Die Gen-Spur der Seuche

Forscher untersuchen das Corona-Genom, um seine Ausbreitung nachzuvollziehen. Ein Fall in München scheint viele Infektionen in ganz Europa ausgelöst zu haben.

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Die Gen-Spur des Coronavirus

(Bild: nextstrain.org)

Lesezeit: 5 Min.
Von
  • Antonio Regalado
Inhaltsverzeichnis

Derzeit geht ein schwerer Ausbruch eines neuen Coronavirus um die Welt. Sein Gen-Material könnte irgendwann einmal nicht nur verraten, woher das Virus kommt, sondern auch, wie es sich verbreiten konnte und warum Maßnahmen gegen seine Ausbreitung scheiterten.

Zu diesem Zweck erfassen Wissenschaftler Mutationen des Virus während seiner Verbreitung. Sie schaffen sozusagen einen Echtzeit-Stammbaum des Erregers, der nach ihren Angaben zu der Erklärung beitragen kann, wie die Infektion von Land zu Land springt.

Ende Februar bestätigten Wissenschaftler in Brasilien den ersten Corona-Fall in ihrem Land. Sofort sequenzierten sie den genetischen Code des Virus und verglichen ihn mit mehr als 150 anderen Sequenzierungen vor allem aus China, die vorher im Internet veröffentlicht wurden.

Der Patient, ein 61 Jahre alter Mann aus Sao Paulo, war zuvor durch die italienische Lombardei gereist, wo er sich auch angesteckt haben sollte. Doch die Sequenzierung des Virus erzählte eine kompliziertere Geschichte: Eher scheint seine Erkrankung mit einem kranken Passagier aus China und einer Infektionswelle in Deutschland zusammenzuhängen.

Wenn sich ein Virus verbreitet, mutiert es, wodurch zufällige Veränderungen an einzelnen Buchstaben seines Genoms entstehen. Durch die Nachverfolgung solcher Veränderungen können Wissenschaftler seine Entwicklung nachvollziehen und erfahren, welche Fälle am engsten miteinander zusammenhängen. Die neuesten Karten zeigen, dass es bereits Dutzende solcher Corona-Verzweigungen gibt.

Diese Daten finden sich auf der Website von Nextstrain, einem Open-Source-Projekt mit dem Ziel, „das Potenzial von pathogenen Genom-Daten für Wissenschaft und öffentliche Gesundheit zu nutzen“. Weil Wissenschaftler neue Daten schnell veröffentlichen, ist der aktuelle Ausbruch der erste, bei dem Evolution und Ausbreitung eines Virus derart detailliert und fast in Echtzeit beobachtet werden können.

Die Arbeit der Gen-Detektive trägt dazu bei, dass erkennbar wird, wo Maßnahmen gegen die Ausbreitung gescheitert sind. Zudem macht sie deutlich, dass sich das Virus in mehreren Formen neue Länder erreicht hat, nicht in einer einheitlichen. Letztlich könnten Gen-Daten sogar die ursprüngliche Quelle der Epidemie zutage treten lassen.

In Brasilien konnten die Forscher anhand der Daten zeigen, dass der erste Fall im Land und ein späterer zweiter nicht viel miteinander zu tun hatten, sagt Nuno Faria von der University of Oxford. Proben des Virus von den beiden Patienten waren so unterschiedlich, dass sie von unterschiedlichen Standorten stammen müssten.

„Zusammen mit den Informationen über ihre Reisen spricht dies dafür, dass die beiden bestätigten Fälle in Brasilien das Ergebnis von zwei getrennten Übertragungen in das Land sind“, schreibt Faria über seine Untersuchungen.

Weil es keinen Impfstoff gibt, sehen Experten die besten Chancen dafür, seine Ausbreitung zu stoppen, in aggressiven Maßnahmen zum öffentlichen Gesundheitsschutz. Beispielsweise sollten alle Personen gefunden werden, die Kontakt mit dem Virus hatten, um sie zu isolieren. An dieser Stelle wird der Stammbaum des Virus nützlich: Er kann dabei helfen, die Ausbreitung nachzuverfolgen und zu erkennen, wo Gegenmaßnahmen funktionieren und wo nicht.

Wie Gen-Daten zeigen, ist das Virus mehrere Male nach Europa gekommen. Außerdem sprechen sie dafür, dass es bei einem Ausbruch in München im Januar anders als bislang angenommen nicht gelungen ist, ihn einzudämmen.

Bei einem Viertel aller Neuinfektionen seit Anfang Februar – in Mexiko, Finnland, Schottland und Italien sowie beim ersten Fall in Brasilien – scheint es genetische Ähnlichkeiten zu der infizierten Gruppe in München zu geben, sagt Trevor Bedford. Der Forscher am Fred Hutchinson Cancer Research Center ist einer der Gründer von Nextstrain. „Patient 1“ des Zweigs in München war ein 33 Jahre alter Geschäftsmann aus Bayern, der am 24. Januar krank wurde. Laut Untersuchungen hatte er sich zuvor mit einer chinesischen Geschäftspartnerin aus Schanghai getroffen, bei der später das Virus festgestellt wurde.

Innerhalb von vier Tagen gab es dann weitere Corona-Fälle bei Webasto, dem Arbeitgeber des Mannes. Das Unternehmen schloss zwar sein Hauptquartier, doch das reichte nicht aus. Laut den Gen-Daten könnte es einen Zusammenhang zwischen der München-Gruppe und einem großen Teil der Epidemie in gang Europa geben, einschließlich 3000 Fällen in Italien.

„Eine extrem wichtige Erkenntnis lautet: Dass ein Cluster identifiziert und 'isoliert' wurde, heißt noch nicht, dass dieser Fall nicht zum Ausgangspunkt für eine Übertragungskette wurde, die erst entdeckt wurde, als sie zu einem größeren Ausbruch führte“, schrieb Bedford auf Twitter. Genau das könnte nach der Ansicht von Gen-Detektiven im US-Bundesstaat Washington passiert sein, wo vor fast sechs Wochen der erste Fall entdeckt wurde. Als im Februar das Virus eines neuen Falls sequenziert wurde, zeigte sich allerdings, dass es eine spezielle Mutation mit dem ersten gemeinsam hatte.

Das bedeutet: Die beiden Fälle hingen zusammen, und in der Zwischenzeit hatte sich das Virus in den gesamten USA verbreitet. Mittlerweile hat Washington 27 Fälle mit 9 Toten gemeldet, einschließlich früherer Todesfälle, die zunächst nicht richtig diagnostiziert wurden. Nach dem Ausbruch in Washington gab es Kritik an den US Centers for Disease Control and Prevention, weil sie Grenzen dafür vorgeben, wer auf das Virus getestet werden konnte: Damit hätten sie Experten der Wirkung nach blind gemacht für den Weg des Virus.

(sma)