Der grüne Revolutionär

Vor 40 Jahren entwickelte Norman E. Borlaug eine besonders ertragreiche und pilzresistente Weizensorte, die seither die Welt ernährt. Doch die Arbeit des Friedensnobelpreisträgers ist längst nicht beendet.

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Von
  • John Pollock

Schon im Jahre 1798 schrieb der englische Ökonom Thomas Malthus, dass die Weltbevölkerung schon rein mathematisch bald keine ausreichende Nahrungsgrundlage mehr habe - sie wachse einfach zu schnell. Hunger, so Malthus’ Fazit, sei die schrecklichste Waffe der Natur. Es dauerte noch weitere 125 Jahre, bis die Weltbevölkerung sich verdoppelt hatte, doch die nächste Verdoppelung erlebte der Planet schließlich in nur 50 Jahren.

In den Vierzigerjahren des letzten Jahrhunderts litten Mexiko, China, Indien, Russland und große Teile Europas unter Hungersnöten. Franklin D Roosevelts weitsichtiger Vizepräsident, Henry A. Wallace, der zuvor US-Agrarminister gewesen war, glaubte, eine Lösung für das Problem gefunden zu haben: Den Einsatz modernster Technologie. Er hatte damit recht: Zur großen, weltweiten Tragödie des Malthus kam es nicht. Einer der Hauptgründe dafür waren Menschen wie Norman E. Borlaug, die Wallace’ Rat folgten. Der "grüne Revolutionär", wie der Pflanzenpathologe mit seinem Ehrentitel gerne genannt wird, stellte den Anbau von Weizen, der Feldfrucht, die die meisten Menschen ernährt, auf eine ganz neue Ebene.

Zwischen 1939 und 1942 halbierte sich die mexikanische Ernte durch einen über die Luft verbreiteten Rostpilz, der Halme und Blätter befällt und die Körner verkümmern ließ. Ängste vor einer Nahrungsmittelknappheit in Kriegszeiten führten zum ersten im Ausland durchgeführten landwirtschaftlichen Programm einer US-Wohlfahrtsorganisation, der Rockefeller Foundation. Das "kooperative Weizen-Erforschungs- und Produktionsprogramm", dessen Mitglied Borlaug 1944 wurde, erwies sich als vorausschauend. Zehn Jahre später kam der erwähnte Pilz nach Nordamerika und zerstörte 75 Prozent der Hartweizenpflanzen, die für die Nudelproduktion verwendet werden.

"Es gab eine Panik in den Landwirtschaftsministerien der USA und Kanadas", erzählt Borlaug, "wir mussten das Programm beschleunigen, um für einen Befall unempfindliche Weizensorten zu schaffen". Borlaug kämpfte mit mangelhafter Ausrüstung, fehlenden Maschinen und hatte nur wenige ausgebildete Wissenschaftler vor Ort. Und dennoch: Bis 1948 ergaben sich die ersten Forschungsergebnisse wie Puzzleteile, "und der Nebel von Schwermut und Verzweiflung lichtete sich", wie Borlaug in seiner jüngsten Biographie "Der Mann, der die Welt ernährte" (Leon Hesser) zitiert wird.

Vor Borlaug suchten Pflanzenzüchter nach neuen Eigenschaften, in dem sie ein paar Dutzend Kreuzungen der bestehenden Varianten im Jahr testeten. Für Borlaug hätte das mindestens 10 Jahre Arbeit bedeutet, um resistente Sorten zu finden. "Dann hätte es einen neuen Ausbruch gegeben. Ich wollte die Dinge beschleunigen." Deshalb sammelte er Weizensorten aus der ganzen Welt und startete ein gigantisches Kreuzungsprogramm. Ungeheuer mühsam sei das gewesen, erzählte er Hesser. "Es gab nur eine Chance in tausenden Versuchen, das zu finden, was wir wollten. Es gab keinerlei Garantie für unseren Erfolg."

Um dem Zufall etwas auf die Sprünge zu helfen, versuchte Borlaug etwas Ungewöhnliches: Er pflanzte seine experimentellen Kreuzungen zwei Mal hintereinander pro Jahr und verdoppelte damit seine Untersuchungsgeschwindigkeit. Das damalige Dogma, dass die Forscher immer in der gleichen Jahreszeit bei einem örtlichen Bauern aussäten, habe ihm beinah das Projekt gekostet, sagt er. Doch mutig wie Borlaug war, pflanzte er seine Testsorten schließlich in qualitativ minderwertigen, regendurchweichten Böden in einer Hochlage in der Nähe von Mexico City. Die interessantesten Varianten nahm er dann Hunderte Kilometer in den Norden mit, um sie als Winterpflanzen im wärmeren, trockeneren und niedriger gelegenen Yaqui Valley anzubauen. Diese "Shuttle-Züchtungen" halfen Borlaug, eine Resistenz gegen den Rostpilz in unter fünf Jahren zu erreichen. Er schuf außerdem enorm anpassungsfähige Sorten, die in mehreren Klimazonen wachsen.

Nach dem Erreichen beider Ziele wendete sich Borlaug den Strukturproblemen der Landwirtschaft zu. Mexikos Weizen wurde stark gedüngt, wuchs zu hoch und brach dann ab, wenn er bewässert oder beregnet wurde. Die Ernte reduzierte sich entsprechend. Nach 20.000 fruchtlosen Kreuzungen hörte Borlaug von einer japanischen Zwergvariante, die Stärke und Robustheit versprach. Er begann Tausende weitere Kreuzungen bis er schließlich 1964 eine "wirklich sehr schöne, kurze Weizenvariante" gefunden hatte. Auch die Erntergebnisse waren hervorragend und die Sorte verbreitete sich schnell in der ganzen Welt. 1968 nannte William Gaud, der Leiter der US-Agentur für internationale Entwicklung, Borlaugs Ansatz, der auch in diversen anderen wichtigen Pflanzenbereichen zu verbesserten Züchtungen führte, die erwähnte "grüne Revolution". Zwei Jahre später wurde Borlaug für seine Arbeit mit dem Friedensnobelpreis geehrt.

Paradoxerweise fand ausgerechnet 1968 auch das Umweltschutzdogma weite Verbreitung, laut dem die Menschheit sich bald nicht mehr ernähren könne. In jenem Jahr, als das weltweite Bevölkerungswachstum mit zwei Prozent jährlich seinen Höhepunkt erreichte, publizierte Paul Ehrlich das Buch "Die Bevölkerungsbombe". Darin schrieb er, der Kampf um die Ernährung der Menschheit sei verloren. "Hunderte Millionen werden trotz aller kurzfristigen Programme verhungern." Ehrlich beschrieb die Menschenmengen im "stinkend heißen" Delhi mit Abscheu. "Meine Frau, meine Tochter und ich betraten eine überlaufene Slumgegend. Menschen, Menschen, Menschen, Menschen. Wir hatten, soviel muss ich zugeben, Angst." Es sei eine "Fantasievorstellung", dass Indien sich jemals selbst ernähren könne. Und dennoch: Borlaugs Programm lieferte derart erstaunliche Ergebnisse, dass Indien schon 1968 eine Briefmarke herausbrachte, die die "Weizenrevolution" feierte. 1974 wurde das Land bei allen wichtigen Getreidesorten zum Selbstversorger.

Nichtsdestotrotz wuchs die neo-malthusische Angst vor der Bevölkerungsexplosion unter Umweltschützern weiter - bis heute. Der Wissenschaftsphilosoph und "Arts and Letters Daily"-Gründer Denis Dutton beschreibt das überspitzt so: "Grüne mit vollen Bäuchen trugen ihre Sorge um den Planeten vor sich her, gaben sich gegenüber den Armen, mit denen sie sich die Erde doch teilten, aber gleichgültig, ja manchmal sogar feindselig." Er habe Umweltextremisten gekannt, die so taten, als seien weltweite Hungersnöte unvermeidbar, ähnlich wie religiöse Fundamentalisten die Apokalypse herbeisehnten. Dutton, der selbst im Friedenskorps wirkte, sah die grüne Revolution mit eigenen Augen in Indien: "Für die Fraktion der Katastrophenanbeter war es geradezu verstörend, dass das Land plötzlich zum Nahrungsmittelexporteur wurde." Das habe einfach nicht passieren dürfen: "Sie gaben Borlaug die Schuld, ihnen den Spaß zu versauen."

Doch nicht alle Kritiker des Weizenrevolutionärs stammen aus diesem umstrittenen Lager. Einige sahen die Intensität, mit der er Landwirtschaft betreiben ließ, als großes Problem, besonders seine Nutzung anorganischer Düngemittel. Borlaug gibt das heute zum Teil zu, sagt aber auch, dass die natürliche Alternative in Form von Kuhdung einen enormen Bedarf an diesen Tieren bedeutet hätte - "von rund 1,5 Milliarden auf vielleicht 10". Und so bemerkte er trocken in einem Fernsehinterview im Jahr 2003: "Die Nahrungsmittelherstellung für 6,2 Milliarden Menschen ist eben nicht einfach." Organische Dünger könnten vielleicht vier Milliarden Menschen versorgen, "aber ich sehe keine zwei Milliarden Freiwillige, die einfach vom Planeten verschwinden wollen".

Borlaug, der selbst auf einer Farm groß geworden ist, rät seinen Gegnern dazu, einmal ein bis zwei Wochen in den Feldern zu verbringen. Er berichtet von Farmern in Ghana, die eine Landwirtschaft betreiben, bei der Pflanzenreste stehen gelassen werden, um den Humus zu verbessern und die Bodenerosion zu reduzieren. Unkraut wird dabei mit Herbiziden bekämpft. Das Leben der Menschen sei durch den geringeren Bedarf am Jäten verbessern worden: "Weniger Rückenschmerzen, wissen Sie. Es ist erstaunlich, wie oft Kampagnenführer in den reichen Ländern glauben, dass die Armen keine Rückenschmerzen haben."

Viele dachten, die Arbeit, die Borlaug den Nobelpreis einbrachte, hätte den Rostpilz besiegt. Doch er ist wieder da. Die jüngste Variante nennt sich "Ug99" und sie kam ausgerechnet in Uganda auf, verbreitete sich derzeit nach Kenia und Äthiopien. "Wenn das niemand aufhält, werden die Konsequenten ruinös sein", sagt Borlaug.

Afrika stellt eine besonders schwere Herausforderung dar, weil diese Weltregion bislang nur wenig von der grünen Revolution profitierte. Borlaugs Nobelpreis belohnte vor allem die Verbesserungen in Asien, wo die Kalorienmenge pro Person zunahm, die Preise für Weizen und Reis fielen und höhere Einkommen den industriellen Gesamtoutput steigerten. Ähnliche Errungenschaften wurden nahezu überall spürbar, mit Ausnahme Schwarzafrikas, wo mehr als 200 Millionen Menschen, ein Drittel der Bevölkerung, noch immer Hunger leiden. In den letzten vier Jahrzehnten ging die Nahrungsmittelproduktion pro Kopf dort sogar noch zurück.

Ug99 wird zumindest am Anfang mit den Kreuzungsmethoden bekämpft werden, die Borlaug so kunstvoll einsetzte. Er glaubt allerdings, dass Afrikas größte Hoffnung in der Biotechnologie liegt, obwohl es regulatorische Schwierigkeiten gibt, die den direkten Einsatz gegen Ug99 zunächst verbieten. Ebenfalls notwendig seien Öffentlichkeitsarbeit, politischer Wille, genügend Geld und eine neuerliche Kooperation in der internationalen Landwirtschaftsforschung. Was Borlaug dort inspirieren möchte, ist nicht weniger als eine neue grüne Revolution für Afrika.

Die Gründe für die derzeitigen Probleme sind komplex. "Der erste ist die Bewässerung", erklärt Michael Lipton von der "Poverty Research Unit" der University of Sussex. "In Schwarzafrika wird nur 4 Prozent des Ackerlandes bewässert. In Süd- und Ostasien sind es eher 40 Prozent." Dann wäre da die Erde: "Die Böden in Afrika entsprechen dem sauren Land im Cerrado und hingen einst mit diesem zusammen", sagt Borlaug. Der Cerrado, eine Gegend, die sich über Zentralbrasilien erstreckt, hatte historisch gesehen die am wenigsten produktiven Böden der Erde. Verbesserte Getreidesorten wie die von Borlaug sorgten dort jedoch zusammen mit neuen Düngern und anderen Methoden dafür, das inzwischen mehr Land agrarfähig geworden ist als jemals in den letzten 50 Jahren. In Afrika könnte man nun ähnliches Versuchen.

Die Politik, sowohl auf regionaler als auch globaler Ebene, ist jedoch ein Hinderungsgrund. "Wenn die grüne Revolution in Indien heute der Weltbank vorgeschlagen würde, wäre sie wohl abgelehnt worden", meint Rob Paarlberg, Experte für Landwirtschaftspolitik am Wellesley College. Ab den Achtzigerjahren seien öffentliche Investitionen in Straßenbau, Forschung, Bewässerung, Dünger und Samen im rechten Lager in Washington nicht mehr konsensfähig gewesen. "Und auf der Linken standen die Umweltschützer gegen chemische Düngemittel, Straßenbau und Bewässerungsprojekte." Kein Wunder, dass die Pro-Kopf-Entwicklungshilfe im Agrarsektor für die ärmsten Länder der Welt in den USA zwischen 1982 und 1995 um fast 50 Prozent sank.

Schließlich brauche Afrika Straßen. Ohne die gelangten weder Dünger noch Samen in die entlegenen Regionen, sagt Borlaug. "Die bringen Know-How, Ideen und Handel zu den Bauern." Afrika brauche nun eine konzertierte internationale Hilfsaktion. Unterdessen hat der Pilz Ug99 den Jemen erreicht - von dort aus könne er, warnt der Pflanzenguru, Irak, Iran, Indien und Pakistan erreichen. Selbst die Kornkammern Europas und Amerikas seien schließlich nicht mehr sicher. Nun geht es darum, resistente Sorten zu finden und sicherzustellen, dass ihre Erträge hoch genug sind, dass Farmer sie auch anbauen.

Im vergangenen Jahr wurde Borlaug die Goldmedaille des US-Kongresses verliehen - die großen Fernsehsender waren allerdings nicht dabei. Und die Biografie, die sein Freund Leon Hesser über ihn verfasst hat, widmet sich vor allem den ersten Jahren des grünen Revolutionärs, wird dann aber wolkiger, was sein Erscheinen auf der Weltbühne betrifft.

Borlaug hätte besseres verdient. Doch als der Journalist Gregg Easterbrook versuchte, einen Verleger für eine Mainstream-Biographie zu finden, musste er sich anhören, dass das Thema doch "langweilig sei". "Wahrscheinlich wären die Manager interessiert gewesen, wenn Borlaug jemanden getötet hätte, anstatt das Leben Hunderter Millionen Menschen zu retten." (bsc)