Die Coder-Kids aus Afrika

Wer programmieren kann, braucht nicht viel Geld, um Neues zu erschaffen. Eine gute Idee reicht. Unzählige junge Afrikaner sehen darin die Chance, die Probleme ihres Kontinents anzugehen.

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Von
  • Hanns-J. Neubert
Inhaltsverzeichnis

Wo die Amerikaner und Europäer einen schwierigen Markt sehen, erkennt eine junge Generation vor Ort eine riesige Zahl von Möglichkeiten. Naledi Phafane beispielsweise ist erst 13 Jahre alt, nennt sich aber schon "Geschäftsfrau". Jedenfalls dann, wenn sie zwischen diskutierenden Forschern auf der größten Akademikerkonferenz Afrikas herumwuselt, dem Wissenschaftsforum Südafrika. Die Bezeichnung ist nicht einmal gelogen: Naledi Phafane ist Gründerin und Besitzerin eines Unternehmens namens Spektrum in Pretoria, das Mobilfunk-Apps entwickelt. Weil sie noch zur Schule geht und nicht geschäftsfähig ist, stellte sie ihren Vater als Teilzeit-Geschäftsführer ein, der im Hauptberuf bei einer Telefongesellschaft arbeitet. Ob sie mit ihrer Firma Geld verdient? "Ja", sagt sie stolz.

TR 7/2017

Naledis erste App auf dem Markt war "Pandora". Sie löste ein typisch afrikanisches Problem, das Industrieländer gar nicht kennen: In Afrika haben viele Menschen keine Postadresse. Mit Naledis App, die sowohl auf Einfachhandys wie auf Smartphones läuft, können sie ihren Wohnsitz gegenüber Behörden, der Post oder Banken trotzdem glaubhaft machen. Sie errechnet aus den Abständen zu umliegenden Mobilfunkmasten die Koordinaten der Wohnstätten. Auf eine Landkarte übertragen, finden Briefzusteller so den richtigen Weg zu den Adressaten. Gerade hat Naledi "Vula Robot" veröffentlicht, eine App, die Anzahl und Bewegungen der Telefone von Autofahrern analysiert und daraus den Verkehrsfluss berechnet.

Sie warnt vor Staus, wenn viele Telefone auf der vorausliegenden Strecke nur langsam oder gar nicht vorankommen. Bei fast leeren Straßen zeigt sie aber auch an, welche Geschwindigkeit ein Autofahrer einhalten muss, um die nächste Ampel während der Grünphase zu erreichen. Die App registriert, wann ein Auto vor der nächsten Kreuzung steht, anfährt oder die Straße kreuzt. So weiß sie, ob die Ampel auf Grün oder Rot steht. Aus der voraussichtlichen Dauer der Grünphase lässt sich dann errechnen, wie schnell ein Auto fahren sollte, um die nächste Grünphase zu erreichen. Naledis Vision: "Man könnte die Ampeln selbst mit der App ausrüsten, damit sie flexibel auf das Verkehrsaufkommen reagieren."

Im Oktober 2016 kürte das südafrikanische TADHack-Hackathon Naledi zum "CodeGirl" des Wochenendes. TADHack, eine Initiative von Smartphone-App-Entwicklern, findet jährlich im Herbst in mehr als 30 Städten weltweit statt, auch in Berlin. Im März dieses Jahres organisierte Naledi ihr erstes eigenes Hackathon, ein TADHack-Mini. "Ich will all die Jugendlichen zum Mitmachen auffordern, die wegen ihrer Zukunft entmutigt sind. Sie sollen lernen und Spaß daran finden, afrikanische Probleme mit Technologie zu lösen."

Welche Möglichkeiten dort liegen, zeigt ein Blick auf die mobilen Bezahlsysteme. Mit M-Pesa, JamboPay, Paga, Kopo Kopo, Yo oder Ozimbo ist Afrika hier weltweit führend. Eine Studie der UN-Konferenz für Wirtschaft und Entwicklung von 2015 kam zu dem Schluss, dass der Mobilboom deutlich auf den elektronischen Handel und die Wirtschaft überhaupt durchschlägt. In den drei Jahren 2009 bis 2012 verdreifachte sich der E-Commerce-Umsatz beispielsweise in Äthiopien, Ghana und Kenia. In Nigeria vervierfachte er sich sogar. Gewinner sind auch die ganz Armen, wie eine Studie von Tavneet Suri vom Massachusetts Institute of Technology und Billy Jack von der Universität Georgetown in Washington D.C. für Kenia nachwies. "Wir schätzen, dass das kenianische Mobilgeld M-Pesa den Pro-Kopf-Konsum erhöht und zwei Prozent der Haushalte aus der Armut herausgeholt hat", schrieben die Forscher im Fachmagazin "Science". Das wären immerhin 194000 Haushalte.

Das ist Grund genug für Stiftungen und NGOs, aber natürlich auch für Digitalkonzerne wie Google, Apple, Facebook, IBM, Vodafone und Rocket Internet, sich zu engagieren. Sie sponsern Hubs und Hackathons mit Millionenbeträgen. Sie erhoffen sich Zugang zu einem künftigen Milliardenmarkt. Nur in Südafrika hat sich das Wirtschaftswachstum jüngst abgeschwächt. Das restliche Afrika südlich der Sahara wuchs allein 2016 um 6,2 Prozent – am stärksten in Ländern mit geringer Abhängigkeit von Rohstoffexporten. Der Anteil der Armen, die mit weniger als 1,25 US-Dollar pro Tag auskommen müssen, hat sich in den letzten 25 Jahren halbiert, und in den Millionenstädten entwickelt sich eine konsumfreudige Mittelschicht mit Einkommen zwischen 8000 und 10000 Dollar im Jahr – in Afrika viel Geld.

Um diesen Markt aber zu erobern, müssen die IT-Multis erst einmal begreifen, wie er überhaupt tickt. Denn für europäische oder US-amerikanische Nutzer erdachte Software funktioniert in Afrika oft nicht. Fehlende Postadressen sind beileibe nicht die einzige Herausforderung. Auch die technischen Voraussetzungen sind völlig anders. Computer etwa sind südlich der Sahara eine Seltenheit, Smartphones längst nicht so verbreitet wie im Westen. Was Rechner und Mobiltelefone in den Industrieländern auf großen Bildschirmen darstellen können, muss in Afrika auf Miniscreens passen.

Zugang zum Internet haben nur 30 Prozent der Afrikaner, aber fast alle haben einen Mobilfunkvertrag – jedenfalls gemittelt über alle Länder. Doch die Datenübertragung ist teuer, das Netz langsam. Um Datenvolumen zu sparen, läuft fast alles über Textnachrichten.

Hier schlägt die Stunde der afrikanischen Programmierer. Sie kennen die technologischen Hindernisse aus eigener Erfahrung – und tüfteln etwa daran, die Funktionen von Smartphones auf Einfachhandys zu übertragen. Das funktioniert zum Beispiel mit der sogenannten dialogischen Suche. Man schickt ein Stichwort per SMS an eine zentrale Kurzwahlnummer, hinter der ein Algorithmus in einer Datenbank nach Informationen sucht. Diese kommen dann wieder per SMS zurück. Die Antwort-SMS enthält Mobilnummern, mit denen sich genauere Auskünfte abfragen lassen. So kann sich ein Kunde durch lokale Angebote von Handwerkern, Händlern, Banken und Behörden texten. Selbst Google-Suchen und Facebook-Dialoge sind durch ähnliche Anpassungen auf Einfachhandys möglich.

Zudem kennen die Programmierer vor Ort die lokalen Bedürfnisse. Auf die Idee zu der App "Talk to Me" etwa wäre ein westlicher Digitalkonzern wohl nie gekommen. Sie hilft Kindern, Wörter richtig auszusprechen. Durchaus eine wichtige Funktion, denn die meisten Afrikaner müssen von den 1500 bis 2000 Sprachen des Kontinents vier bis acht beherrschen, um sich in ihrer Region verständigen zu können. Letztes Jahr gewann ihr Entwickler, der gerade einmal zehnjährige Panache Jere, mit der App einen Preis beim Hackathon TNM Smart Challenge, ausgerichtet vom Mobilfunkbetreiber in Malawi. Der Gewinn führte ihn zur Facebook-Konferenz F8 im Silicon Valley, wo er Mark Zuckerberg traf.

Panache hat bei mHub, Malawis erstem Technologie- und Innovationszentrum in Lilongwe, programmieren geübt. Dessen Gründerin, die 31-jährige Informatikerin Rachel Sibande, ist fest davon überzeugt, dass die richtige Technologie auch in Malawi das Leben der Menschen erleichtern kann. Denn zuvor hatte sie schon mobile SMS-Dienste für Landwirtschaftspreise und zur Beglaubigung von Fingerabdrücken für die Parlamentswahlen 2014 entwickelt, die ganz nebenbei zu Social-Media-Plattformen für politische Debatten mutierten.

Sibande will Kindern aber nicht nur programmieren beibringen, sondern auch kritisches und unternehmerisches Denken: "Denn unsere Schulen ermutigen junge Menschen nicht gerade, innovativ zu werden. Da lernen sie nur etwas auswendig und geben das Gelernte zurück." Die Anschubfinanzierung für den Unterricht hat die niederländische Entwicklungshilfeorganisation Hivos geleistet. Mit diesem Geld baute Sibande zunächst eine kommerzielle Software-Abteilung auf, die Apps, Webseiten und Systemplanungen für Unternehmen in der Hauptstadt entwickelt. Der damit inzwischen erwirtschaftete Gewinn fließt in die kostenlose IT-Ausbildung. "Bis heute haben wir mehr als 400 Kinder ausgebildet, davon 193 Mädchen", berichtet Sibande.

Eines davon ist Caroline Wambui aus Mukuru kwa Njenga, einem Slum vor Nairobi. Ihr Onkel starb an Nierenversagen, weil sich kein passender Spender fand. Das war für sie Antrieb genug, die neu angeschafften Schulcomputer zur Entwicklung einer App für Organspender und Kliniken zu nutzen. Gleichzeitig sah sie die Möglichkeit, den illegalen Organhandel in den Hinterhofkliniken ihres Viertel zu beenden. Jetzt testen staatliche Kliniken die App. Ein ähnliches Beispiel kommt von Temie Giwa-Tubosun aus Nigeria: Mit ihrer App "LifeBank" halten Krankenhäuser heute Kontakt zu Blutspendern, um sie bei Engpässen einberufen, testen und zur Ader lassen zu können. Wie schwer es nämlich für Nigerias Krankenhäuser ist, rechtzeitig die richtigen Blutkonserven zu finden, wurde Wambui nach der komplizierten Geburt ihres Sohnes vor drei Jahren bewusst, als sie selbst darauf angewiesen war.

Noch kämpft Afrikas App-Ökonomie jedoch mit einem Problem: Viel verdienen lässt sich mit den Digitaldiensten wohl nicht – trotz wachsender Wirtschaftskraft. Denn die Mini-Programme werden üblicherweise via Bluetooth, WiFi oder USB-Kabel von Gerät zu Gerät weitergegeben. Zentrale Marktplätze für den Verkauf der Apps gibt es nicht. Sowohl Apple als auch Google halten ihre Stores für Subsahara-Afrika verschlossen – aus Steuergründen. Jedes Land hat seine eigenen komplizierten Steuergesetze und möchte darüber hinaus durch Sonderregelungen für die Internetgiganten an deren Profiten teilhaben.

Wie groß die Bedeutung der Digitalbranche für Afrika ist, "lässt sich nur schwer abschätzen", sagt Heinrich Krogman, Wirtschaftswissenschaftler und Forscher bei der Politik- und Wirtschaftsberatungsgruppe Tutwa in Pretoria. Er hat sich mit der wirtschaftlichen Bedeutung von mobilen Apps beschäftigt und weiß, wie "schwierig es ist, echte Daten zu finden". Allerdings sieht er Hinweise darauf, dass einige der Anwendungen sich gut entwickeln.

Wichtiger als der reine Umsatz könnten jedoch die indirekten Auswirkungen der Apps sein. "Der Zugang zur mobilen Kommunikation eröffnet vor allem Frauen neue Möglichkeiten", schreibt Krogman in einer seiner Studien. "Sie können jetzt selbst Unternehmen gründen, sich zumindest einfache Verdienstmöglichkeiten durch Fernverkauf eröffnen und müssen deshalb nicht bei Arbeitgebern nach Anstellung suchen." Wer die Webseiten der zahlreichen Co-Working-Spaces, Start-up-Akzeleratoren und Hubs liest, bekommt tatsächlich den Eindruck: Die soziale Mission ist vielen der afrikanischen Coder wichtiger als der finanzielle Gewinn, der sich damit erzielen lässt. (bsc)