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Der Junge Mann und das Meer

Jens Lubbadeh

Unsere Ozeane sind voller Plastikmüll, der in riesigen Strudeln umhertreibt und in immer kleinere Teile zerfällt. Das Plastik ist eine Gefahr für die Tierwelt und für uns. Ein 19-Jähriger hat eine Idee, wie wir das scheinbar unüberwindliche Problem lösen könnten. Und er meint es ernst.

Unsere Ozeane sind voller Plastikmüll, der in riesigen Strudeln umhertreibt und in immer kleinere Teile zerfällt. Das Plastik ist eine Gefahr für die Tierwelt und für uns. Ein 19-Jähriger hat eine Idee, wie wir das scheinbar unüberwindliche Problem lösen könnten. Und er meint es ernst.

Es ist wirklich Zufall, dass Boyan Slats Hauptquartier in der DREAM Hall der TU Delft ist. Aber kein Ort könnte passender sein, steht das Akronym doch für Dream Realisation of Extremely Advanced Machines. Hier werden Träume nicht nur geträumt, sondern gebaut. Es ist laut in der riesigen Halle. Sägen kreischen, Bohrer dröhnen, Hämmer klappern, während die Studenten sich hier austoben und Maschinen bauen, die es noch nicht gibt. Slats Maschine ist aber selbst für dieses Ambiente eine Besonderheit. Sie ist 100 Kilometer groß, vier Kilometer tief und 317 Millionen Euro teuer. Die Dimension passt zur Aufgabe, soll sie doch eines der größten Probleme unserer Zeit lösen: die zunehmende Vermüllung unserer Ozeane mit Plastik. Slats sogenannter Ocean Cleanup Array ist eine gigantische Filteranlage für die Meere. Wenn sie fertig ist, besteht sie aus einer vollautomatisierten Sammelplattform, aus der v-förmig zwei lange Arme ins Wasser ragen.

Jeder ist 50 Kilometer lang und besteht aus schwimmenden Segmenten. Sie halten eine mit Gewichten beschwerte Plane, die drei Meter ins Wasser ragt. Die gigantische Anordnung wird von einer ausgeklügelten Seiltechnik gespannt und am Meeresboden verankert. Das Maul des Vs ist 120 Grad weit geöffnet und exakt so ausgerichtet, dass die Meeresströmung das Wasser und mit ihm den Plastikmüll hineintreibt. Die gefangenen Partikel treiben unaufhaltsam zum Zentrum der Anlage und konzentrieren sich dort. Förderbänder und Schlammpumpen fischen sie aus dem Wasser, in einem Stahlbehälter werden sie vollautomatisch verdichtet und gespeichert, bis das Transportschiff kommt und den Müll abholt, alle 45 Tage einmal. Denn so lange dauert es nach Boyan Slats Berechnungen, bis der 3000 Kubikmeter große Speicher der Plattform wieder voll ist. Das gesammelte Plastik soll dann entweder recycelt oder in Öl umgewandelt werden.

Klingt wie ein Traum? Vor knapp zwei Jahren war es das auch noch. Aber nun hält ein ziemlich müder Boyan Slat ein schweres, 528 Seiten dickes Buch in der Hand. Sein Titel: "Wie die Ozeane sich selbst reinigen können. Eine Machbarkeitsstudie". Der Deckel ist aus buntem Kunststoff – recyceltes Plastik aus den Meeren. Slat hat mit einem Team von über einhundert Leuten ein Jahr Arbeit und zwei Millionen Euro in die Studie investiert, die zum Teil per Crowdfunding finanziert wurde. Sie soll beweisen, dass sein Traum kein Schaum ist.

Rückblende: Es ist der 5. Oktober 2012. Nur wenige Meter von der DREAM Hall entfernt auf dem gewaltigen Campus der TU Delft steht ein Achtzehnjähriger auf der Bühne der Aula. Hier finden die TEDxDelft-Talks statt, die holländischen Ableger der renommierten TED-Vorträge, auf denen Visionäre ihre Ideen präsentieren. "Ideas worth spreading" lautet der Slogan. Und Slats Idee wird sich sehr bald schon im Netz verbreiten, nachdem der Vortrag als Video erscheint.

Die Geschichte nahm ihren Anfang, als er sich mit 16 Jahren im Tauchurlaub in Griechenland über die vielen Plastiktüten im Wasser ärgerte. Wie könnte man die Meere nur wieder sauber bekommen, fragte er sich. Die Idee der sich selbst reinigenden Ozeane hatte er in einem Schulprojekt, dann skizzierte er sie in einem Restaurant, klassisch auf einer Serviette. Und nun steht er hier, um sie zu präsentieren.

Man sieht die großen grünen Augen kaum, die entfernt an Frodo den Hobbit erinnern. Seine Stirnhaare verdecken sie. Er hat ein weißes Hemd an, das er nicht in die Hose gesteckt hat. Dazu Puma-Schuhe. Er tritt unruhig von einem Fuß auf den anderen. "Ich war sehr aufgeregt", erzählt Boyan Slat fast zwei Jahre später in der DREAM Hall. "Es war mein erster öffentlicher Vortrag überhaupt."

Er beginnt ihn mit epischem Gestus und gefalteten Händen: "Once there was a stone age", hebt er an, "...a bronze age...", er öffnet die Hände und hebt die linke Hand. "And now we are in the middle of the plastic age." Und man sieht es – unsere Ozeane sind voller Plastikmüll. "Why don't we just clean this up?", fragt er. Slats TED-Vortrag schlug ein wie eine Bombe. Innerhalb kürzester Zeit wurde das Video viral, mit bis heute 1,5 Millionen Aufrufen. Die anschließende Crowdfunding-Kampagne für die Machbarkeitsstudie sammelte 89000 Euro ein.

Boyan Slat ist der Enkel des Plastikzeitalters, das nun schon seit 70 Jahren dauert. Seine Kehrseite ist der Müll, der mittlerweile überall in unseren Ozeanen schwappt. All die Einkaufstüten, PET-Flaschen, Verpackungen, die vom Winde verweht, illegal entsorgt, von Schiffen geworfen irgendwann im Meer landen und seine Bewohner gefährden. Fische, Delfine und Vögel halten den Kunststoff für Nahrung, fressen ihn, er verstopft ihre Mägen und Därme, die Tiere verenden. Die Plastikteile sind außerdem Transportmittel für gefährliche Passagiere. Mit ihnen reisen Algenblüten, Bakterien, und vor allem lagern sie Chemikalien wie PCB, DDT oder hormonell wirksame Weichmacher an.

Das Problem wird immer größer, denn der Plastikmüll wird immer kleiner – mürbe gemacht von den UV-Strahlen, ausgelaugt vom Salzwasser, zermahlen vom Wellendruck. Was nicht gefressen wird, sinkt ab, landet an den Stränden oder sammelt sich an Stellen weit draußen auf den Ozeanen: den großen Meeresdriftwirbeln. Sie entstehen durch Winde und die Erdrotation, ähnlich den Abflüssen unserer Badewannen und Waschbecken – nur dass es in ihnen keinen Abfluss gibt. Das Plastik, das einmal in diesen Mahlströmen gefangen ist, treibt dort für Jahrhunderte. So lange braucht es zum Verrotten.

Genau deshalb will Slat es herausfischen. Er ist nicht der Erste, der die Ozeane säubern will. Der Designer Ralph Schneider beispielsweise schlägt vor, automatisierte Schiffe mit Netzen auf Säuberungstour zu schicken. Floating Horizon nennt er die Idee. Eine weitere ist das Clean Oceans Project, das den eingesammelten Plastikmüll gleich an Bord in Treibstoff umwandeln will. Der Chicagoer Designer Elie Ahovi schickt sein futuristisches Drohnenkonzept ins Rennen: Eine autonome Mini-U-Boot-Flotte soll die Meere reinigen. Einem Architektenhirn entsprang die Idee, aus dem Plastikmüll künstliche Inseln zu erschaffen, auf denen wir einmal leben könnten. Alternativ soll ein Unterwasser-Fisch-Tower Plastik aufsaugen und daraus die Basis für Fischfarmen machen – irgendwie.

Sogar die Design-Legende James Dyson beteiligt sich an dem Ideen-Jahrmarkt: Er hat einen mobilen Wasserstaubsauger vorgeschlagen, der Flüsse "durchsaugen" soll. Selbst wenn diese Konzepte über den Status reiner Designstudien hinausgehen – sie scheitern letztlich an einem Fakt: dem gewaltigen Ausmaß der Vermüllung. Es gilt eine Fläche zu säubern, die größer sein dürfte als der gesamte amerikanische Kontinent. So genau weiß das noch niemand, weil es keine exakten Daten über die Ausmaße der Müllwirbel gibt. Schickte man ein Putzgeschwader los, wäre das Plastik wahrscheinlich zerfallen, bevor die Reinigungsmaschinen fertig wären. Die Putzschiffe würden zudem Unmengen an Energie verbrauchen und viele Milliarden Euro kosten.

Hier kommt Slats neue Idee: "Warum sich durch die Ozeane bewegen, wenn sie es doch für dich tun?" Sein Array bleibt an einem Ort im Wirbel und siebt das Plastik aus dem strömenden Wasser heraus – ähnlich wie eine Muschel, die Nahrung aus der Strömung filtert. Dass die Idee im Prinzip funktioniert, haben Slat und sein Team mit einer 40 Meter großen Pilotanlage auf den Azoren gezeigt. Die Filterarme fischten all das Plastik heraus, das Slat ins Wasser warf.

Die realen Verhältnisse machen die Aufgabe allerdings ungleich schwerer. Nicht alle Plastikarten treiben oben. Manche sinken auf den Grund, und ein Teil schwebt irgendwo in der Wassersäule. Die Sammelarme reichen aber nur drei Meter tief. Um zu wissen, wie viel tatsächlich hängen bleiben würde, hat Slat die Plastikkonzentrationen im Nordatlantikwirbel in verschiedenen Tiefen gemessen. Ergebnis: Der Hauptmasseanteil des Plastiks schwimmt in den oberen drei Metern. "Und dieses Plastik ist auch das entscheidende", sagt er, "weil es in die Nahrungskette gelangt." Mithilfe aufwendiger Computersimulationen der komplexen Strömungsverhältnisse hat Slat errechnet, dass seine Anlage innerhalb von zehn Jahren etwa 70000 von den geschätzten 140 000 Tonnen im Nordpazifikwirbel herausfischen könnte.

Mithilfe der Simulationen hat Slat auch schon die perfekte Stelle für sein Ocean Cleanup Array ausgemacht: im Nordpazifik, 30° N, 138° W, 1660 Kilometer vor der Küste San Franciscos. Dort ist der Ozean zwischen 2000 und 4900 Meter tief. Die Verankerung am Grund sei aber kein Problem, meint er. Schließlich hätten Ölförderunternehmen bereits Tiefen von 2500 Metern gemeistert. Die gesamte Anlage inklusive Betrieb für zehn Jahre soll 317 Millionen Euro kosten. Das macht 4,53 Euro pro Kilo beseitigtes Plastik. So viel wird auch für Strandsäuberungen veranschlagt.

Doch nicht jeder ist von der Idee begeistert. Stiv Wilson, Pressesprecher der Umweltorganisation 5Gyres, die sich seit vielen Jahren mit der Problematik beschäftigt, Strandsäuberungen organisiert und für einen verantwortungsvolleren Umgang mit Plastik kämpft, ätzt in einem langen Beitrag gegen Slats Konzept. Es sei ein Luftschloss, genau wie die vielen anderen Säuberungskonzepte vor ihm. Sie alle seien aufgrund der gewaltigen Größe der Ozeane zum Scheitern verurteilt und lenkten nur von der viel wichtigeren Aufgabe ab: die Plastikvermüllung von vornherein zu verhindern.

Slats Konzept verschaffe der Kunststoffindustrie ein Feigenblatt, um genauso weiterzumachen wie bisher. Außerdem würden die Wirbelströme früher oder später das Plastik ausstoßen. Daher könne man es genauso gut am Strand aufsammeln, wie es zahlreiche NGOs bereits tun. Man könnte darüber hinaus Fischern Anreize bieten, Plastikmüll zu entsorgen. Die Initiative "Fishing for Litter" beispielsweise ermuntert Fischer in Nord- und Ostsee dazu, den unerwünschten Plastikbeifang im Hafen zu entsorgen. "Waste Free Oceans" bezahlt ihnen sogar 300 Euro pro Tonne gesammelten Plastikmülls.

Weitere Kritikpunkte Wilsons: Das Plastik sei von zu schlechter Qualität und nicht mehr verwertbar. Zudem sei Slats Array eine Gefährdung für Plankton und Fische. Wilson steht nicht allein. Mehrere Ozeanforscher veröffentlichten als Reaktion auf Slats Vorschlag eine Sammlung von "Leitlinien für Erfinder von Ozeansäuberungssystemen", in denen sie diese und noch andere Punkte ansprachen. "Für mich war die Machbarkeitsstudie die Antwort auf alle Kritik", sagt Slat ruhig. Minutiös handelt er auf den 528 Seiten jeden Einwand mithilfe wissenschaftlicher Belege ab. An der Studie haben viele Wissenschaftler mitgearbeitet. Ozeanografen und Offshore-Ingenieure haben sie geprüft und für valide befunden. Aufgrund ihres Umfangs werde sie zwar kein wissenschaftliches Fachmagazin komplett veröffentlichen können, sagt Slat. Manche Teile daraus werde er aber separat einreichen.

Seine Antworten auf die Kritik zusammengefasst:

- Fische und Plankton schlüpfen unter dem Vorhang hindurch. Nur sehr wenig Biomasse wird im Filter landen.

- Die Filteranlage beeinträchtigt die Seefahrt nicht. Das Array schwimmt außerhalb der Wirtschaftszonen. Schiffe müssen einen Umweg von maximal 700 Metern machen.

- Die Qualität des Plastiks ist laut Laboranalysen besser als erwartet. Es lässt sich in Dieselöl für Tanker umwandeln.

- Der CO2-Fußabdruck des Arrays entspricht maximal der Produktion von 1400 Autos.

- Die Wirbeldriftströme stoßen nur einen sehr kleinen Teil des Plastiks aus.

Aber auch Slat weiß, dass sein Array nicht dauerhaft als Kläranlage der Meere dienen kann. "Ich habe immer gesagt, dass vor allen Dingen die Müllvermeidung unbedingt notwendig ist." Hier tut sich immer mehr: Forscher entwickeln beispielsweise Kunststoffe, die schneller abbaubar sind als bisher. Dazu gehört auch "Mater-Bi", ein Kunststoff aus Pflanzenölen, Zucker, Stärke und Erdöl.

Es besitze gleiche Eigenschaften wie Polyethylen und eigne sich daher perfekt als Verpackungsmaterial und Wegwerfplastik, verspricht der Hersteller, die italienische Firma Novamont. Es soll innerhalb weniger Monate vollständig kompostierbar sein, aber das vielleicht Wichtigste im Gegensatz zu so vielen anderen vergleichbaren Bioplastik-Produkten: Mater-Bi zersetzt sich nicht nur an Land, sondern auch im Meerwasser – innerhalb von 200 Tagen soll der Hauptteil abgebaut sein. Der Haken: Es ist dreimal so teuer wie herkömmliches Polyethylen. Auch der Gesetzgeber greift ein. Die Europäische Union will den Verbrauch von Plastiktüten regulieren und um 80 Prozent senken. In der EU werden jährlich etwa 100 Milliarden Einwegplastiktüten verwendet, acht Milliarden landen im Meer.

Die Vermeidungsstrategien scheinen bereits erste Erfolge zu zeigen. Das jedenfalls legte eine im Jahr 2010 veröffentlichte Studie im Fachmagazin "Science" nahe. Forscher um Kara Lavender Law der Woods Hole Oceanographic Institution hatten darin das Ausmaß der Plastikmüllbelastung im Nordatlantik und der Karibik untersucht – von 1986 bis 2008. Das überraschende Ergebnis: Die Menge des Plastikmülls im Meer war zwanzig Jahre lang nahezu konstant geblieben, obwohl sich die Produktion in den USA zwischen 1978 und 2008 verfünffacht und die Müllmenge vervierfacht hatte. Im Ozean hätten sich also auch Zunahmen finden müssen.

Bezeichnend war, dass Lavender Law und ihre Kollegen deutlich weniger Plastikpellets im Ozean fanden. Dieser industrielle Basisstoff für viele Endprodukte wurde früher häufig beim Verladen von Schiffen ins Meer geschüttet. 1991 leiteten die Hersteller auf Druck der US-Umweltbehörde Maßnahmen ein, um die Verschmutzung zu vermindern. Offensichtlich mit Erfolg. Die Autoren bezweifeln, dass dies allein die große Diskrepanz erklären kann. Ist das Plastik also längst in kleinste Partikel zerrieben und von den Meeresbewohnern aufgefressen worden?

Mikroplastik nennen Forscher diese Form des Mülls. Um die genaue Definition des Begriffs streiten Wissenschaftler zwar noch, aber in der Regel fällt darunter alles, was kleiner als fünf Millimeter und größer als einen Mikrometer ist (ein Mikrometer ist ein millionstel Meter). Das klingt harmlos, aber womöglich ist das die noch gefährlichere Seite des Plastik-Problems. Die Partikel sind so winzig, dass nicht nur Fische sie fressen, sondern sogar Plankton – und mit ihnen all die gebundenen Giftstoffe. Weil das Plankton am Anfang der marinen Nahrungskette steht, könnte mit jeder weiteren Stufe die Menge an Kunststoff und Chemikalien kumulieren. Und am Ende landet die Plastiksuppe auf unserem Teller. Slats gigantische Filteranlage mag vielleicht das Makroplastik-Problem lösen, aber am Mikroplastik scheitert auch er. Die Anlage kann nur Teilchen größer als 35 Millimeter herausfischen. Das Mikroplastik schwebt für gewöhnlich tiefer als drei Meter.

Gerd Liebezeit kennt das Problem nur zu gut. Schließlich war er der Erste, der das Thema Mikroplastik in Deutschland auf die Agenda gesetzt hat. Liebezeit zupft an seinem Pulli – reine Baumwolle. Auch wenn sie praktisch sind, Liebezeit trägt keine Fleecepullis, weil er weiß, dass die nicht gut sind. Bei jedem Waschgang reibt die Maschine aus ihnen bis zu 2000 Kunststoff-Mikrofasern heraus, die ins Abwasser gelangen. Er seufzt. "Das kleine Plastik ist längst überall." Er zeigt aus dem Fenster seines Hauses in den Garten: "Es ist in Regentropfen, in der Erde, auf den Blumen." Kürzlich hat er Mikroplastik sogar im Honig gefunden. Eigentlich ist der gemütliche Holsteiner, der bis vor Kurzem Abteilungsleiter des Instituts für Meereschemie der Universität Oldenburg war, schon in Rente. Aber seit diesem Fund ist er ständig mit Interviews beschäftigt. Denn das Thema kocht seit Monaten immer wieder hoch.

Gerd Liebezeit ist normalerweise die Ruhe selbst. Aber bei diesem Problem wird der Mann mit dem wettergegerbten Gesicht, den kurz geschorenen Haaren und dem Zupfbärtchen emotional. Als ob es nicht schon schlimm genug wäre, dass aus dem großen Plastikmüll früher oder später Mikroplastik wird, stellt die Industrie die kleinen Teilchen auch noch tonnenweise her. Liebezeit holt eine Tube mit Hautpeelingcreme und dreht sie um. Unter den Inhaltsstoffen zeigt er auf das Wort "Polyethylene": Plastikkügelchen, Microbeads genannt. Sie sind auch in Zahnpasta, Hautcremes, Duschgels und Windeln. Liebezeits Frau kommt mit einer Tasse Kaffee, sie reicht einen gehäuften Teelöffel – das Pulver darauf sieht aus wie Zucker. "Tun Sie das besser nicht in den Kaffee", sagt sie. Als sie etwas Wasser auf den Löffel gießt, wird klar, warum.

Es dauert nur wenige Sekunden, bis das Wasser ganz verschwunden ist. Das Pulver ist nun eine glitschige Masse. Es ist Natriumpolyacrylat und saugt in Windeln die Flüssigkeit auf. Seit etwa zehn Jahren gibt es immer mehr Produkte mit Mikroplastikkügelchen. Sie seien, so die Begründung der Hersteller, viel schonender für Haut und Zahnschmelz.

Auch im Genfer See und in den Großen Seen in den USA haben Forscher die Feinstpartikel schon gefunden. Christian Laforsch, Tierökologe am Bayreuther Zentrum für Ökologie und Umweltforschung, entdeckte im Gardasee sogar "mehr als 1000 Teilchen pro Quadratmeter". Das sind vergleichbare Werte zu denen im Meer.

Wie das Mikroplastik dorthin kommt, ist nicht ganz klar. Wahrscheinlich gelangt es mit dem Wind und dem Regen aus Mülldeponien ins Wasser. Nun will Laforsch im Auftrag des Bayerischen Umweltministeriums wissen, wie stark bayerische Gewässer schon mit Mikroplastik kontaminiert sind und welche Auswirkungen es auf Tiere hat. Bisher gibt es nur wenige Untersuchungen an Meeresmuscheln, Wasserflöhen, Schnecken und Würmern. Bewiesen ist, dass die Tiere die Teilchen aufnehmen. Bei den Muscheln ging das Mikroplastik durch den Verdauungstrakt ins Gewebe und verursachte Entzündungen. "Auch Wasserflöhe lagern sie ein", sagt Laforsch. "Die in ihnen enthaltenen Weichmacher könnten möglicherweise hormonelle Wirkungen entfalten."

Hersteller haben zwar vereinzelt verkündet, auf Mikroplastik verzichten zu wollen, beispielsweise Unilever. Zeitlich festlegen wollen sie sich jedoch nicht. Dabei gäbe es Alternativen. Forscher vom College of William and Mary in Virginia haben biologisch abbaubare PHA-Microbeads erfunden und patentieren lassen. Oder man greift wieder auf Altbewährtes zurück: "Sägespäne, Schlämmkreide, Muschelschalen", sagt Liebezeit. "Kann man alles fein genug zermahlen." In den USA haben einzelne Staaten auch schon Microbead-Verbote eingeleitet. Illinois will Kosmetika mit Mikroplastik ab 2019 verbieten. Kalifornien und New York haben ähnliches vor. Und verschiedene NGOs fordern unter der Kampagne "Stop the Microbead!" sogar ein weltweites Verbot der Kügelchen.

Bis es so weit ist, gelangen die Microbeads jedoch weiter tonnenweise ins Abwasser – und darüber in die Umwelt. Wie viel genau, will Gunnar Gerdts vom Alfred-Wegener-Institut herausfinden. Er untersucht derzeit das Abwasser und den Klärschlamm mehrerer Kläranlagen, um herauszufinden, ob sie die Kleinstpartikel durchlassen oder nicht. Falls ja, müsste man die Kläranlagen mit teuren Membranfiltern nachrüsten.

Ergebnisse will Gerdts noch nicht verraten, er ist jedoch optimistisch, dass zumindest das meiste mit dem sehr fetthaltigen Klärschlamm aus dem Wasser eliminiert wird. Einen Hinweis darauf, dass dem tatsächlich so sein könnte, hat Christian Laforsch bei seinen Untersuchungen am Gardasee gefunden: "Das Mikroplastik dort stammte fast ausschließlich aus zerfallenem Plastikmüll, der auf dem Landweg dorthin gelangte. Industrielles Mikroplastik aus Kosmetika haben wir nicht gefunden."Allerdings ist das nur ein schwacher Hinweis, denn es gibt am Zulauf des Sees keine großen Ortschaften und somit wenige Kläranlagen.

Wenn auch noch ungeklärt ist, ob die Anlagen ein wirksamer Filter für Mikroplastik sind oder nicht – klar ist auf jeden Fall, dass über Wind und Regen zerriebenes Plastik in die Gewässer und Meere gelangt. Aber vielleicht haben wir bei diesen Partikeln ja schon Hilfe, ohne es zu wissen?

Tracy Mincer staunte nicht schlecht, als er 2012 durch sein Mikroskop blickte. Der Forscher der Woods Hole Oceanographic Institution sah viele kleine Löcher auf der Oberfläche der Plastikstücke, die er mit seinen Kollegen aus dem Atlantik gefischt hatte. Löcher, wo eigentlich keine sein sollten, gerade einmal zwei Mikrometer groß. Und in ihnen, bequem eingebettet, waren runde Bakterien. "Es sah ganz so aus, als hätten sie sich in das Plastik hineingefressen", sagt Mincer. Die Löcher waren in Reihen oder Flecken angeordnet, wie kleine Kolonien. "Für sie ist der Plastikmüll wie ein kleines Riff", sagt Mincer. Plastisphäre taufte er diesen neuen Lebensraum. Hatten die Bakterien das Plastik angedaut?

Mithilfe von Elektronenmikroskopen, Spektroskopen und Genanalysen fanden die Meeresbiologen mehr als 50 verschiedene Bakterienarten. Unter den potenziellen Plastikfressern identifizierte Mincer auch alte Bekannte: Bakterien, die man in diesel- und ölverseuchten Gegenden aufgespürt hatte. Obwohl er nicht weiß, ob diese Spritfresser auch Plastik verdauen können, vermutet er, dass ihnen das vielleicht im Konzert gelingt. Dieser Fund speist Fantasien: Wäre es möglich, aus den Mikroben richtige Plastikfresser zu züchten?

Wolfgang Streit ist eine Landratte. Im Hamburger Botanischen Garten oder an der Elbe sucht der Mikrobiologe von der Universität Hamburg bakterielle Plastikfresser. Nicht, weil er das Mikroplastik-Problem lösen will, sondern weil Sportbekleidungs-hersteller nicht möchten, dass ihre synthetischen Stoffe bei jedem Waschgang unschöne Knötchen bilden. Die Firmen hätten gern die Enzyme aus dem Stoffwechsel der Plastikfresser-Bakterien, um sie Waschwasser zuzugeben und die Knötchen aufzulösen. Dass sie nebenbei auch noch Mikrofasern und -plastik zersetzen würden, wäre ein willkommener Beitrag für die Umwelt.

Davon ist Streit aber noch weit entfernt. Manche träumen daher davon, mit Gentechnik nachzuhelfen. Doch selbst wenn es solche Bakterien gäbe – natürliche oder künstliche –, sie hätten es in den Ozeanen nicht leicht. "Es ist einfach zu kalt, die biologische Aktivität ist viel geringer als an Land", sagt Tracy Mincer. Er hält es auch für gar keine gute Idee, einen Super-Plastikfresser zu züchten. "Angenommen, wir würden so ein Bakterium in die Müllwirbel schütten – früher oder später käme es zu uns zurück und würde dann auch all unser ,gutes' Plastik zerstören." Gar nicht zu reden von den Giftstoffen, die dann plötzlich freiwürden. Und wie wäre es, wenn man dann eben nur Enzymcocktails ins Meer geben würde? Wolfgang Streit schüttelt den Kopf: "Das ist gute Science-Fiction, wird aber nicht klappen. Die benötigten Mengen wären einfach viel zu groß."

In Binnengewässern hält er das aber "durchaus für denkbar". Ökologe Laforsch sieht solche biologischen Eingriffe hingegen äußerst kritisch: "Sie wissen nie, welche Folgen das haben kann." Was also tun? Weniger Plastik wegwerfen, auf abbaubares umsatteln. Und auf Boyan Slat hoffen. Gerade hat er eine neue Crowdfunding-Kampagne gestartet, um eine große Pilotanlage zu finanzieren und sein Konzept zu verfeinern. Zwei Millionen Dollar will er dieses Mal einsammeln. 500000 hat er schon und noch 89 Tage Zeit. In etwa fünf Jahren will er das Array bauen. "Über die Finanzierung mache ich mir keine Sorgen", behauptet Slat selbstbewusst. Einige reiche Persönlichkeiten haben bereits angeklopft. Bill Gates vielleicht? Oder Richard Branson? Slat lächelt. "Jemand in dieser Kategorie."

Und dann? "Ich werde sicher irgendwie involviert sein. Aber ich habe noch so viele Interessen. Mal sehen." Da ist das auf Eis gelegte Studium der Luft- und Raumfahrt, das er fortführen möchte. Auch im All gäbe es Aufgaben für ihn: "Der ganze Weltraummüll im Orbit", sagt Slat grinsend. "Den muss ja auch noch jemand aufräumen." (jlu [1])


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