CERN: Russland fliegt bei der größten Maschine der Welt raus

Seit 70 Jahren gibt es das CERN in Genf. Ab Sonntag sind Forscher von russischen Instituten hier unerwünscht – eine Zeitenwende. 

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Der Large Hadron Collider des CERN.

(Bild: Samuel Joseph Hertzog/CERN)

Lesezeit: 7 Min.
Von
  • Tom Sperlich
Inhaltsverzeichnis

Ende November ist es nun soweit: mehr als 400 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit Verbindungen zu russischen Forschungsinstituten müssen die Europäische Organisation für Kernforschung (CERN) in Genf verlassen. Damit enden Jahrzehnte der Zusammenarbeit. Einen Beobachterstatus bei der wohl größten Forschungsmaschine der Welt (auch "Weltmaschine“ genannt) nimmt Russland seit 1991 ein, so wie auch die USA.

Nach der völkerrechtswidrigen Invasion der Ukraine durch die Russische Föderation hatte das oberste Gremium des Forschungszentrums, der CERN Council, zunächst den Beobachterstatus Russlands ausgesetzt und neuen Kooperationen mit Russland und seinen Institutionen eine Absage erteilt. Ende Dezember 2023 beschloss der Rat dann, die Zusammenarbeit mit Russland und dessen Verbündetem Belarus zu beenden – eine nicht unumstrittene Entscheidung.

Die Zusammenarbeit mit Russland endet entsprechend der CERN-Resolution am 30. November, wenn das derzeit geltende internationale Kooperationsabkommen (ICA) ausläuft. Für Belarus war das bereits am 27. Juni 2024 der Fall. Die Verträge wurden nicht verlängert, was normalerweise nach Ablauf ihrer fünfjährigen Dauer stillschweigend vonstattengeht.

Nach Angaben des CERN sind mehr als 400 Personen aus beiden Ländern betroffen, von einst 1000 zu Beginn der Invasion. Forscher aus Russland oder Belarus, die an Einrichtungen außerhalb ihrer sanktionierten Heimatländer arbeiten, sind von dem Kooperationsstopp nicht betroffen, betont das CERN. Um aber weiterhin mit dem Forschungszentrum zusammenarbeiten zu können, haben demnach rund 100 russische Forscher ihren Arbeitsplatz verlegt.

Dennoch sind so manche mit dem CERN verbundenen Forscher besorgt. So etwa der früher am CERN arbeitende Professor für Teilchenphysik und Rektor der ETH Zürich. Mit dem Ausschluss Russlands werde "viel Know-how verloren gehen“, befürchtet Günther Dissertori in einem Gespräch mit dem Schweizer Sender SRF. "Diesen Verlust muss das CERN erst noch verkraften."

Markus Klute, Leiter des Instituts für experimentelle Teilchenphysik am Karlsruher Institut für Technologie (KIT), sagte der dpa: "Wir haben am CERN mit Russland auch im Kalten Krieg zusammengearbeitet, getrieben von wissenschaftlicher Neugier, in friedlichem Umfeld. Das scheint nicht mehr möglich zu sein, und das ist extrem schade". Das KIT arbeitet wie das Hamburger Desy (Deutsches Elektronen-Synchrotron) eng mit dem CERN zusammen.

Hannes Jung, Physiker und emeritierter Professor am Desy, befürchtet ebenfalls Konsequenzen: "Es gibt so viele Konflikte auf der Welt. Wenn die wissenschaftliche Zusammenarbeit eingeschränkt wird, hat das Folgen für die künftigen Projekte und Kooperationen des CERN." Daneben erwartet er auch ein Finanzloch im Budget des CERN – und damit möglicherweise ein größeres Problem.

Zwar zahlen die Mitgliedsstaaten höhere Beiträge in den Etat des CERN ein als die Beobachterstaaten wie Russland. Die Schweiz steuert beispielsweise rund 40 Millionen Franken (42,6 Millionen Euro) pro Jahr bei, Deutschland ist mit gar rund 220 Millionen Euro pro Jahr größter Beitragszahler bei einem Gesamtbudget von gut 1,2 Milliarden Franken. Die Beiträge richten sich nach dem Bruttoinlandsprodukt des jeweiligen Staates.

Doch auch Russland habe in der Vergangenheit einen bedeutenden finanziellen und materiellen Beitrag zum CERN geleistet, der nun wegfällt, bestätigt CERN-Sprecher Arnaud Marsollier gegenüber heise online. Rund 2,7 Millionen Schweizer Franken pro Jahr habe Russland beigesteuert. Das entspreche etwa 4,5 Prozent der laufenden Kosten der Experimente am weltweit größten Teilchenbeschleuniger Large Hadron Collider (LHC).

Darüber hinaus muss das CERN laut eigenen Angaben nun bis 2028 mindestens 40 Millionen Franken zusätzlich aufbringen, weil diverse russische Teile für den Beschleuniger und Komponenten für die Experimente wegen der Sanktionen gegen Russland nicht mehr geliefert werden. Doch finanziellen Herausforderungen war die riesige Forschungsmaschine immer wieder ausgesetzt.

Im Hinblick auf die gewaltigen Entwicklungsvorhaben des CERN, etwa dem Bau eines neuen Ringbeschleunigers mit knapp 91 Kilometern Umfang, dürften diese Schwierigkeiten vermutlich noch zunehmen. Die geschätzten Kosten dieses Future Circular Collider (FCC) variieren je nach Quelle und reichen von 10 Milliarden bis über 20 Milliarden Euro, mindestens dreimal so teuer wie der aktuelle LHC. Und dabei muss es noch nicht einmal bleiben.

Denn dass Deutschland nicht endlos tiefe Taschen hat, hat die Bundesregierung bereits angedeutet. Auf einem Workshop für deutsche Teilchenphysiker sorgte Eckart Lilienthal vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) mit Kritik an den ungenauen Kosten- und Finanzierungsschätzungen für Aufsehen. "Unter den derzeitigen wirtschaftlichen Bedingungen ist Deutschland nicht in der Lage, die geplanten Mittel für den FCC bereitzustellen", wird Lilienthal von der Neuen Zürcher Zeitung zitiert.

Hannes Jung hält es daher für "wichtig und positiv, wenn Russland weiterhin finanzielle und intellektuelle Ressourcen aufwenden würde, um Experimente und Forschung am CERN zu unterstützen", sagte er dem Nachrichtenportal SWI Swissinfo.ch. Stettdessen sei zu befürchten, dass russischen Geld und russische Wissenschaftler nun der militärischen Forschung zugute kommen.

Entschieden drückt Physiker Jung, der auch Vorsitzender des Science4Peace Forums ist, in einem Gastbeitrag für Hausmagazin CERN Courier seine Ablehnung von Sanktionsbeschlüssen gegenüber Forschern und Staaten aus – die laut internen Informationen auch nicht einstimmig zustande kamen. Politischer Druck habe letztendlich zum Ausschluss Russlands geführt.

ETH-Rektor Günther Dissertori zeigte sich gegenüber dem SRF auch "nicht glücklich mit dem Entscheid". Er könne ihn nachvollziehen und versteh "auch die Positionen der Länder, die sich besonders dafür eingesetzt haben. Aber persönlich hätte ich eine andere Lösung bevorzugt", sagte Dissertori.

Das CERN kappt allerdings nicht alle Verbindungen mit Russland – sehr zum Missfallen der Ukraine. Das CERN hat eine Kooperationsvereinbarung mit dem Vereinigten Institut für Kernforschung (JINR) in der unweit Moskaus gelegenen Wissenschaftsstadt Dubna nicht gekündigt. Das CERN arbeitet bereits seit 1957 mit der Organisation zusammen, die ähnlich wie das CERN aufgestellt ist: ein Zusammenschluss von meist früheren Ostblock-Staaten, der vergleichbare Forschung betreibt.

Das JINR werde zu mehr als 80 Prozent vom russischen Staat finanziert, kritisieren ukrainische Forscher. Dennoch beschloss der CERN-Rat noch im Juni dieses Jahres, das Abkommen nicht zu kündigen. Ausgesetzt wurde aber der gegenseitige Beobachterstatus zwischen CERN und JINR sowie vor allem die Aufnahme neuer Kooperationen.

Im CERN selbst sind etwa 2500 Mitarbeiter fest angestellt. Ausserdem forschen in der Organisation Tausende Menschen aus 110 Nationen; insgesamt sind etwa 14.000 Wissenschaftler an Forschungsinstituten in aller Welt Teil des internationalen Netzwerks. Aktuell hat CERN 24 Mitgliedstaaten, 10 assoziierte Mitgliedstaaten und je zwei Staaten und zwei multilaterale Organisationen mit Beobachterstatus, plus Kooperationsvereinbarungen mit 48 Staaten, zu denen Belarus und die Russische Föderation zählten.

(vbr)