Die Neuerfindung des Rollstuhls​

Der Schotte Andrew Slorance ärgerte sich jahrzehntelang über ausbleibende Rollstuhl-Verbesserungen. Schließlich baute er selbst ein smartes Leichtbau-Exemplar.​

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(Bild: Malcolm McCurrach 2020 | New Wave Images UK)

Lesezeit: 6 Min.
Von
  • Veronika Szentpetery-Kessler

Das Carbonfaser-Gestell des „Phoenix I Wheelchairs“ bewegt sich mit Sensorenhilfe immer genau unter den Körperschwerpunkt des Nutzers und behebt so etwa die Umkipp-Anfälligkeit existierender Modelle. Mit dem Preisgeld der Toyota Mobility Challenge 2020 in Höhe von einer Million Dollar will Entwickler Andrew Slorance seinem Prototyp dieses Jahr zur Marktreife verhelfen.

Warum wollten Sie das bisherige Rollstuhl-Design ändern?

Als ich 14 Jahre alt war, erlitt ich eine Wirbelsäulenverletzung und war für den Rest meines Lebens auf einen Rollstuhl angewiesen. Er war so riesig und schwer, dass ich nie weit kam, bis mir die Kraft ausging. Manchmal konnte ich nicht mal einen Hügel hinunterfahren, weil ich wusste, ich würde nicht wieder hochkommen. Seither hat sich nicht viel getan. Und ich habe mir geschworen: Eines Tages erfinde ich den Rollstuhl neu, wenn es sonst niemand tut.

Was sollte er können?

Er musste leicht sein, aber das reicht nicht. Die Benutzer müssen sich bestärkt fühlen und wissen, dass sie genug Kraft haben, einen Hügel hochzukommen, weil der Rollstuhl ihnen hilft. Gleichzeitig müssen Rollstühle gut aussehen und dürfen nicht wie medizinische Geräte anmuten. Wenn man jemanden mit einer Otto-Bock-Beinprothese sieht, denkt man auch nicht, dass er benachteiligt ist, sondern dass er gestärkt aussieht. Otto Bock hat die Beinprothese neu erfunden und aus einer schrecklichen, das echte Bein kaum imitierenden Plastikvorrichtung eine hochintelligente, effektive und ästhetisch ansprechenden Prothese gemacht.

Wie schafft Ihr Rollstuhl diesen Sprung?

Die Schwierigkeit besteht darin, dass sich die Haupträder hinter der Last befinden müssen, wenn der Rollstuhl stabil sein soll. Dann kann er auch nicht nach hinten umkippen, was eine der häufigsten Verletzungsursachen ist. Dadurch wird er aber, ähnlich wie ein beladener Einkaufswagen, schwer anzutreiben und zu lenken, da das Gewicht des Benutzers auf die kleinen Vorderräder übertragen wird. Um den Rollstuhl wendiger zu machen, kann man die Hinterräder nach vorne schieben und so das Gewicht wieder mehr nach hinten verlagern. Dadurch wird der Stuhl aber auch anfälliger dafür, nach hinten umzukippen.

Rollstuhl-Erfinder Andrew Slorance mit seinem "Phoenix I Wheelchair".

(Bild: Malcolm McCurrach 2020 | New Wave Images UK)

Deshalb haben wir die Hauptachse intelligent beweglich gemacht, so dass sie sich immer unter den Schwerpunkt des Nutzers bewegt. Lehne ich mich zurück, bewegt sich die Hinterachse unter dem Sitz mit zurück, ohne umzukippen. Lehne ich mich nach vorne, wird nicht mein ganzes Gewicht auf die Vorderräder verlagert. Es ist das erste Mal, dass ich bei einem Rollstuhl das Gefühl habe, er ist ein Teil von mir.

Welche Sensoren haben Sie dafür eingebaut?

Viele verschiedene, zum Beispiel Kraftaufnehmer, Kreisel und Beschleunigungsmesser. Um ihn gleichzeitig so leicht zu halten, dass man ihn ins Auto heben kann, haben wir viel Arbeit in dem Carbonfaserrahmen gesteckt. Mitsamt Elektronik und der Batterie – die auch das Kraftunterstützungssystem für Steigungen versorgt – und dem schwingungsdämpfenden Material im Rahmen, werden wir bei sechs oder sieben Kilo liegen. Das ist vergleichbar mit den vier bis fünf Kilogramm der leichtesten Leichtbau-Rollstühlen.

Was hat sie dazu gebracht, Ihren Entwicklungsplan tatsächlich zu verwirklichen?

Ich war erst lange Jahre lang als Video-Editor für ein großes Nachrichtenunternehmen in London namens ITN tätig. Alle paar Jahre musste ich einen neuen Rollstuhl kaufen, aber sie verbesserten sich nie. Schließlich legte ich meine Karriere auf Eis, lieh mir Geld und recherchierte bei Carbonfaser-Unternehmen den Preis für einen Rollstuhl aus dem Material. 2007 habe ich mein erstes Unternehmen in meiner Küche gegründet und die erste Form aus Architektenmodellierschaum geschnitzt. Ich fand ein Unternehmen, das es mit Carbonfasern ummantelte. Das Ergebnis war eine Katastrophe und hat ein Vermögen gekostet! Aber ich musste einfach weitermachen.

Wie ging es weiter?

Mit einem Förderzuschuss von Scottish Enterprise bauten wir schließlich Formwerkzeuge und stellten einen CAD-Ingenieur ein. Ich habe nochmal dieselbe Summe aus eigener Tasche beigesteuert. Es war schwierig, ich habe viel Geld investiert, bis mir schließlich Investoren meinem Start-up Carbon Black auf die Beine halfen. Aber nach etwa zwei Jahren wurde ich von ihnen aus meiner eigenen Firma gedrängt.

Haben Sie die Rechte an Ihrer Arbeit behalten können?

Nach einem Rechtsstreit gelang mir das. Ich gründete ein neues Start-up namens Phoenix Instinct. Diesmal wollte ich zuerst ein Produkt, das sich leichter auf den Markt bringen ließ, bevor ich mich wieder Rollstühlen widmete. Also habe ich das einzige rollstuhltaugliche Gepäcksystem entwickelt und ein weltweites Vertriebsnetz aufgebaut.

Der Name Phoenix passt zu einem wiedergeborenen Unternehmen.

Als Rollstuhlfahrer braucht man unendlich viel Ausdauer. Das ist als Unternehmer nicht anders. Ich habe die Firma Phoenix Instinct genannt, weil die meisten Menschen nicht glauben, dass sie einen Überlebensinstinkt haben, bis etwas Schreckliches passiert.

Wann kommt Ihr Rollstuhl auf den Markt?

Wir peilen das Ende dieses Jahres an. Wahrscheinlich kommt er zuerst im Vereinigten Königreich, und wenn er sich gut einführt, wird er in ganz Europa einschließlich Deutschland erhältlich sein.

Was wird er kosten?

Wir streben den Preisbereich hochwertiger Leichtbau-Rollstühle an. Eine der großen Herausforderungen bei der Entwicklung eines Produkts, das von den Krankenkassen bezahlt werden soll, besteht im Nachweis, dass dieses Gerät ihnen Geld spart und den Nutzern eine bessere Lebensqualität bietet – so wie Otto Bock es mit seinen medizinischen Studien nachgewiesen hat. Das Gleiche wollen wir für unseren Rollstuhl tun.

Letztlich wollen wir versuchen, ihn zukunftssicher zu machen, damit andere Entwickler ihn erweitern können. Deshalb hat er auch mehr Sensoren als er jetzt braucht. In einen Rollstuhl gezwungen zu werden ist eine ziemlich seelenzerstörende Erfahrung. Aber vielleicht kann er künftig zu einem Begleiter werden, der Sie etwa vor Hindernissen warnt, die Sie im Dunkeln nicht sehen.

(vsz)