Der Stadtmensch

Der Stadtarchitekt Jan Gehl sammelt seit 50 Jahren Daten über Menschen in Städten, um daraus Konzepte für lebenswerte Ballungsräume zu entwickeln.

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Von
  • Hanns-J. Neubert

Der Stadtarchitekt Jan Gehl sammelt seit 50 Jahren Daten über Menschen in Städten, um daraus Konzepte für lebenswerte Ballungsräume zu entwickeln.

Warum hassen die Architekten die Menschen so sehr?" Es war diese provokante Frage seiner späteren Frau, der Psychologin Ingrid Mundt, die der damals 28-jährige Jan Gehl fortan stets in seinen Forschungen und seinem Wirken als Stadtarchitekt zu entkräften suchte. Damit machte er sich nicht unbedingt immer beliebt – zumindest nicht auf den ersten Blick.

So erweckte der schwarz gekleidete, bärtige junge Mann, der 1965 mit Stift und Schreibblock tagein, tagaus auf den Stufen des Kapitänspalastes im italienischen Ascoli saß und sich Notizen machte, ziemlichen Argwohn bei den Einwohnern – bis die Lokalzeitung ihn zerstreute. Nein, das sei kein provozierender Beatnik, sondern nur ein dänischer Architekt, schrieb sie. Jan Gehl befasste sich damals erstmals mit dem "Leben zwischen Häusern" – so der Titel seiner 1971 als Buch erschienenen Doktorarbeit. Sein Forschungsobjekt war die Piazza del Popolo, das Wohnzimmer der Stadt. Nach seinem Studienabschluss 1960 hatte Gehl an der Königlich Dänischen Akademie der Schönen Künste in Kopenhagen als einfacher Architekt gearbeitet, bis ein Stipendium ihm die Italienreise ermöglichte.

Beobachten, zählen, messen: Lange bevor Begriffe wie Smart City oder Big Data en vogue wurden, setzte Gehl auf das Sammeln von Daten, um daraus abzulesen, wie lebenswert eine Stadt ist. "In eine gesunde Stadt gehen Menschen, um Menschen zu sehen", so seine Beobachtung. Nicht mehr Einkaufen oder andere Notwendigkeiten stünden im Vordergrund. Sondern die Menschen schauen dem Treiben der anderen zu, stehen in Gruppen und reden oder sitzen einfach nur da.

Diesen Bedürfnissen wollte Gehl gerecht werden – statt sich Denkmäler mit Monumentalbauten zu setzen wie viele andere Architekten in den 1960er-Jahren. Damals blühten die städtebaulichen Modernismus-Visionen, in denen breite Autobahnen und gigantische Wolkenkratzer die Städte prägen sollten. Das war nichts für Gehl: "Erst das Leben, dann die Plätze, dann die Gebäude – andersherum funktioniert es nicht!" Um Städte lebenswert zu machen, so sein Credo, müsse man sie in kleinen Schritten verändern. Nur so nehme man die Menschen mit.

Zwei Jahre nach der Rückkehr aus Italien konnte Gehl dann im Rahmen eines Forschungsauftrags seine Erfahrungen in Kopenhagen anwenden. "Eine fantastische Zeit", erinnert er sich heute belustigt. "Ich saß jeden Dienstag während eines ganzen Jahres am Strøget, der Hauptstraße von Kopenhagen, um den Rhythmus des Jahres, einer Woche, eines Tages herauszufinden. Ich notierte, was an Regentagen, bei Schnee, bei Trockenheit und Hitzewellen passierte. So bekam ich einen guten Eindruck davon, wie die Menschen Kopenhagen nutzten." Er protokollierte, wo die Menschen gehen, wo sie herumstehen, wo sie im Café sitzen und wie lange sie wo bleiben. Der Methode folgt er bis heute: "Wir analysieren diese Beobachtungen und fragen, wie die Situation für die Menschen in dieser speziellen Stadt so verbessert werden kann, dass sie zum Wohnzimmer wird", erläutert Gehl in seinem jüngsten Buch "Wie man öffentliches Leben studiert".

Herausgekommen ist beispielsweise die Strøget in Kopenhagen, die längste Fußgängerzone Europas. Innerhalb von 40 Jahren entwickelte sich die dänische Metropole unter Gehls maßgeblichem Einfluss aus einer autogerechten in eine fußgängergerechte Stadt. Das Kopenhagener Beispiel machte weltweit Schule: Verwaltungen von mehr als 50 Städten engagierten Gehl als Berater, darunter London, San Francisco, Mexiko-Stadt, São Paulo, Shanghai und zahlreiche kleinere Städte, an deren Namen er sich gar nicht mehr erinnern kann.

Zu seinen größten Erfolgen zählt Gehl – neben Kopenhagen – die Transformationen in Melbourne und New York, inzwischen als "Copenhagenization" bekannt. In Melbourne versperrte man den Autos das Stadtzentrum und baute Radwege, die dort "Copenhagen lane" heißen. Die Zahl der Fußgänger in der Innenstadt stieg danach tagsüber um 40, nachts um 100 Prozent. Besonders stolz ist Gehl, dass er 2007 den Bürgermeister von New York überzeugen konnte, den berühmten Times Square autofrei zu gestalten. Der Architekt hatte beobachtet, dass 90 Prozent des Platzes für Autos reserviert waren, obwohl 90 Prozent der Besucher Fußgänger waren. "New York hat zudem in fünf Jahren mehr Radwege gebaut als Kopenhagen in 50 Jahren", freut sich Gehl.

Seine Erfolgsrezepte brachten dem heute 78-Jährigen zahlreiche Gastprofessuren und Auszeichnungen in aller Welt ein. Der bescheidene, freundlich-professoral auftretende, aber immer vergnügte Stadtversteher mit der randlosen Brille jettet noch immer als viel gefragter Experte im schwarzen Architektenoutfit von Kontinent zu Kontinent. Kurz bevor seine 40-jährige Professur an der Architektenschule der Kopenhagener Kunstakademie endete, gründete Gehl im Jahre 2000 sein Unternehmen Gehl Architects. Heute sind dort rund 50 Mitarbeiter im weltweiten Beratungs- und Studieneinsatz. Zu ihnen gehören neben Architekten und Städteplanern auch Anthropologen, Designer, Kommunikations-, Sozial- und Kulturwissenschaftler.

Das Know-how des Unternehmens basiert vor allem auf den enormen Datenmengen, die Gehl, seine Mitarbeiter und Studenten in 40 Jahren auf allen Kontinenten sammelten. Hinzu kommt die digitale Speicherungstechnik, mit der sich diese Daten heute viel leichter als früher verwalten lassen. "Wir haben so viele Informationen aus anderen Städten in allen Größen, dass wir jederzeit direkt und schnell vergleichen und einem Bürgermeister auf Anhieb sagen können, ob sich ein Stadtteil gut oder schlecht entwickeln wird." Ein gutes Zeichen wäre etwa, wenn nach baulichen Änderungen zunehmend mehr Kinder und Alte auf die Plätze kommen.

Beim Datensammeln selbst setzt Gehl allerdings nach wie vor auf den Menschen – auch wenn heute neue Technologien wie GPS-Tracking und Videoüberwachungskameras objektivere Daten liefern. "Wenn Menschen die Zählungen durchführen, können sie Informationen nebenbei erhalten, die entscheidenden Einfluss auf die Interpretation haben." Dabei kann es sich um so triviale Dinge handeln wie eine bessere Ampelschaltung. So stehen auch heute noch Papier und Stift am Anfang neuer Projekte von Gehl Architects – wie vor 50 Jahren, als der Gründer von den Stufen des Kapitänspalastes das Treiben auf der Piazza del Popolo in Ascoli protokollierte. (bsc)