Dank Elektroden am Rückenmark: Querschnittsgelähmte können wieder laufen

Eine elektrische Stimulation des Rückenmarks lässt drei Querschnittsgelähmte wieder gehen, schwimmen, Rad und Kanu fahren.

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Nach mehrmonatigem Training konnte der Patient Michel Roccati in Lausanne wieder gehend eine kurze Strecke zurücklegen.

(Bild: EPFL / Alain Herzog 2021)

Lesezeit: 6 Min.

Eine Verletzung des Rückenmarks heißt für die meisten Betroffenen ein Leben im Rollstuhl. Querschnittsgelähmt zu sein, bedeutet jedoch weitaus mehr, als nicht mehr gehen zu können. Nach der Höhe der Verletzung richtet sich, über welche Teile ihres Körpers Betroffene noch Kontrolle haben. Ist etwa die untere Brustwirbelsäule verletzt, können Gelähmte zwar noch ihre Arme bewegen, aber ihren Oberkörper aufrecht zu halten, ihre Beine zu bewegen, die Blase oder den Darm zu kontrollieren, ist ihnen nicht mehr möglich. Bei schweren Lähmungen ist auch die neuronale Steuerung des Blutgefäßsystems betroffen und die Gelähmten haben durch erschlaffte Blutgefäße einen extrem niedrigen Blutdruck.

Seit Jahrzehnten suchen Forschende nach Möglichkeiten, die gekappten Nervenverbindungen im Rückenmark wieder zu reparieren. Einer dieser Ansätze ist die epidurale Elektrostimulation (EES): eine Elektrode im Rückenmark soll die gekappten Nerven stimulieren und – stark vereinfacht – ein Computer übernimmt die Funktion der Signale aus dem Gehirn. Einen großen Fortschritt dieser Technologie hat nun ein Schweizer Forschungsteam in Nature veröffentlicht. Sie konnten in einer – derzeit noch laufenden Studie – drei Menschen mit Querschnittslähmung über ein EES wieder ein kleines Stückchen Eigenständigkeit zurückgeben.

Bereits eine Stunde nach dem Einsetzen der Elektrode konnten die Beine der Studienteilnehmer von der Elektrode aktiviert und bewegt werden. Nach mehreren Monaten Training war es ihnen möglich ohne Hilfe kurze Strecken mit einem Rollator zu gehen, sich selbstständig aufzurichten, frei und ohne Hilfe zu stehen, zu Schwimmen, auf der Straße auf einem Liegerad zu fahren und auf einem See zu paddeln.

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Dass es grundsätzlich funktioniert, Querschnittsgelähmte mit einem Rückenmarksimplantat einige Schritte gehen zu lassen, hat die Forschungsgruppe bereits 2018 gezeigt. Der Fortschritt, den sie jetzt erzielt haben, liegt im Implantat selbst. Für das EES sind 16 Elektroden auf einer sieben Zentimeter mal anderthalb Zentimeter großen Folie angeordnet. Diese EES-Arrays werden serienmäßig hergestellt und sind eigentlich für die Schmerzbehandlung konzipiert. Die Elektroden werden dafür auf die Rückenmarkhaut gelegt. Durch den an die Nerven angelegten leichten Strom entsteht ein Kribbeln in den schmerzenden Bereichen, die den Schmerz überlagern sollen. Diese Therapie wird seit über 30 Jahren bei unterschiedlichen ausstrahlenden Nervenschmerzen eingesetzt und allein in Deutschland werden jährlich etwa 1.500 solcher Implantate eingesetzt.

Um aber Querschnittsgelähmte wieder gehen zu lassen, ist es wesentlich wirksamer, statt der Nervenstränge entlang der Wirbelsäule, die Nervenwurzeln zu aktivieren. Damit können sie Einfluss auf ganze Bündel von Bewegungsneuronen nehmen, die sich über softwaregesteuerte Aktivierungsmuster in bestimmte Bewegungsmuster umwandeln lassen. "Darüber hinaus haben wir ein computergestütztes System entwickelt, das hochauflösende strukturelle und funktionelle Bildgebung kombiniert, um die chirurgische Platzierung dieser Elektrode zu optimieren", so die Autoren der Studie.

Die Position und Programmierung der Implantate der drei Probanden ist hochgradig individuell und über aufwendige dreidimensionale anatomische Modelle der gesamten Wirbelsäule geplant worden. Selbst während des Einsetzens des Implantates haben die Forschenden die Position der Elektroden über 3D-Computertomographie-Scans überwacht und Muskelkontraktionen über die Elektroden provoziert, um die optimale Lage für die Elektroden zu finden. "Frühere Studien haben gezeigt, dass eine Untergruppe von Personen mit vollständiger motorischer Lähmung nach mehrmonatigem Training mit EES gehen konnte. Unser Ziel war es, das selbstständige Gehen am ersten Tag der Stimulation bei allen Teilnehmern wiederherzustellen", schreiben die Autoren in Nature.

Bis die Probanden auf ihren Füßen stehend unter ihrer eigenen Körperlast gehen konnten, vergingen allerding mehrere Monate Training. Sie konnten jedoch – so die Studie – bereits am ersten Tag nach der Operation auf einem Laufband in einem Unterstützungskorsett Gehbewegungen ausführen.

Durch andere Stimulationsprogramme konnten die Forschenden das Bewegungsspektrum ihrer Patienten erweitern und etwa Impulsfolgen für Schwimmbewegungen oder für das Fahrradfahren vorgeben. Die drei Teilnehmer nahmen an einem fünfmonatigen Neurorehabilitationsprogramm teil, trainierten fünf Tage in der Woche und lernten, passende EES-Sequenzen für die erforderlichen Bewegungen auszuwählen und anzusteuern. Sie lernten kurze Strecken mit einem Rollator zur gehen, frei zu stehen, bauten Muskelmasse und Rumpfstabilität auf. "Die drei Teilnehmer konnten sich zwar selbständig fortbewegen, doch ist es wichtig zu betonen, dass sie ihre natürlichen Bewegungen nicht wiedererlangt haben", geben die Studienautoren an.

Die Studienteilnehmer waren zwar vollständig gelähmt – konnten also selbstständig keine Bewegungen mit ihren Beinen ausführen – hatten jedoch kein vollständig durchtrenntes Rückenmark. Einige wenige der für die Gehbewegung zuständigen Nervenfasern waren noch intakt, wenn auch nicht in der Lage die Beine anzusteuern. Durch die Unterstützung des Implantates, ist es zwei von drei Probanden sogar wieder gelungen, ihre Beine eigenständig zu bewegen oder die Schrittlänge zu verändern. "Trotz der präsentierten positiven Fallbeispiele muss betont werden, dass sich leider keine baldige Lösung für alle von Querschnittlähmung Betroffenen abzeichnet", schränkt Winfried Mayr, Professor am Zentrum für Medizinische Physik und Biomedizinische Technik der Medizinischen Universität Wien ein. "Die drei Personen hatten mit Sicherheit besonders günstige Voraussetzungen, die in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle fehlen."

Sich aus dem Rollstuhl zu erheben und selbstständig zu gehen, ist sicher die spektakulärste Art, Fortschritte bei der Behandlung von Querschnittslähmungen zu demonstrieren. Was für Menschen mit verletztem Rückenmark jedoch eventuell noch wichtiger sein könnte, wäre wieder Kontrolle über ihren Darm, ihre Blase oder ihren Blutdruck zu erlangen – Anwendungen, die laut den Studienautoren möglich sind. Auch wären selbst unbeholfene, von Algorithmen bestimmte Bewegungen für Menschen, die ihre Arme überhaupt nicht mehr benutzen können, ein Stück Unabhängigkeit und Lebensqualität. Die Studie der Schweizer Forschenden läuft jedenfalls weiter – und eine Unterstudie beschäftigt sich sogar mit der Verknüpfung der EES-Implantate und dem Gehirn über eine Computer-Gehirn-Schnittstelle.

(jsc)