für Auswirkungen haben kann, haben Joseph Saluzzi und Sal Arnuk, Mitgründer der in New Jersey angesiedelten Brokerfirma Themis Trading, in einem Aufsatz 2008 gezeigt: Angenommen, ein Investmentfonds gibt einen Kaufauftrag an seinen Broker und lässt dessen Computer zunächst den aktuellen Marktwert von 20,00 US-Dollar pro Aktie bieten. Der Broker soll aber auch noch etwas teurere Aktien kaufen – bis zum Preis von 20,03 Dollar. Wie weit der Käufer darüber hinauszugehen bereit ist, weiß erst einmal nur er selbst – beziehungsweise sein Broker.

Saluzzi und Arnuk erklären nun, wie Highspeed-Händler einen "Raubtier-Algorithmus" nutzen können, um diese Grenze auszuloten: Sie fluten den Markt mit Verkaufsaufträgen, die im Sekundentakt ausgefertigt und genauso schnell wieder storniert werden, so lange, bis der Investmentfonds anbeißt. Dann kauft der Händler näher am gegenwärtigen Preis von 20 Dollar von einem anderen, langsameren Investor und verkauft gleich wieder an den Fonds zu 20,03 Dollar. Weil der Hochfrequenz-Händler einen Geschwindigkeitsvorteil hat, kann er all diese Schritte erledigt haben, bevor der langsamere Teilnehmer aufholen und beispielsweise Anteile zu 20,01 Dollar anbieten kann. In kürzester Zeit hat ein solcher Algorithmus also die Grenzen des Käufers ausgelotet, einen Auftrag geschnürt und wieder verkauft und dabei von jeder Aktie ein paar Cent für sich selbst abgezwackt.

Doch das High-Frequency-Trading ist nicht unumstritten. Kritiker klagen, dass Händler den Markt manipulieren, zu Lasten der kleinen Investoren, und im schlimmsten Fall eine neue globale Finanzkrise provozieren könnten. Jeder Trend, der sich als derart dominant herausstellt, müsse auf potenziell gefährliche Nebeneffekte untersucht werden, warnt beispielsweise Paul Wilmott, Gründer des Studiengangs Finanzmathematik an der Universität Oxford und Herausgeber einer Fachzeitschrift über das Finanzwesen. Wilmott, nach seiner Selbstauskunft "instinktiv ein kritischer Geist", der schon 2000 davor warnte, dass der Derivatehandel gefährlich instabil sei, sieht in diesem neuen Trend konkrete Gefahren. Die Dominanz des Algorithmenhandels und die steigende Geschwindigkeit der Geschäftsabwicklung könnten winzige Preisdifferenzen lawinenartig anwachsen und in rasanter Geschwindigkeit bergab gehen lassen – entweder weil die Maschinen zu schnell handeln, oder weil zu viele Fonds im gleichen Stil Handel treiben. "Das Potenzial ist vorhanden, um einen Crash recht schnell entstehen zu lassen", sagt er.

Bernhard Donefer, Hochschullehrer für Finanzinformatik am Baruch College New York, fürchtet, dass automatisierte Hochfrequenzgeschäfte zu einer etwas kleineren Version des Börsenabsturzes von 1987 führen könnten, als der Markt an einem einzigen Tag um 22 Prozent einbrach. Viele führen diesen Crash von damals auf simple automatisierte Systeme zur "Portfolio-Absicherung" zurück, die an sich dazu gedacht sind, Verluste im Wertpapierhandel zu begrenzen, indem zu festgelegten Grenzwerten bei sinkenden Kursen automatisch Anteile verkauft werden. Aber die schiere Menge an Computern, die an diesem Tag nahezu gleichzeitig solche Verkaufsorder ausgaben, erzeugte eine sich selbst organisierende Massenflucht, die auch die dominanten Parketthändler zum Verkauf zwang. Donefer glaubt, dass ein derartiger Massenausverkauf heute um ein Vielfaches schneller eintreten würde.

Schlimmer noch: Die Lawine könnte genauso gut nicht nur durch falsche strategische Überlegungen ausgelöst werden, sondern durch ganz simples menschliches Versagen: Jemand könnte versehentlich den falschen Knopf einmal zu oft drücken – was Börsenmakler das "Fat Finger Syndrome" nennen – oder beim Programmieren einen Algorithmus verpfuschen. Die Aktienkurse von Corinthian Colleges, einer Verwaltungsfirma privater Bildungseinrichtungen, beispielsweise stürzten 2003 ins Bodenlose, als durch eine defekte Software oder menschliches Versagen ein Computer anfing, Anteile zu verkaufen, die sein Nutzer gar nicht besaß. Das System war auf den Verkauf der Anteile programmiert, wenn der ursprüngliche Kaufpreis erreicht würde, verkaufte dann die Anteile des Kunden – und hörte einfach nicht mehr auf. In zwölf Minuten waren fast drei Millionen Aktien verkauft, wobei der Preis von 57,50 bis auf 39,50 Dollar absackte. In einem High-Frequency-dominierten Markt könnte sich eine solche Störung binnen Sekunden weltweit ausbreiten.

Selbst einige Flash-Trader sind besorgt über das, was Donefer "Algorithmen außer Rand und Band" nennt. John Jacobs, Geschäftsführer der New Yorker Maklerfirma Lime Brokerage, äußerte 2009 gegenüber der US-Börsenaufsicht seine Bedenken über die zunehmende Praxis bei Börsenhändlern, für ihre Großkunden High-Frequency-Handel auszuführen, ohne deren Gewinnmargen zu validieren – sprich, ohne sich zu vergewissern, dass diese auch ausreichend Geld hätten, um das Geschäft zu decken.

Lime Brokerage bietet Hochgeschwindigkeits-Marktzugang und -Auftragsvergabe für Hedgefonds und andere Händler, die keine eigenen Server auf dem Börsenparkett platzieren wollen oder dürfen. Von seinem Arbeitsplatz aus sieht Jacobs regelmäßig, wie Algorithmen mehr als 1000 Order pro Sekunde abwickeln. Bei einem solchen Durchsatz würde ein Algorithmus, der in die falsche Richtung handelt, in zwei Minuten 120.000 Aufträge ausführen. Bei 1000 Aktien pro Order und einem durchschnittlichen Preis von 20 Dollar pro Aktie würde sich der unbeabsichtigte Handel in diesem Zeitraum bereits auf 2,4 Milliarden Dollar belaufen. In seinem Brief an die Securities and Exchange Commission benannte Jacobs ausdrücklich die "Möglichkeit handelsinduzierter, multipler Domino-Konkurse" und warnte, dass "ungehemmter computergenerierter Wertpapierhandel" das Potenzial habe, katastrophale wirtschaftliche Schäden im US-Markt anzurichten.

Trotz solcher Warnungen sind viele Praktiken, die mit automatisiertem Handel verbunden werden, schon längst Routine. Aufträge, die über Kundenkonten des US-Finanzmaklers Charles Schwab abgewickelt werden, bearbeitet mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Hochgeschwindigkeits-Algorithmus. Händler wie Fidelity, die große Aktienpakete für ihre Investmentfonds kaufen, nutzen Algorithmen, um ihre riesigen Bestellungen in Blocks von 100 bis 300 Aktien aufzuspalten, damit nicht andere Händler den gesamten Bedarf erkennen und dieses Wissen zu ihrem Vorteil ausnutzen können. High-Frequency-Hedgefonds wie Tradeworx arbeiten zwischen und um die institutionellen Anleger und Marktmacher herum – und in ihren Bemühungen, vom Vorhersagen der Manöver anderer zu profitieren, auch gegeneinander.

Manoj Narang von Tradeworx ist überzeugt, dass sein Geschäft zu Unrecht in einen so schlechten Ruf geraten ist. "Auf jeden Fall gibt es ein Risiko", räumt er ein. "Aber Fonds wie wir nehmen das alles auf uns. Kommt es zur Kernschmelze, wird das den Privatanleger nicht beeinträchtigen." Er wendet sich seinem Computer zu, ruft zwei Grafiken auf und legt beide übereinander. Die erste zeigt das launische Auf und Ab des S&P 500, des Kursindex der 500 größten US-Unternehmen, in den vergangenen sechs Jahren. Der zweite zeigt die Gewinne und Verluste von Tradeworx im selben Zeitraum – ein stetiger Marsch nach oben. Im schlechtesten Geschäftsjahr von Tradeworx gab es ein Plus von 15 Prozent. "So eine Profitkurve haben alle Hochgeschwindigkeitsfonds", sagt Narang. Dann vergrößert er den Ausschnitt, um einige Wochen im August 2007 darzustellen, als sich viele Quant-Fonds selbst zerstört und ganze Portfolios abgestoßen haben, um finanziellen Forderungen gerecht zu werden. In dieser Zeit sackte seine Gewinn-und-Verlust-Rechnung um sieben Prozent ab, und viele andere Fonds sahen sich ähnlichen Verlusten gegenüber. Der S&P 500 hingegen war, insgesamt betrachtet, davon kaum berührt.

"Und hier die zweite Quant-Schmelze, im Januar 2008", sagt Narang und zoomt auf einen weiteren Ausreißer in der Kurve. Die Wertveränderungen im S&P 500 seien dagegen "winzig gewesen, kaum zu erkennen". Das läge daran, dass Fonds mit quantitativen Strategien meist marktneutral seien. "Wir nehmen dem Privatanleger nichts weg", sagt Narang. "Wir machen den Markt effizienter. High Frequency Trading macht die Sache für den kleinen Investor sogar besser."

Narang, aber auch Forscher wie Donefer sagen, dass der automatisierte Handel sein Geld durch das Bereitstellen einer Dienstleistung verdient: Liquidität. Im heutigen stark dezentralisierten Markt sei ihr System schlicht der beste Weg, Käufer und Verkäufer aufeinander abzustimmen, sagen die Befürworter. Weil sie aus den kleinen Differenzen zwischen den Preisen, zu denen ein Verkäufer bereit ist zu verkaufen und ein Käufer bereit zu kaufen, Kapital schlagen, bleiben die Unterschiede auch klein. Das bedeutet, dass die kleinen Käufer etwas weniger für Anteilskäufe zahlen und sie für etwas mehr verkaufen können.

Tatsächlich hat sich die Spanne zwischen Kauf- und Verkaufspreis dramatisch verringert, seitdem der elektronische Handel den Markt dominiert – genau wie die Gebühren. Vor zehn Jahren hätte ein Investor vielleicht 150 US-Dollar Gebühren gezahlt, um 500 Aktien mit einem Broker zu handeln, zu einer Marge von 10 Cent je Aktie. Heute zahlen Kleinanleger zehn Dollar, bei Margen von etwa einem Cent bei den meisten größeren Wertpapieren, und oft wird ihre Order augenblicklich abgewickelt. Das erklärt auch, warum viele dieser Händler besonders erfolgreich sind, wenn der Markt zusammenbricht wie im vergangenen Jahr. "Die Flüchtigkeit erzeugen nicht wir", sagt Narang. "Wir reduzieren sie, daran verdienen wir. Wir stellen eine Ordnung her. Wenn die Märkte ungeordnet sind, verdienen wir viel Geld – das tun wir aber, indem wir die Ordnung der Märkte wiederherstellen."

Wenn Narang recht hat, kommen die neuen Methoden den Kleinanlegern zugute. Aber das Argument, dass Hochfrequenzfonds die Marktliquidität erhöhen würden, als seien sie öffentliche Dienstleister, erinnert auf beunruhigende Weise an die Rechtfertigungen der Hedgefonds und Banken, die in den Jahren vor dem jüngsten Crash komplizierte Derivate erzeug-ten. In diesem Fall verschwand die Liquidität, sobald die Sache unappetitlich wurde – wodurch viele der Fonds zusammenbrachen und ein Großteil des Geldes der Investoren verloren ging. Und diese Art von Geschichte neigt hartnäckig dazu, sich zu wiederholen.

Wilmott jedenfalls ist vom Nutzen für die Wirtschaft nicht überzeugt. "Die Leute sagen, alles sei in Ordnung – weil sie dafür belohnt werden", deutet er an. Nach der Mittagspause wird es geschäftiger bei Tradeworx. Nun beginnen Hunderte High-Frequency-Fonds, sich um die vorteilhaftesten Positionen zum Tagesende zu drängeln. Narang verabschiedet sich an der Tür, seine Worte sind das einzige Geräusch in dem sonst stillen Büro. Hinter ihm an der Wand klettert die Gewinn-und-Verlust-Grafik des Tages weiter herauf und herunter. Meistens zeigt die Kurve nach oben. (bsc [1])


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