Cisco-Chef: Die Web-2.0-Welle rollt

Das Web 2.0 mit seinen Wikis, Blogs und Videokonferenzen wird unterschätzt, behauptet Cisco-Chef John Chambers im Interview mit heise Netze. Seiner Meinung nach treibt es das Wachstum ganzer Wirtschaftszweige voran.

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Von
  • Erich Bonnert

Chambers: "Ich hab schon einmal einen Internet-Boom vorausgesagt."

Der kommende Internet-Boom wird die Umwälzungen der 90er-Jahre noch übertreffen, behauptet Cisco-CEO John Chambers. Soziale Netzwerke und netzbasierte Formen der Zusammenarbeit im Stil von Wiki-, Blog- und anderen Kollaborationsanwendungen (vulgo: Web 2.0) werden die Produktivität in Organisationen schneller vorantreiben als E-Mail, Messaging und Web-Browser, sagt der Chef des Router-Marktführers.

Ein wichtiges Bindeglied dabei sei die "Telepräsenz": Cisco bietet seit Jahresbeginn das Videokonferenzsystem Telepresence Meeting zum Preis von 300.000 US-Dollar an. Trotz der hohen Anschaffungskosten verspricht Cisco Renditen innerhalb eines Jahres. Videokonferenzen, glaubt Chambers, werden Besprechungen und Geschäftsabläufe so grundlegend verändern, dass ganze Wirtschaftszweige jährlich um bis zu zehn Prozent produktiver werden – und das für die nächsten zehn Jahre.

heise Netze: Tagtäglich sind die Medien voller Berichte über neue Web-2.0-Firmen und wie diese die Kommunikation der gesamten Menschheit auf den Kopf stellen wollen. Befürchten Sie nicht, dass diese Welle bereits übertrieben dargestellt und bald eine Blase platzen wird?

Chambers: Im Gegenteil, der Einfluss auf die geschäftliche Kommunikation ist ja erst am Anfang. Unsere Kunden nutzen bisher die Web-2.0-Technologien nur sehr wenig. Aber die kollaborativen Werkzeuge werden gewaltige produktive Vorteile bringen.

heise Netze: Was macht Sie da so sicher?

Chambers: Wir probieren alles selbst bei uns aus und analysieren die Resultate ganz genau. Wir haben zum Beispiel einen großen Teil unserer Service-Organisation ganz einfach nach Indien auslagern können, weil die Mitarbeiter dort mit Hilfe der kollaborativen Tools wie Wikis und Blogs und Video-Tools sehr schnell auf das erforderliche Produktivitätsniveau kamen.

heise Netze: Also einfach nur ein Billiglohnland finden, PCs und Tools hinstellen – und alles flutscht von selbst?

Chambers liebt es, bei Reden den Zuhörern auf die Pelle zu rücken.

Chambers: Nein, lassen Sie mich ganz offen sein: Ich habe fast 20 unserer Top-Executives nach Indien geschickt, um das zu organisieren. Aber auf der operativen Ebene wäre ein solcher Erfolg nicht möglich gewesen, ohne soziale Netzwerke und kollaborative Werkzeuge, die solche Arbeitsprozesse erst ermöglichen. Es hat uns Hunderte von Millionen Dollar und mehrere Jahre organisatorische Entwicklung erspart, dass die Organisation von Anfang an mit Web-2.0-Tools und nicht etwa nur mit E-Mail und Telefon gearbeitet hat.

Und das liegt nicht am niedrigeren Lohnniveau. Die Werkzeuge und Methoden sind effektiv, weil sie soziale Prozesse unterstützen. Die Mitarbeiter warten nicht auf Anweisungen und Ergebniskontrollen durch ihre Manager, sondern helfen sich selbst. Wir vollziehen das gleiche in anderen aufstrebenden Ländern, aber ebenso in unseren etablierten Märkten, und wir erzielen dort die gleichen Produktivitätsgewinne. Allein durch den Einsatz von Telepräsenz-Räumen werden wir – hochgerechnet auf ein Jahr – Reisekosten von 100 Millionen Dollar einsparen. Je mehr Einheiten ein Kunde einsetzt, desto höher steigt die Auslastung. Aber das ist nur der Anfang. Durch die Kombination mit anderen neuen Web-Tools, die gemeinschaftliche Arbeits- und Kommunikationsstile unterstützen, vervielfachen sich die Produktivitätseffekte.

Nur ein kleines Beispiel: Unsere Akquisition von Scientific Atlanta vor zwei Jahren hat einen Riesenstab der besten Anwälte, Finanz- und Personalspezialisten beider Firmen sowie ein Heer von Investment-Bankern 45 Tage lange rund um die Uhr beschäftigt. Ein wesentlich kleineres Team hat Anfang dieses Jahres die Übernahme von Webex in acht Tagen abgewickelt. Ich sehe einen großen Produktivitätsschub für uns in den nächsten Jahren. Wir gehen normalerweise zwei große Initiativen pro Jahr an, die über drei bis fünf Jahre Ergebnisse zeigen. Dieses Jahr starten wir 18 derartige Projekte.

heise Netze: Übertreiben Sie den Optimismus nicht etwas?

Chambers: Ich gebe zu: Ich bin ein Optimist mit einer gesunden Paranoia. Nur ich habe die Erfahrung gemacht, dass unsere Projektionen in den 90er-Jahren sogar noch zu konservativ waren. Kein Volkswirtschaftler wollte uns glauben, dass ein Produktivitätswachstum von über zwei Prozent in den USA über mehrere Jahre überhaupt möglich wäre – und dann waren es fast eine Dekade lang zwischen drei und fünf Prozent. Die nächste Phase wird sogar noch wichtiger. Allerdings werden wir die größten Produktivitätssprünge in ehemaligen Entwicklungsländern erleben, da dort gleich die Breitband-Infrastruktur geschaffen wird, die in Nordamerika oder Westeuropa erst jetzt nach mehreren Entwicklungsphasen angegangen wird.

Die modernsten Infrastrukturen werden wir bald in Ländern wie Saudi-Arabien, Aserbaidschan oder der Türkei sehen, da dort mehrere Generationen übersprungen werden. In fünf bis zehn Jahren wird es flächendeckend digitale Gesundheitsakten geben. Unseren Doktor konsultieren wir regelmäßig per Video-Interface zur Aktualisierung unserer Vitaldaten. Auf die gleiche Art überprüfen wir per Daten- und Aktivitätsanalyse, wie unsere alternden Eltern den Tag verbracht haben. Sportveranstaltungen schauen wir uns in 3D an und aus jedem Blickwinkel, den wir uns wünschen.

heise Netze: Wie sehen Sie den Wettbewerb um diese Märkte? Da gibt es ebenso etablierte Anbieter wie bei Ihrer neuen Inititiative "Rechenzentrum 3.0".

Chambers: Wir sehen keinen, der die komplette Vision vom Netzwerk der Netzwerke vertritt, so wie wir das tun. Konkurrenten gibt es immer nur in einzelnen Segmenten. Aber wir gewinnen immer mehr Netzanbieter als unsere Partner – von AT&T und France Telecom bis zu Verizon – insbesondere beim Ausbau der Video-Infrastruktur. Dabei gibt es für uns keinen Unterschied zwischen Firmen- und Consumer-Markt mehr, denn über die Netzprovider erreichen wir auch Privatanwender. (Erich Bonnert)/(rek/c't) (rek)