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Das BESSY und die Kunst

Astrid Dähn

Mit Röntgenlicht des Berliner Elektronensynchrotrons ermitteln Forscher die chemische Beschaffenheit alter Gemälde, Münzen oder Manuskripte. So können sie den Kulturschätzen schmerzlos viel über ihre Geschichte entlocken.

Mit Röntgenlicht des Berliner Elektronensynchrotrons ermitteln Forscher die chemische Beschaffenheit alter Gemälde, Münzen oder Manuskripte. So können sie den Kulturschätzen schmerzlos viel über ihre Geschichte entlocken.

Manchmal lohnt sich ein Blick unter die Oberfläche: Als Martin Radtke die ägyptische Mumienmaske zum ersten Mal sah, war er nicht gerade begeistert. "Das Ding war ganz mit einer braunen Schmierschicht bedeckt und sah ziemlich schmuddelig aus", erzählt der Wissenschaftler von der Bundesanstalt für Materialforschung (BAM) in Berlin. Doch die Besitzerin wollte genauer wissen, was es mit dem Erbstück in ihrem Wohnzimmer auf sich hatte. Also nahm Radtke die Antiquität mit in eine spezielle Messkammer am BESSY II, der Berliner Elektronenspeicherring-Gesellschaft für Synchrotronstrahlung – und war überrascht. Analysen durch Röntgenlicht aus dem Beschleuniger ergaben, dass die Maske unter ihrer Dreckkruste komplett mit Gold überzogen war. "Eine kleine Sensation, denn nur Pharaonen durften ihre Totenmasken mit Gold verzieren", sagt Radtke. "Der unscheinbare Kopfabdruck entpuppte sich damit als ungeheuer wertvoll."

Auch wenn die Messungen am BESSY ihrem Auftraggeber nicht immer so lukrative Erkenntnisse bringen wie im Fall der Mumienmaske – der Teilchenbeschleuniger ist ein gefragtes Hilfsmittel in der Kulturforschungsszene. "Immer öfter ziehen uns Museen und archäologische Institute zurate, wenn es um die Entstehungsgeschichte, Herkunft oder Echtheit eines Fundstücks geht", berichtet Radtke, der die Messkammer der BAM am BESSY betreut. "Wir nehmen hier mittlerweile alles unter die Lupe, von antikem Goldschmuck über alte Pergamentrollen und Gemälde bis zum Dinosaurierknochen."

Und das, obwohl der technische Aufwand gewaltig ist. Mit dem handlichen Untersuchungswerkzeug, das in vielen Museumslaboren steht, hat die Beschleunigeranlage wenig gemein. Ihren Kern bildet eine luftleer gepumpte, ringförmige Röhre von 240 Metern Umfang. Im Inneren der Röhre kreisen Elektronen mit nahezu Lichtgeschwindigkeit. Große Magnete lenken die negativ geladenen Teilchen bei ihrem Flug so ab, dass sie exakt auf ihrer vorgeschriebenen Ringbahn bleiben. Der Trick dabei: Durch die Ablenkung erfahren die Elektronen eine Beschleunigung in Richtung Ringmitte. Und annähernd lichtschnelle, beschleunigte Elektronen senden eine besondere Form von elektromagnetischen Wellen aus, sogenannte Synchrotronstrahlung. Auf die Produktion dieser Strahlung ist das BESSY spezialisiert. Sie wird an verschiedenen Stellen des Rings abgezweigt und durch Metallrohre in Bauwagen-ähnliche Messkammern geleitet. Durch dicke Betonwände vom restlichen Beschleuniger abgeschirmt, reihen sich mehr als 70 solcher Experimentierstationen rund um die Elektronenrennstrecke.

Forscher aus aller Welt nehmen dort unterschiedlichste Materialien ins Visier, sie prüfen die Struktur von Biomolekülen auf ihre Tauglichkeit für neue Arzneimittel, suchen nach energieeffizienteren Baustoffen für Solarmodule oder preiswerteren Katalysatoren für die chemische Industrie. Seit Kurzem findet sich unter den Versuchsplätzen auch eine vollklimatisierte Kammer der BAM, die eigens für Messungen an empfindlichen Kunstgegenständen gedacht ist. Läuft der Betrieb normal, benötigt die Beschleunigeranlage insgesamt rund 2,7 Megawatt elektrische Leistung, das entspricht dem Energieverbrauch von 8000 Zwei-Personen-Haushalten. Eine Stunde Strahlzeit kostet daher gut 500 Euro. "Eine teure Maschinerie", räumt Martin Radtke ein, "aber auch sehr nützlich."

Denn Synchrotronstrahlung besitzt ein paar Eigenheiten, die sie von gewöhnlicher elektromagnetischer Strahlung aus Glühlampen oder Leuchtröhren unterscheiden: Sie umfasst ein extrem breites Lichtspektrum, ihre Bestandteile reichen vom langwelligen Infrarotlicht bis weit in den kurzwelligen Röntgenbereich. Je nach Fragestellung und Analysemethode können Forscher daher stets die passende Wellenlänge für ihren Versuch herausfiltern.

Gleichzeitig ist ihr Licht intensiver und wesentlich besser auf engsten Raum fokussierbar als etwa die Strahlen aus gewöhnlichen Röntgenapparaturen. Und weil die Synchrotron-Lichtwellen in besonders geordneter Weise auf und ab schwingen, lassen sie sich relativ leicht von weniger geordneten Störsignalen trennen. Messungen mit Synchrotronstrahlung seien folglich "hochsensitiv", resümiert Radtke. "Um brauchbare Ergebnisse zu bekommen, genügen minimale Mengen Probenmaterial, die nur wenige Sekunden oder Minuten der Strahlung ausgesetzt werden müssen." Dass sich die Proben innerhalb dieser kurzen Messzeit zu stark erwärmen und Schaden nehmen könnten, hält der Physiker für ausgeschlossen, selbst bei Einsatz von energiereichem Röntgenlicht: "Die Methode ist absolut zerstörungsfrei." Ein großer Vorteil, insbesondere wenn es um die Untersuchung kostbarer Gemälde geht.

Schon mehrfach hatten Radtke und seine Kollegen Silberstiftzeichnungen berühmter Meister zur Begutachtung in ihrer Messkammer, dabei auch eine Serie von Skizzen des deutschen Renaissance-Malers Albrecht Dürer. Heute hängen die 27 Bilder in verschiedenen Galerien über ganz Europa verstreut, Kunsthistoriker vermuteten jedoch, dass Dürer sie alle während einer Reise durch die Niederlande zu Papier gebracht habe. Ein Irrtum, wie sich am BESSY herausstellen sollte. "Silberstiftlinien setzen sich aus winzigen, ungleichmäßig verteilten Metallpartikel-Häufchen zusammen", erläutert Ina Reiche vom Pariser Louvre-Museum, unter deren Leitung die Bilder analysiert wurden. "Nur mit dem brillanten Röntgenlicht der Synchrotronstrahlung konnten wir den feinen Strichen Informationen entlocken."

Bestrahlt man die silbergrauen Stiftspuren mit Röntgenwellen, schlucken die Metallatome darin das Licht und nehmen so Energie auf, die sie kurz darauf ihrerseits als Lichtsignale wieder abgeben. Die Wellenlänge dieses Fluoreszenzlichts ist charakteristisch für die signalaussendende Atomsorte. Die sogenannte Röntgenfluoreszenzanalyse liefert mithin eine Art chemischen Fingerabdruck, der über die atomaren Bestandteile des untersuchten Materials Auskunft gibt. Bei den Dürer-Skizzen offenbarte der Fingerabdruck, dass die Linien einer Zeichnung, das Brustbild eines Mannes mit Pelzmütze, deutlich mehr Zink enthielten als die Linien auf den übrigen Werken, die alle ähnlich beschaffen waren. "Dürer hatte dieses Bild also offensichtlich mit einem anderen Stift gezeichnet", folgert Reiche. Obgleich es sich auf demselben Papierbogen befindet wie eine der Skizzen aus der Reiseserie, sei es vermutlich zu einem späteren Zeitpunkt entstanden. Dürer-Experten hatten das Werk jahrelang falsch zugeordnet.

In einer weit delikateren Angelegenheit konnten die BESSY-Wissenschaftler den Kunstspezialisten ebenfalls weiterhelfen: Auf Dürers Porträtzeichnung von Willibald Pirckheimer, einem Nürnberger Patrizier und Freund des Malers, steht neben der Silberstiftskizze auf Altgriechisch die obszöne Anmerkung: "mit dem erigierten Penis in den Anus des anderen". Weil Dürer kein Altgriechisch konnte, gingen die meisten Kunstkenner davon aus, dass die Zeilen erst viel später, ohne Wissen des Meisters, auf das Blatt geschrieben wurden. Wie sich im Röntgenlicht zeigte, sind Porträtlinien und Schrift jedoch chemisch nahezu identisch aufgebaut. Das stütze die These, dass Willibald Pirckheimer den Text mit Dürers Stift verfasst habe, sagt Reiche. "Die Freundschaft der beiden Männer könnte demnach mehr als nur Freundschaft gewesen sein."

Nicht nur Bilder, auch Metallgegenstände geben unter dem intensiven Beschuss mit der Berliner Strahlenkanone viel über ihre intimen Geheimnisse preis. "Wir können nie mit Sicherheit feststellen, ob ein Untersuchungsobjekt wirklich echt ist", sagt Martin Radtke, "aber wir können zweifelsfrei erkennen, wenn etwas nicht stimmt." Wie etwa beim "Berliner Goldhut", einem ungefähr tischhohen Hohlkegel aus der Bronzezeit, der den Priestern eines einst in Zentraleuropa verbreiteten Sonnenkults als religiöse Insignie gedient haben soll. Er besteht aus dünnem, ornamentverziertem Goldblech und wurde 1996 vom Berliner Museum für Vor- und Frühgeschichte von einem internationalen Kunsthändler gekauft. Woher der Goldkegel ursprünglich stammt, ist unbekannt.

Der Händler habe behauptet, den Hut nicht geputzt oder irgendwie chemisch behandelt zu haben, erzählt Radtke. Merkwürdigerweise glänzt aber die Spitze hell, während Stumpf und Krempe mit einer schwärzlichen Patina überzogen sind. Im Fokus der Synchrotronstrahlen kam ans Licht, dass der Goldanteil im oberen, blanken Kegelabschnitt etwas höher ist als im unteren. "Das sah doch sehr verdächtig nach einer Reinigung mit Säure aus: Weniger edle Metalle wie Kupfer oder Zinn wurden weggeätzt, das resistente Gold blieb", kommentiert Radtke das Ergebnis. Als Nächstes will er eine Reihe alter türkischer Silbermünzen aus verschiedenen Jahrzehnten mittels Röntgenfluoreszenz inspizieren. Ohne die Geldstücke aufschneiden zu müssen, kann er so ihren Silbergehalt ermitteln und überprüfen, ob die Edelmetallkonzentration mit der Zeit abnimmt. "Das wäre dann der Nachweis für eine frühe Form der Inflation", sagt der Forscher.

Noch gezielter lässt sich mit einem anderen Röntgenverfahren ins Innere antiker Kostbarkeiten spähen: mit der dreidimensionalen Röntgenfluoreszenz. Die Analysemethode ist eine Weiterentwicklung der herkömmlichen Fluoreszenzmessungen. Bei ihr werden das Röntgenlicht aus dem Synchrotronstrahlrohr und das vom Probenmaterial zurückgesandte Fluoreszenzsignal jeweils so geschickt von Linsen gebündelt, dass sich der betrachtete Probenausschnitt auf ein winziges Oval von wenigen Tausendstelmillimetern Höhe und Breite reduziert, zehnmal feiner als ein Haar. Verschiebt man das Oval nach jeder Messung ein wenig nach unten, lässt sich ein Kunstwerk schichtweise durchleuchten.

"Das Verfahren eignet sich vor allem für Gegenstände, die aus mehreren Lagen aufgebaut sind", erläutert Oliver Hahn, Leiter der Arbeitsgruppe Kunst- und Kulturgutanalyse bei der BAM. Der Physikochemiker hat mit der 3D-Technik beispielsweise mittelalterliche Glasmalereien in Augenschein genommen. Mit der Zeit beginnt sich deren Farbe in der Regel zu lösen, die Bilder zerfallen. Hahn fand heraus, dass an den betroffenen Stellen bestimmte Elemente wie etwa Calcium und Kalium aus dem Glas in den Farbüberzug wandern und dabei zwischen Glas und Bemalung eine Art Störschicht bilden, die zum Abblättern der Farben führt. Mit diesem Wissen können Restauratoren nun Rezepte entwickeln, um die zersetzende Schicht unschädlich zu machen.

Bei komplexeren Themen sei eine Lösung indes oft schwieriger zu finden, sagt Oliver Hahn, der während seiner Promotion in physikalischer Chemie auch Kunstgeschichte studiert hat, da brauche es meist viele verschiedene Messungen. So läuft am BESSY seit mehreren Jahren ein umfangreiches Projekt zur Erforschung der Qumran-Rollen, einer Sammlung alter Pergamentschriften, die zu den wichtigsten archäologischen Funden des letzten Jahrhunderts zählt. Die erste Rolle aus dem Bestand entdeckten Beduinen 1947 zufällig in einer Felshöhle am Toten Meer, als sie einer entlaufenen Ziege hinterherkletterten. In der Folgezeit wurden aus den Höhlen rund um die Ruinenstadt Qumran mehr als 900 weitere Manuskripte geborgen.

Archäologen wissen mittlerweile: Die Texte stammen aus der Zeit zwischen 200 vor und 68 nach Christi Geburt, sind in hebräischer, aramäischer und griechischer Sprache verfasst und enthalten unter anderem Urtexte des Alten Testaments sowie Kommentare zu biblischen Schriften. Doch wer hat die Rollen hergestellt? Weshalb lagern sie in den Höhlen? Und woher kommen sie? Eindeutige Antworten auf diese Fragen gibt es noch nicht. Manche Historiker glauben, dass die Manuskripte von Mitgliedern einer jüdischen Sekte niedergeschrieben wurden, den Essenern, die in der Siedlung von Qumran gelebt haben sollen.

Vielzahl und Vielfalt der Rollen lassen aber ebenso gut die Vermutung zu, dass die Höhlen als eine Art Bibliothek fungierten, in der man Schriftstücke aus verschiedenen Landesregionen sammelte. "Natürlich können wir zu einem so weiten Streitgebiet am BESSY auch kein endgültiges Urteil abgeben", sagt Oliver Hahn. "Aber mit der Synchrotronstrahlung sind wir zumindest in der Lage, ein bisschen Ordnung in die vielen schwer einsortierbaren Fragmente der Rollen zu bringen."

Bei einem Manuskript ist das bereits gelungen. Das Dokument war aus zwei Teilen zusammengesetzt – Grafologen nahmen an, dass die beiden Bruchstücke zusammengehörten. Der dreidimensionale Röntgenblick auf die verschiedenen Schichten des Pergaments widersprach ihrer Einschätzung jedoch. Denn die Tuschezeichen auf beiden Fragmenten unterschieden sich chemisch stark voneinander. "Daraufhin mussten die Schriftexperten ihre Textinterpretation für dieses Dokument revidieren", erzählt Ira Rabin, Physikochemikerin und Restauratorin am Israelischen Nationalmuseum und internationale Koordinatorin des Qumran-Projekts.

Ähnliche Aufschlüsse könnte die Röntgenanalyse den "Schriftgelehrten" auch über den Herkunftsort der Rollen geben. Die Tuschen jener Zeit wurden nämlich mit Wasser angerührt. Und das Wasser in der Umgebung Qumrans weist eine Besonderheit auf: Es enthält mehr Brom und weniger Chlor als bei Wasser sonst üblich. "Ein Glücksfall für die Forschung", befindet Ira Rabin. In ein paar kleineren Pergamentschnipseln hat die Forscherin das regionaltypische Chlor-zu-Brom-Verhältnis bereits nachgewiesen. Liefern die nächsten Fragmente das gleiche Resultat, spricht einiges dafür, dass die Rollen in Qumran hergestellt wurden.

"Um wirklich verlässliche Aussagen zu bekommen, müssen wir allerdings noch weitere Faktoren berücksichtigen, etwa die Lagerungsbedingungen", gibt Rabin zu bedenken. Von mehr als der Hälfte aller Rollen sei nicht dokumentiert, in welcher Höhle sie gefunden und wie sie dort aufbewahrt wurden. Doch erst wenn die Forscher wissen, unter welchen Umständen die Schriftstücke Jahrtausende überdauert haben, welche Verunreinigungen und Materialveränderungen mit der Lagerung einhergegangen sein könnten, sind sie in der Lage, die Messdaten zur chemischen Beschaffenheit der kostbaren Rollen richtig zu interpretieren. Ira Rabin ist deshalb im vergangenen Jahr mehrfach nach Qumran gereist, hat Gesteinsproben in den Höhlen gesammelt, die Witterungsverhältnisse vor Ort bestimmt. "Jetzt schauen wir gerade, ob sich Spuren des jeweiligen Höhlengesteins auf den Pergamenten wiederfinden", sagt die israelische Wissenschaftlerin.

Im Herbst dieses Jahres endet die Versuchsreihe zu den Qumran-Rollen. Dann fliegt Rabin mit ihren Manuskriptproben wieder zurück nach Israel. Dass die Messkammer am BESSY anschließend leer stehen könnte, ist jedoch kaum zu befürchten. Europaweit gibt es kaum Elektronenbeschleuniger, die so gut für die Analyse von Kulturgütern ausgerüstet sind wie das BESSY. Er habe schon eine Menge neuer Anfragen auf dem Schreibtisch, sagt Oliver Hahn. "Wir entschlüsseln hier schließlich die Grundbausteine unserer Zivilisation. Dafür besteht immer Bedarf." (bsc [1])


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