Der Hacker des Stromnetzes

IT-Unternehmer Bernd Reifenhäuser will unser Elektrizitätsnetz umkrempeln. Analog zum Internet sollen dabei kleine Strompakete selbstständig ihren Weg durch die Leitungen finden.

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Von
  • Wolfgang Richter

Nichts ist beruhigender als das Patent auf eine Idee, deren Zeit noch kommen wird. Das könnte das Motto von Bernd Reifenhäuser sein. Sein Doktorvater sei nämlich knapp an einem Nobelpreis vorbeigeschrammt, weil er eine Idee nicht weiterverfolgte, erzählt Reifenhäuser. Welche das war, will er nicht verraten. Aber seinerzeit habe er sich geschworen, dass ihm das nicht passieren wird, sollte ihn ein wirklicher Geistesblitz treffen. Inzwischen hält Reifenhäuser für seine Idee des Quantum Grids Patente in den USA, China und der EU.

Der Zeitpunkt könnte kaum besser passen. Denn das Quantum Grid soll ein zentrales Problem der Energiewende lösen. Weil die Erzeugung von Windenergie und Solarstrom schwankt, muss auch das Netzmanagement deutlich flexibler werden, um die Gefahr weitreichender Stromausfälle zu bannen. Genau dies soll das Quantennetz liefern. Darin fließt der Strom nicht mehr kontinuierlich wie Wasser durch die Leitungen mit dem geringsten Widerstand.

Im Quantum Grid wird Strom ähnlich den Quanten in der Quantenmechanik als einzelne Pakete oder Teilchen verbreitet – ganz so wie Datenpakete im Internet. Verbraucher könnten die kleinen Strompakete je nach Bedarf von einem Stromerzeuger anfordern. Anschließend bahnen sie sich selbstorganisiert den günstigsten Weg durch die Leitungen. Auf digitalen Labeln sind Erzeuger und Verbraucher vermerkt, um abrechnen zu können. Die Idee könnte sich tatsächlich als revolutionär herausstellen. Dabei ist sie nur konsequent. Nach dem Internet der Daten und dem Internet der Dinge könnte also das Internet der Energie kommen.

Schon im Jahr 2008 fragten sich Reifenhäuser und sein Geschäftspartner Alexander Ebbes, ob man die Stromversorgung nach diesem Prinzip organisieren könnte. Einen ähnlichen Systemwandel hatte die Telekommunikationsbranche mit der Einführung der Internettelefonie bereits eingeläutet. Und damit kannten sich Reifenhäuser und Ebbes aus, denn ihre Firma, die GIP AG in Mainz, ist ein Mittelständler, der Software für große Telekommunikationsunternehmen entwickelt.

Spätestens als im Jahr 2011 die Reaktorhavarie von Fukushima die Energiewende in Deutschland einläutete, hatte Reifenhäusers Lösung auch ihr Problem gefunden. "Die Netzbetreiber versuchen zwar schon, mit dem sogenannten Smart Grid die schwankende Erzeugung zu managen", sagt Reifenhäuser. "Doch der eigentliche Kern des Problems, der Zentralismus, bleibt bestehen." Im Smart Grid sollen Windräder und Solarzellen zu großen, virtuellen "Flächenkraftwerken" zusammengefasst werden, zentrale Stromspeicher dienen als Puffer für kurzfristige Schwankungen.

Aber die damit mögliche Flexibilität ist begrenzt. Denn nach wie vor sind sämtliche Erzeuger über die gemeinsame Netzfrequenz von 50 Hertz fest miteinander verbunden. "Das kann man sich wie eine starre Kopplung von sehr vielen Motorwellen vorstellen, die über Zahnräder ineinandergreifen", erklärt Reifenhäuser. "Dreht da einer mal zu schnell oder zu langsam, knirscht es sofort im ganzen System." Das Phänomen ist in der Elektrotechnik als 50,2-Hertz-Problem bekannt.

Ändert sich die Netzfrequenz um mehr als 0,2 Schwingungen pro Sekunde, gehen viele der heute hochgezüchteten, empfindlichen Generatoren kaputt. Die Netzbetreiber sind mehr oder weniger hilflos dem Ohmschen Gesetz und den Kirchhoffschen Regeln ausgeliefert – jenen physikalischen Gesetzmäßigkeiten, nach denen sich der Stromfluss abhängig vom Widerstand und der Anzahl der möglichen Leitungen verteilt.

Im Quantum Grid sollen dagegen an neuralgischen Netzknotenpunkten spezielle Router stehen. Diese intelligenten Transformatoren grenzen Gebiete mit gleicher Spannung und Frequenz im Netzwerk gegen andere Gebiete ab. Diese können sogar ganz andere Spannungen und Frequenzen haben und sogar mit Gleichstrom statt mit Wechselstrom betrieben werden. Stromschwankungen oder gar Blackouts in einem Teilnetz würden sich nicht auf andere Teilnetze übertragen.

"Auch beim Wiederhochfahren des Netzes nach großflächigen Störungen könnte die Quantelung des Stroms von Vorteil sein", sagt Gabriël Clemens, technischer Vorstand des Verteilnetzbetreibers VSE, dem größten Stromlieferanten im Saarland. "Wie bei einer intelligenten Verkehrsführung könnten wir beim Quantum Grid wesentlich besser dosieren, welche Strommengen wohin gelangen."

Doch Bernd Reifenhäuser weiß, dass er nur mit einem funktionierenden Demonstrationsmodell überzeugen kann. "Wir hatten großes Glück, dass ein an der RWTH Aachen entwickelter Gleichspannungswandler genau zu unserem Konzept passte", erzählt er. Das Besondere: Dieser Wandler hat eine Arbeitsfrequenz von 1000 statt der üblichen 50 Hertz. Ursprünglich sollte das nur Kosten einsparen, weil bei höheren Frequenzen das magnetische Material besser ausgenutzt werden kann und man deshalb nicht so viel davon braucht. Eine hohe Schaltfrequenz ist aber auch essenziell für eine schnelle Bearbeitung der einzelnen Strompakete im Quantum Grid. Nun soll der Wandler aus Aachen Herzstück des Routers für das Strom-Internet werden.

Zusammen mit dem E.on Energy Research Center an der RWTH hat Reifenhäuser einen Förderantrag für das ProPhet-Projekt beim Bundeswirtschaftsministerium gestellt. Dabei wird das Stromnetz eines Passivhauses auf dem Gelände des Forschungszentrums Jülich auf ein Quantum Grid umgestellt. Außerdem bereitet er mit Industriepartnern und zwei weiteren Universitäten einen Antrag bei der EU für den Bau eines Testnetzes vor – idealerweise an der RWTH Aachen.

Die Japaner sind mit ihrem "Digital Grid Consortium" unter Führung des Tokioter Professors Rikiya Abé allerdings schon etwas weiter. Abé hatte seine Idee eines Strom-Internets kurz nach Reifenhäuser publiziert und konnte immerhin noch ein japanisches Patent ergattern. In einem Hotelkomplex verbindet sein Digital Grid nun Solarzellen, Batterien und eine geothermische Stromquelle. Gerade hat Abé eine staatliche Förderung von drei Millionen Dollar für sein Projekt erhalten, um in seiner Heimat Fukushima eine größere Version zu installieren.

Größtes Hindernis für ein Quantum oder Digital Grid ist aber, dass weder die Deutschen noch die Japaner bisher eine Kostenabschätzung für die Umstellung vorlegen konnten. Auch die entstehenden Verluste sind noch weitgehend unerforscht. An der Universität von Barcelona hat der Elektroingenieur Andreas Sumper immerhin schon untersucht, wie die Preisverhandlungen über die Lieferung der Strompakete laufen könnten. Der Austausch liefe dabei einfach auf einer anderen Frequenz über die vorhandenen Stromleitungen. Lokale Kleinerzeuger wären bei seinem Marktmodell im Vorteil, weil sie nur einen kurzen Weg durch das Leitungsnetz benötigen.

Den größten Vorteil des Quantum Grids sieht Reifenhäuser denn auch in der Tatsache, dass es keine zentrale Steuerung mehr braucht. Damit wäre das Quantum Grid auch für kleinste Erzeuger offen. Selbst zur Abrechnung der gelieferten Energie bräuchte man beim Einsatz von Bitcoins keine zentrale Instanz mehr. Ein solches Netz wäre ideal für unterentwickelte Regionen, in denen es ohnehin kaum verlässliche Stromnetze gibt. (bsc)