Das Dorf in der Stadt: Mikrolokales Denken und Lenken auf der Führungsebene

Im Interview erklärt der Kernphysiker und Organisationsberater Mark McKergow die Bedeutung kleiner Schritte für große Entwicklungssprünge in Unternehmen.

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(Bild: Svetlana Lukienko/Shutterstock.com)

Lesezeit: 12 Min.
Von
  • Silke Hahn
Inhaltsverzeichnis

Der schottische Physiker und Organisationsberater Dr. Mark McKergow wechselte von der Kernenergie zur Business Administration. Seine Sicht auf die agile Entwicklung heute und die Bedeutung lösungsorientierter Ansätze auch jenseits von Unternehmen teilt er im Gespräch mit heise Developer.

heise Developer: Seit über 30 Jahren unterstützt Du Führungskräfte, Teams und Organisationen dabei, besser zusammenzuarbeiten, und Deine Ideen sind besonders im Bereich der agilen Softwareentwicklung auf Anklang gestoßen. Unsere Leserinnen und Leser sind meist Softwareentwickler oder anderweitig im Bereich der professionellen IT unterwegs. Einige, aber nicht alle von ihnen praktizieren agile Softwareentwicklung.

Oft prägen ja persönliche Erfahrungen unsere Berufswahl, manchmal Glück oder Zufälle. Was hat Dein Interesse am Organisieren, Führen und Beraten geweckt?

Mark McKergow: Meine Berufslaufbahn begann ich in den 1980er Jahren mit einem Doktortitel in Physik in der Kernkraftindustrie in einem Kraftwerk und stieg schnell in Führungspositionen auf. Ich absolvierte ein Aufbaustudium mit MBA-Abschluss (Master of Business Administration) und erkannte, dass in dieser Branche gute Führung rar war. Also begann ich, dem etwas entgegenzusetzen, indem ich Moderations- und Managementtrainings durchführte, und machte mich dann als unabhängiger Berater für alle möglichen Branchen und Organisationen selbstständig.

Bald darauf stieß ich auf den lösungsorientierten Ansatz, der damals ausschließlich eine Therapiemethode war, und machte mich daran, in diesem Bereich mit Managern und Coaches zu arbeiten. Mein erstes Buch „The Solutions Focus“ von 2002 , das ich mit Paul Z. Jackson geschrieben habe, ist immer noch im Druck und verkauft sich gut. Es ist seither die Grundlage meiner Arbeit. Ich mag Methoden, die Wirksamkeit mit Wirtschaftlichkeit verbinden und die den Menschen helfen, zu erkennen, dass sie selbst befähigt sind und auch ohne meine Hilfe weiterkommen.

heise Developer: Was hältst Du von agilen Methoden, insbesondere in der Softwareentwicklung? Wo siehst Du typische, wiederkehrende Schwächen oder Stärken in agilen Teams und deren Führungssituationen?

McKergow: Ich denke, dass der Aufstieg der agilen Bewegung sehr interessant und ein ausgesprochen positiver Schritt sowohl für Softwareentwickler als auch für die Welt des organisatorischen Wandels insgesamt ist. Es gibt einige gute Verbindungen zwischen agilem und lösungsorientiertem Arbeiten – man muss darauf achten, sich immer zum Besseren zu bewegen… und anerkennen, dass sich diese Definition mit der Zeit ändern wird. Das Gute dabei? Die Bedeutung relativ kleiner Schritte; das Implementieren von Dingen in kurzen Sprints, um zu sehen, was passiert; das positive Experimentieren mit der realen Welt, indem man Dinge ausprobiert, statt Monate und Jahre mit der Planung zu verbringen.

Ich bin ein großer Fan des ursprünglichen Agilen Manifests und der Art und Weise, wie es aufgebaut ist, und im Laufe der Jahre habe ich einige Male mit Alistair Cockburn (Anm. Redaktion: einem Unterzeichner des Agilen Manifests) zusammenarbeiten können. Meiner Meinung nach gibt es Schwierigkeiten, wenn Menschen versuchen, sehr genau festzulegen, was etwas bedeutet, statt sich davon inspirieren zu lassen, Dinge auszuprobieren. Das führt dann zu einer Unmenge an Zertifikaten und Qualifikationen, die mehr darüber aussagen, wie gut Menschen darin sind, Anweisungen zu befolgen, als darüber, wie gut sie tatsächlich in der Praxis arbeiten. Ähnliche Probleme haben wir auch in der lösungsfokussierten Welt.

heise Developer: Du hast Deinen minimalistischen Ansatz namens Solutions Focus jetzt schon ein paarmal erwähnt. Worum geht es bei dem Konzept und wie wird es in der Arbeitspraxis angewandt?

McKergow: Wie gesagt kam ich mit der lösungsfokussierten Arbeit in den frühen 1990er Jahren zunächst als Therapiemethode in Berührung. Sie war anders als die damals gängigen Ansätze. Statt den Menschen zu helfen, ihre Probleme und deren Ursachen zu verstehen, lag der Schwerpunkt darauf, zu verstehen, wie eine bessere Zukunft für die Patienten aussehen würde, was davon bereits geschieht… sei es auch nur ein winzig kleines bisschen, und darauf mit kleinen Schritten aufzubauen.

In der Regel führt das schnell zu Fortschritten, und die durchschnittliche Behandlungsdauer betrug nur eine Handvoll Sitzungen. Ich war erstaunt und fasziniert, und ich dachte, dass das auch in der Managementwelt nützlich sein könnte. Also begann ich, es zu lernen. Die Menschen sind so sehr darauf konzentriert, das zu reparieren, was kaputt ist, dass sie gar nicht mehr darüber nachdenken, was bereits funktioniert. In den letzten drei Jahrzehnten war es eine wunderbare Erfahrung, Menschen mit diesen Ideen vertraut zu machen und ihnen zu helfen, sie anzuwenden, und ich durfte Teams und Organisationen in der ganzen Welt beraten.

heise Developer: In Deinem Vortrag bei der Agile Leadership Conference im Dezember geht es um Host Leadership. Was ist das und worum geht es dabei?

McKergow: Bei Host Leadership geht es um das Modell, als Gastgeber (Host) zu führen, nicht als Held oder Diener. Ein Gastgeber oder eine Gastgeberin ist bekanntlich jemand, der Gäste empfängt beziehungsweise bewirtet – bei einer Feier oder einem anderen Treffen. Wir alle wissen schon eine Menge darüber, wie das geht. Als ich 2003 auf diese Idee kam, hatte noch niemand untersucht, wie Führung aussehen könnte, wenn die Führungskraft nicht als direktiver Held oder hilfsbereite Dienerin auftritt, sondern sich als Gastgeber sieht und Menschen bei komplexen kollektiven Problemen zusammenbringt.

Mark McKergow ist Autor und Trainer in der internationalen Organisationsberatung. Als Physiker wirft er einen stets unabhängigen, leicht skeptischen Blick auf aktuelle Entwicklungen in der Führungskultur und Psychologie.

Die Rolle der Führungskraft besteht in dieser Hinsicht eher darin, die Mitarbeiter wie eine Reihe von Gästen einzuladen, mit ihnen zusammenzuarbeiten, und dann überlegen alle, wie es weitergehen soll. Die Art und Weise, wie man die Leute zusammenbringt und wie man mit ihnen arbeitet, wenn sie ankommen, spielt eine große Rolle dabei, was dann passiert und wie sinnvoll sich die Dinge entwickeln können.

Vor fast 20 Jahren wollte ich ein Buch über dieses Thema kaufen, aber es gab keins – also habe ich selbst eins geschrieben. Meine Co-Autorin Helen Bailey und ich interviewten und beobachteten Gastgeber, die wir für gute Führungspersönlichkeiten hielten – einige stammten tatsächlich aus dem Hotel- und Gaststättengewerbe –, und Führungspersönlichkeiten, von denen wir annahmen, dass sie sich wie Gastgeber verhielten. Darunter befanden sich Leiter von Everest-Besteigungsexpeditionen, TED-Organisatoren und viele andere. Wir entwickelten eine Metapher und ein Modell mit sechs Rollen, die eine gastgebende Führungskraft einnehmen kann, und vier möglichen Positionen. 2014 haben wir das Ergebnis in Buchform veröffentlicht. (Host: Six new roles of engagement von Mark McKergow & Helen Bailey, Solutions Books, 2014).

heise Developer: Nochmal zum Verständnis: Was ändert sich dadurch für agile Teams und ihre Führungsstrukturen?

McKergow: In vielen agilen Modellen ist vom Konzept des Servant-Leaders die Rede. An sich eine gute Idee, aber ich treffe viele Menschen, die damit nicht klarkommen. Was sollen Diener tun? Wie proaktiv können sie sein? Ist es ihre Aufgabe, einfach nur den Kaffee zu kochen? Was bedeutet es heutzutage überhaupt, Diener zu sein? Die wenigsten von uns werden noch Diener haben. Wenn man ihnen die Alternative anbietet, Gastgeber zu sein, erleben viele Führungskräfte hingegen einen Aha-Moment: "Das kann ich nachvollziehen." Ein Gastgeber kann eindeutig proaktiv sein, ist teils für das Zusammenführen des Teams verantwortlich und sorgt dafür, dass die Teilnehmer das bekommen, was sie brauchen. Daraus können sich in der Praxis alle möglichen nützlichen Erkenntnisse ergeben. Und es ist eine Metapher, mit der die meisten von uns sich sofort identifizieren können – wir alle waren schon Gastgeber und Gäste. Daher ein Modell, das sich aneignen lässt, um eigene Gastgeber- und Führungsqualitäten zu verbessern.

heise Developer: Du hast auch eine Sammlung von Geschichten aus der Praxis verfasst. Hast du ein paar „War Stories“ für uns auf Lager?

McKergow: Das Host Leadership Field Book von 2019 enthält dreißig kurze Kapitel über Menschen, die Host-Leadership-Ideen in der Praxis anwenden, und zwar in vielen Bereichen. Fünf Kapitel handeln von Menschen, die mit Agile zu tun haben – über Retrospektiven, Stand-ups, den Einsatz rotierender Hosts in Hochdrucksituationen und in der Ausbildung. Ein Kapitel stammt von meinem französischen Kollegen Géry Derbier, der Menschen in der Agile- und Start-up-Welt coacht. Er fragt die Leute unter anderem: "Stellen Sie sich vor, Sie sind in Ihrer Situation der Gastgeber und die anderen Leute sind Ihre Gäste... Was werden Sie als guter Gastgeber als Nächstes für sie tun?" Dabei stellt er fest, dass die Menschen selbst bei diesem Ansatz schnell auf Ideen kommen, was sie tun könnten, um ihre mitunter eingefahrenen Anliegen voranzubringen. Das ist ein guter Ausgangspunkt.

Mehr Infos
Agile Leadership Conference, 9. Dezember 2021, online

Am 9. Dezember 2021 erklärt Mark McKergow live bei der Agile Leadership Conference seinen Ansatz der Host Leadership und stellt den Teilnehmerinnen und Teilnehmern verschiedene Konzepte des Führens in agilem Umfeld vor. Sechs Schlüsselrollen eröffnen Führungskräften dabei einen Kontext-basierten statt regelgesteuerten Zugang. McKergows Einsichten und Erfahrungen können Entscheidungsträgern helfen, ihre Beziehungen mit den eigenen Teams wieder ins rechte Lot zu rücken.

Wie geht agiles Führen?

Wer sich für moderne Ansätze des Führens interessiert, kann einen Blick werfen in das Progamm der Agile Leadership Conference. Die von heise Developer und dpunkt.verlag ausgerichtete Online-Konferenz setzt den erfolgreichen Agile Leader Day fort. Zusätzlich zu den Vorträgen gibt es im Dezember 2021 und Januar 2022 ein vertiefendes Workshop-Programm zu den Themen Alignment und dem Führen selbstorganisierter Teams.

Die Teilnahme an der Konferenz kostet bis zum 21. November noch 199 Euro (alle Preise zzgl. 19 % MwSt.), danach 249 Euro. Für Gruppen, Schüler und Studierende sind auf Anfrage Rabatte verfügbar. Die Preise für ein Workshopticket bewegen sich zwischen 229 und 449 Euro (halber Tag oder zwei Halbtage), weitere Informationen lassen sich der Veranstaltungswebseite entnehmen.

heise Developer: Gibt es eine besondere Strategie oder einen Misserfolg, die du hervorheben möchtest?

McKergow: Eine unserer australischen Kolleginnen hat damit begonnen, Supervisionssitzungen mit Gastgebern durchzuführen. Sie arbeitet mit Schulen zusammen und soll deren Fortschritte im vergangenen Jahr bewerten. Statt einfach zu erscheinen, dreht sie den Spieß um und bittet die Schulen, sie zu einem Abendessen einzuladen, bei dem sie ihr die eigenen Fortschritte präsentieren sollten. Auf diese Weise hätte nicht sie, sondern die Schule die Kontrolle. Das war ausgesprochen erfolgreich. Spielverderber war zunächst der Schulleiter, der kein Essen in seinem Besprechungsraum wollte... bis sie darauf hinwies, dass das Essen eine optionale Sache sei und es hauptsächlich um den Austausch und die Interaktion gehe.

heise Developer: Vermutlich bist Du bei Deiner Arbeit besonders eng mit Teams und Führungskräften auf Tuchfühlung gekommen. Wie können wir uns Deine Beratungstätigkeit konkret vorstellen?

McKergow: Heutzutage geht es bei meiner Arbeit oft um eine Kombination aus der Vermittlung eines Ansatzes und der Unterstützung bei der direkten Umsetzung, um ein reales Problem für die Organisation oder das Team zu lösen. Ich glaube, wir sind in den letzten 18 Monaten alle besser darin geworden, online zu arbeiten! Ich habe diese Veränderung zum größten Teil genossen. In den letzten Jahren hatte ich zu viel Zeit in Flughafen-Lounges verbracht...

heise Developer: Gutes Stichwort: Welchen Rat würdest Du den Teilnehmern einer eintägigen Online-Konferenz mit auf den Weg geben?

McKergow: Nehmen Sie wirklich mit ganzem Herzen an der Veranstaltung teil. Haben Sie keine anderen Verpflichtungen für diesen Tag. Planen Sie kurze Pausen ein, um spazieren zu gehen, Tee oder Kaffee zu trinken und die Gelegenheit zu nutzen, sich mit anderen Konferenzteilnehmern auszutauschen. Mir hilft es, das Gelernte in meiner eigenen Arbeit anzuwenden, wenn ich eine Herausforderung zur Konferenz mitbringe.

heise Developer: Werfen wir zuletzt noch einen Blick nach vorne. Ich habe gehört, dass Du voriges Jahr eine Initiative gegründet hast, die sich mit den Herausforderungen von Gemeinden in der Zeit nach Corona befasst, das Projekt "Dorf in der Stadt" (Village in the City). Worum geht es dabei?

McKergow: Bei "Village in the City" geht es darum, Menschen beim Aufbau und bei der Verbesserung ihrer mikrolokalen Gemeinschaften – Straßen, Wohnblöcke oder Nachbarschaften – zu unterstützen. Die Pandemie hat uns gezeigt, wie wichtig es ist, mit den Menschen in derselben Straße oder um die Ecke in Kontakt zu treten. Ich habe das selbst erlebt, als die Menschen in meiner eigenen Straße in Edinburgh anfingen, anders zu kommunizieren, als der Lockdown kam.

Wir nutzen die Ideen von Host Leadership und Solution Focus, um den Menschen einen Rahmen und Werkzeuge an die Hand zu geben, mit denen sie auf sanfte Weise bessere Gemeinschaftsbeziehungen in ihren eigenen Vierteln aufbauen können. Bislang haben sich "Dörfer" auf vier Kontinenten angemeldet, so dass das ganze Projekt einen internationalen Charakter hat. Ich habe Online-Vortragskurse und -Lerneinheiten abgehalten, und es gibt eine Online-Community für unsere Mitglieder, in der sie sich austauschen und gemeinsam lernen können. Wer neugierig geworden ist, findet Infos auf unserer Webseite.

heise Developer: Mark McKergow, wir danken für das Gespräch!

Das Interview führte Silke Hahn, Redakteurin von heise Developer.

(sih)