Der Wahrscheinlichkeitschip

Der neuartige "Wahrscheinlichkeits-Prozessor" des Start-ups Lyric Semiconductor soll Speichervorgänge beschleunigen – und auf längere Sicht noch viel mehr.

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Von
  • Tom Simonite

Der neuartige "Probability Processor" des Start-ups Lyric Semiconductor soll Speichervorgänge beschleunigen – und auf längere Sicht noch viel mehr.

Ein Computerchip, der mit Wahrscheinlichkeitsrechnung statt binärer Logik arbeitet, könnte künftig zahlreiche Vorgänge in der IT beschleunigen – von E-Commerce-Anwendungen bis hin zu Flash-Speichern in Smartphones und anderen Gadgets. Der Hersteller, Lyric Semiconductor, hat seinen ersten "Probability Processor" soeben vorgestellt. Er arbeitet mit elektrischen Signalen, die Wahrscheinlichkeiten repräsentieren – und nicht mit digitalen Nullen und Einsen.

"Wir haben dazu fast von vorne angefangen", erklärt Ben Vigoda, Gründer und Chef des Start-ups aus Boston. Seine Doktorarbeit, die er am Center for Bits and Atoms bei MIT-Vordenker Neil Gershenfeld geschrieben hat, lieferte dazu den technischen Unterbau. Durch die komplette Neugestaltung der Hardware sei es möglich gewesen, die notwendigen statistischen Berechnungen leichter und wesentlich stromsparender zu implementieren als auf Basis älterer Technik, sagt er.

Die mathematischen Probleme, die der Chip besonders effizient zu lösen verspricht, kommen in zahlreichen Anwendungen vor. "Beispielsweise basiert das Empfehlungssystem beim Online-Händler Amazon auf Wahrscheinlichkeiten", sagt Vigoda. "Und jedes Mal, wenn man etwas dort kauft, kommen beim Betrugscheck der Kreditkartendaten Algorithmen aus der Wahrscheinlichkeitsrechnung vor. Die E-Mail, die man als Bestätigung erhält, läuft wiederum durch einen Spamfilter auf Basis statistischer Wahrscheinlichkeiten."

All diesen Beispielen ist gemeinsam, dass - in der Regel große - Datensätze verglichen werden müssen, um die jeweils relevanten Informationen zu ermitteln. Die Implementation der dafür notwendigen mathematischen Algorithmen sei bei einem auf Wahrscheinlichkeitsrechnung basierenden Chip leichter, sagt Vigoda. Das erlaube den Bau kompakter und schneller Hardware. Bevor es ans Geld verdienen geht, muss Lyric Semiconductor allerdings zunächst beweisen, dass sein Produkt verlässlich und skalierbar genug arbeitet – und sich vor allem einfach programmieren lässt.

Die elektrischen Signale innerhalb des Lyric-Chips repräsentieren nicht Bits - alos schlicht Nullen und Einsen-, sondern kontinuierlich verteilte Wahrscheinlichkeitswerte. Während die Transistoren konventioneller Chips zu sogenannten NAND-Gattern verschaltet sind, die alle möglichen logischen Verknüpfungen darstellen können, setzt der "Probability Processor" auf Bausteine aus der Klasse der Bayesschen NANDs. Die Bayessche Wahrscheinlichkeitsrechnung ist ein Feld der Mathematik, das nach dem englischen Statistiker Thomas Bayes benannt wurde. Bayes wurde vor allem bekannt für seine Rechenregeln für so genannte bedingte Wahrscheinlichkeiten - also die Frage, wie hoch die Wahrscheinlichkeit für ein Ereignis ist, wenn zunächst eine Bedingung erfüllt sein muss, um dieses Ereignis auszulösen.

Während ein konventionelles NAND-Gatter eine "1" ausgibt, wenn keiner von beiden Eingabewerten zueinanderpasst, repräsentiert der Output eines Bayesschen NAND die Chancen, dass zwei Eingabewahrscheinlichkeiten übereinstimmen. Das macht es möglich, Kalkulationen durchzuführen, die Wahrscheinlichkeiten als Ein- und Ausgabewerte nutzen.

Lyric arbeitet bereits seit 2006 an der Technik – lange Zeit im Stealth-Modus, also ohne sein Firmenziel öffentlich zu publizieren. Dabei kamen Fördergelder unter anderem von der US-Militärforschungsbehörde DARPA. Dort interessiert man sich für potenzielle Anwendungen der Technik im Verteidigungssektor – immer dann beispielsweise, wenn die Informationslage nicht eindeutig ist. Dazu gehören Radiosignale, die Störungen enthalten oder auch Bilderkennungssysteme, die Objekte oder Aktionen per Kamera wahrnehmen sollen. "Man interessiert sich dort für James Bond-artige Anwendungen", grinst Vigoda.

In den nächsten drei Jahren plant man bei Lyric die Herstellung von "Probability Processor"-Prototypen, die für alle möglichen Einsatzzwecke geeignet sind. GPS genannt, sollen sie sich für nahezu jede statistische Aufgabe programmieren lassen. Vorher soll es jedoch noch einen Chip geben, den Lyric für die Beschleunigung von Flash-Speicher-Anwendungen in Smartphones, Tablet-PCs und anderen Geräten entwickelt hat. Entsprechende Lizenzen sind seit dieser Woche verfügbar. Ziel ist es, die Effizienz und letztlich auch die Größe solcher Speichersysteme zu erhöhen.

Flash-Chips legen Daten über Ladungen ab, die auf ihrer Oberfläche "eingefangen" werden. Diese Informationshaufen sind allerdings leidlich instabil und selbst kleine Ladungsveränderungen können die Integrität der abgespeicherten Daten beeinflussen. "Die Differenz zwischen einer Null und einer Eins entspricht nur ungefähr hundert Elektronen", sagt Vigoda. Heute sei aufgrund der eingeschränkten Flash-Größe durchschnittlich eines von 1000 Bits falsch. "In der nächsten Generation wird die Fehlerzahl auf ein Bit von 100 steigen."

Fehlerkorrekturchips können diese Probleme ausgleichen, indem sie einen Prüfwert abfragen, der bei jedem Speichervorgang generiert wird. Diese Prüfsumme wird verwendet, um herauszufinden, ob gespeicherte Daten sich unerwünscht verändert haben. Dann lassen sich die fehlerhaften Nullen und Einsen "umdrehen", wie Vigoda sagt. Dazu seien allerdings statistische Berechnungen notwendig, die nur schwer mit einer rein digitalen Logik zu implementieren seien. "Für unseren Ansatz sind sie dagegen ideal."

Lyric Semiconductor hat seinen Flash-Wahrscheinlichkeitschip zusammen mit einem der größten Hersteller der Speichermodule getestet. Ergebnis: Im Vergleich zu einem herkömmlichen Fehlerkorrekturprozessor benötigte das Spezialteil nur ein Dreißigstel der Fläche und ein Zwölftel der Energie. Nun hofft Vigoda, dass die Technik innerhalb der nächsten zwei Jahre auf den Endkundenmarkt kommt.

Steven Swanson, Computerwissenschaftler an der University of California in San Diego, der unter anderem an leistungsfähigeren Flash-Speichern arbeitet, findet die Idee interessant. Die Fehlerkorrektur entwickele sich immer mehr zum Flaschenhals bei Durchsatz und Kapazität. Das gelte im Übrigen auch für Festplatten, die ihre höheren Speicherdichten in den letzten Jahren zunehmend genauerer Fehlerkorrekturverfahren verdankten. "Im Vergleich zu Festplatten sind wir noch in den frühen Tagen der Flash-Technik. Und da ist es ziemlich klar, dass mit höherer Speicherdichte auch die Fehlerkorrektur immer wichtiger wird."

Noch muss allerdings demonstriert werden, wie gut die Chips von Lyric Semiconductor mit herkömmlicher Hardware zusammenarbeitet. Auch Testreihen würden durch die brandneue Technik verkompliziert, meint Swanson. "Als Flash-Ingenieur müsste ich die Komponenten im Vergleich zu herkömmlichen Chips intensiver prüfen, um mich von ihrer Verlässlichkeit zu überzeugen." (bsc)