Undercover-Story: Wie Heilpraktiker einen Krebspatienten behandeln

Karl Lauterbach will die Homöopathie als Kassenleistung streichen. Unser Reporter hat sich als Krebspatient ausgegeben und acht Alternativpraxen besucht.

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Wie Heilpraktiker einen Krebspatienten behandeln

(Bild: Bukhta Yurii/Shutterstock.com)

Stand:
Lesezeit: 23 Min.
Von
  • Hristio Boytchev
Inhaltsverzeichnis

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) will die Finanzierung homöopathischer Behandlungen durch gesetzliche Krankenkassen streichen. Zwar sei sie vom Ausgabenvolumen nicht bedeutsam, aber sie habe "in einer wissenschaftsbasierten Gesundheitspolitik keinen Platz", sagte Lauterbach dem Spiegel bereits 2022. Nun liegt ein Maßnahmenpapier zur Finanzlage des Gesundheitwesens vor. "Leistungen, die keinen medizinisch belegbaren Nutzen haben, dürfen nicht aus Beitragsmitteln bezahlt werden", schreibt das Gesundheitsministerium. Daher werde man "die Möglichkeit der Krankenkassen, in der Satzung auch homöopathische und anthroposophische Leistungen vorzusehen, streichen", wie die Tagesschau berichtet.

Aus diesem Anlass veröffentlichen wir diese Reportage, die ursprünglich in Technology Review 6/2016 (als pdf im heise shop bestellbar) unter dem Titel "Die Unheiler" erschienen ist, erneut. Der Text stammt aus dem Pool von Correctiv.org. Correctiv.org ist das erste gemeinnützige Recherchezentrum in Deutschland. Es finanziert sich über Spenden und Mitgliedsbeiträge.

Hallo, mein Name ist Niko Scholze, ich bin 33 Jahre alt und habe Krebs. Genauer: Ein Hodgkin-Lymphom, einen Tumor, der die Lymphknoten befällt. Vor einem Jahr habe ich eine Chemotherapie gemacht. Der Krebs verschwand, doch nun ist er zurückgekehrt, ungewöhnlich für diese Art von Tumor, aber es kommt vor. Wobei es mir gut geht, ich habe keine Symptome. Mein Arzt drängt auf eine neue Chemotherapie, höher dosiert.

Das ist zum Glück alles nur ausgedacht. In Wirklichkeit heiße ich Hristio Boytchev, bin Wissenschaftsjournalist und gesund. An Krebs leide ich zum Schein, um Deutschlands Alternativmediziner auf die Probe zu stellen. Was raten Geistheiler und Neugermanische Doktoren, Schamanen und Heilpraktiker einem, der mit einem aggressiven Tumor zu ihnen kommt?

Alternative Medizin boomt. Die Deutschen geben dafür geschätzt mehrere Milliarden Euro im Jahr aus. Weitere Schätzungen gehen davon aus, dass bis zu jeder zweite Krebspatient davon in irgendeiner Form Gebrauch macht. Dennoch wissen Behörden und Ärzte erstaunlich wenig darüber, was abseits der Krankenhäuser passiert.

Wir – meine vorgebliche Studienfreundin Claudia Ruby, tatsächlich ist auch sie Wissenschaftsjournalistin, und ich – haben uns daher auf den Weg gemacht zu acht Heilern, die den Ruf haben, Krebs auch ohne Schulmedizin heilen zu wollen. Claudia Ruby hat die Recherche verfilmt, für ihren Dokumentarfilm "Krebs – das Geschäft mit der Angst". Sie hat die Besuche organisiert, den Diagnosebrief, den ich immer mitführe, genauso wie eine DVD mit Computertomografien. Darauf sieht man, dass der Tumor jetzt auch die Milz befallen hat.

Auf der Reise werde ich viel Widersprüchliches und Wirres über mich hören, werde Gedichte vorgelesen bekommen und mich einer Geistheilung unterziehen. Und ich werde eine Ahnung davon bekommen, wie es ist, Angst zu haben. Die Angst davor, todkrank zu sein – und eine Entscheidung fällen zu müssen, wem ich glauben soll. In dem kleinen Ort Greiz, am Rand des Erzgebirges, befindet sich die "Klinik im Leben", die auf ihrer Webseite vielversprechend mit "Biologischer Krebsmedizin" wirbt. Tatsächlich ist die "Klinik" ein unscheinbares gelbes Mehrfamilienhaus. Das Wartezimmer ist mit Möbeln vollgestellt, die aus DDR-Zeiten zu stammen scheinen, alte Damen sitzen darauf. Mittendrin gluckert ein beleuchteter Springbrunnen.

Der Arzt Uwe Reuter bittet uns herein. Er sitzt hinter einem iMac, auf dem er mir manchmal Bilder zu seinen Therapien zeigt. Er ist um die 50, groß und hager, sein Gesicht wirkt durch eine rahmenlose Brille besonders ernst. Ich erzähle ihm meine Geschichte.

Er hört aufmerksam zu, und dann wirkt es eine Weile, als könne er sich nicht entscheiden, was er mir raten soll. Schließlich hat er es: Ich soll zunächst eine "Diagnosereihe" in seiner Klinik machen, drei oder noch besser fünf Tage, für rund 1000 Euro. Da seien "elektromagnetische Messungen" für den "Energiehaushalt einzelner Organe" gleich mit inbegriffen. Erst dann könne er bestimmen, welche Therapie bei mir angezeigt sei. "Hypnose, Homöopathie, Vitamin-B17-Infusionen" werden wohl eine Rolle spielen, sagt Reuter, und eine "Fiebertherapie", bei der ich abgestorbene Bakterien gespritzt bekomme.

"Zusätzlich zur Chemotherapie oder allein?", frage ich. Diese Entscheidung könne er mir nicht abnehmen, sagt der Arzt, ich soll sie von meinem "Inneren her" treffen. Ich müsse begreifen, dass meine Krankheit nicht von außen komme, und dass Therapien nur unterstützend wirkten – die Heilung "muss vom Inneren her kommen".

Er sagt das alles beiläufig, mit monotonem Nuscheln. Aber verbirgt sich in diesen Worten nicht die Unterstellung, dass ich Schuld sei an meiner Erkrankung? Nicht eine Zelle ist mutiert und zum Tumor gewuchert – sondern etwas Grundlegendes stimmt nicht mit mir, mit meinem Leben, meiner Herkunft, meiner Einstellung, was auch immer. Ein Denkmuster, das typisch ist für die Alternativmedizin – und auf das ich bei meiner Reise immer wieder stoßen werde.

Am Ende schlägt Reuter vor, die Chemotherapie um ein Vierteljahr zu verschieben und mithilfe seiner Therapie "all das beiseite zuschieben, was die Heilung verhindert" – Giftstoffe, Ablenkungen und Ängste. Die Kosten? Rund 10000 Euro für die gesamte Therapie. Später sagt Hans Josef Beuth, Mikrobiologe an der Universität Köln und einer der führenden Experten zur Alternativmedizin: Ein hoher Preis erhöhe paradoxerweise die Glaubwürdigkeit der Heiler. Je mehr ein Patient zahle, desto mehr habe er das Gefühl, dass die Therapie ernst zu nehmen sei. Herr Reuter muss ein sehr ernst zu nehmender Heiler sein.

Nach der Recherche haben wir alle Heiler kontaktiert und sie darüber aufgeklärt, dass wir als Undercover-Journalisten bei ihnen waren – und sie gebeten, schriftlich Stellung zu beziehen. Uwe Reuter hat nicht die ihm gestellten Fragen beantwortet, sondern unsere Vorgehensweise infrage gestellt. "Inwieweit in unserem Bereich diese Recherche ethisch und wahr ist, müssen Sie mit sich selbst ausmachen."

Teuer wird es auch bei unserem nächsten Termin. Wir sind bei dem bekannten alternativen Arzt Klaus Maar in Düsseldorf. Die Praxis wirkt einladend, im Wartezimmer steht eine Schüssel mit frischem Obst. Ein Gästebuch liegt aus, in dem ehemalige Patienten den Doktor mit Lob überschütten. Klaus Maar strahlt Zuversicht aus. In seinem runzligen Gesicht thront eine große Nase, sein Haar ist beneidenswert dicht und schwarz für einen Mann seines Alters. "Na", sagt er mit seiner tröstlichen Stimme, "dann schildern Sie doch mal, was bei Ihnen war." Ich bin nervös. Wird er mir abnehmen, dass ich todkrank bin? Ich erzähle stotternd meine Geschichte. Er hört mir zu, schaut mich an, antwortet ruhig, nimmt sich Zeit – eine Aufmerksamkeit, die sich heute die wenigsten Schulmediziner leisten können, was einer der Gründe ist, der die Menschen in die Arme der alternativen Heiler treibt.

Schließlich rät Maar zu einer "Wärmetherapie", bei der der Tumor lokal erhitzt wird. Dabei ist Klaus Maar noch einer der seriöseren Heiler. Er rät nicht direkt ab von der Chemotherapie, mahnt aber vor den Nebenwirkungen. Am Ende empfiehlt er, sie zwei Wochen lang aufzuschieben und möglichst umgehend mit der 8000 Euro teuren Hitzebehandlung zu beginnen. "Aber nicht rauszögern, nicht, dass Sie mir die Schuld geben und sagen, ich habe die Chemotherapie verzögert", sagt Maar. So will er sich wohl absichern: Würde er mich erfolgreich von der Chemotherapie abbringen, könnten meine Hinterbliebenen ihn dereinst verklagen. Diese wachsweichen Formulierungen, auch sie begegnen mir immer wieder.

Als wir uns verabschieden, legt er seine Hand väterlich auf meine Schulter. "Jetzt strahlt er", sagt er. Auch Klaus Maar hat sich im Nachhinein nicht für seine Behandlungsmethode gerechtfertigt. Sondern per Fax mitgeteilt, die Kosten der Behandlung "ergeben sich aus einer 3wöchigen täglichen Behandlung von MO-FR täglich ca. 4 Stunden und werden analog zur GÖA berechnet", der Gebührenordnung für Ärzte. Wahrscheinlich hätte ich diese Behandlung überlebt. Meine Brieftasche war in Gefahr, nicht aber mein Leben. Das ändert sich beim nächsten Besuch. Die Heilpraktikerin Ursula Stoll hat sich auf die "Germanische Neue Medizin" spezialisiert

Ryke Geerd Hamer, ehemaliger Arzt, hat die Lehre Anfang der 1980er-Jahre als Reaktion auf die "jüdische" Schulmedizin begründet. Kein Wunder, dass sie sich in völkischen Kreisen großer Beliebtheit erfreut. Die abstrusen und gefährlichen Theorien von Hamer führten zum Entzug seiner Zulassung. Er praktizierte aber illegal weiter, mehrere seiner Patienten starben. Er wird international von der Polizei gesucht, in Deutschland liegt gegen ihn ein Haftbefehl wegen Volksverhetzung vor. 2007 floh Hamer nach Norwegen, wo er bis heute als Rektor einer Scheinuniversität auftritt und Bücher verlegt.

Selbst Ursula Stoll hält ihn für verrückt – nicht aber seine Theorie. Deren Kern: Alle Krankheiten seien Ausdruck eines Konfliktes. Hamer veranschaulicht das mit Beispielen aus dem Tierreich: Ein Hirsch, der aus seinem Revier verdrängt wird, erhöht den Blutdurchfluss zum Herzen, um Kraft zu haben und sein Gebiet zurückzuerobern. Dem Menschen ergeht es ähnlich, wenn er eine Erniedrigung erlebt. Doch er kann seine aufgestaute Energie nicht, wie das Tier, im Kampf freisetzen. Die sinnvolle Überschussreaktion führt zum Herzinfarkt. Stoll praktiziert in Öhringen, einem idyllischen Städtchen im Norden von Stuttgart, in ihrem unscheinbaren Einfamilienhaus. Sie trägt ein weißes Hemd und eine Hornbrille, die braunen Haare hat sie zu einem Zopf zusammengesteckt, eine akkurate Gouvernante mit strengem Blick.

Auch ihr erzähle ich von meinem Leiden, doch sie unterbricht mich schnell: "Was ist Krebs?", fragt sie. Man müsse sich von dem Begriff verabschieden. Krebs als solchen gebe es nicht. Ich habe erst mal nur eine Schwellung der Lymphknoten am Hals. Punkt.

Die Ursache: eine Selbstabwertung, und zwar beruflicher Art. Bei mir käme noch eine existenzielle Angst dazu, und wie ein Fisch an Land lagere ich Wasser in meinen Körper ein, um zu überleben. Daher die geschwollenen Lymphknoten. Metastasen? Gebe es nicht. Den ärztlichen Befund? Überfliegt sie beiläufig. Stattdessen fragt sie: Haben Sie geschwitzt, als Sie krank waren? Hat der Schweiß gerochen? Hatte er eine Farbe? Wo genau war der Juckreiz?

Ich erzähle ihr von einem Vortrag, der meinem Chef nicht gefallen hat. Ja! Das könne der Grund der Krebserkrankung sein. Meine Symptome seien eine Reaktion auf diese Kränkung, mein Körper versuche, sich selbst zu heilen, doch die erste Chemotherapie habe den Vorgang unterbrochen und gestört.

Ihr Rat, um den Krebs zu besiegen: Ich soll wieder zu meinen Eltern ziehen, das Leben als Single überfordere mich, Berlin sei ohnehin eine furchtbare Stadt. Und ich soll lernen, mich selbst zu lieben.

Wir fragen noch einmal nach der Chemotherapie. "Ich persönlich würde das nicht machen", sagt sie, "und für meine Kinder und meine Eltern würde ich genauso entscheiden." Da ist sie wieder, diese windelweiche Formulierung, mit der sich die Heiler aus der rechtlichen Verantwortung stehlen.

Zur Sicherheit noch eine Rückfrage: Ist es nicht gefährlich, auf die Chemotherapie zu verzichten? Die Heilpraktikerin Ursula Stoll: "Der Mensch hält viel aus." Was ich gehört habe, ist äußerst gefährlich. Hodgkin ist heilbar, eine Paradeerkrankung für die Schulmedizin, die Heilungschancen stehen in meinem Fall sehr gut. Deshalb ist er so ausgedacht. Chemotherapie ist die einzig sinnvolle Option. Verweigert man sich dieser – zugegeben höchst unangenehmen – Behandlung, geht die Überlebenschance aber gegen null. Niko Scholze wäre an diesem Rat verstorben.

Wie rechtfertigt Stoll ihr Vorgehen? In einer ergreifenden E-Mail bleibt sie dabei, dass eine Chemotherapie mehr schadet, "als sie nützlich sein kann". Hält daran fest: Krankheit kann "als eine Selbstregulation verstanden werden". Wiederholt, dass "die Wörter Krebs und Metastasen keine Aussagekraft haben". Wie gefährlich solche Aussagen sind, das scheint Frau Stoll nicht bewusst zu sein.

Ob als Impfgegner oder Verfechter unbewiesener Praktiken: Immer wieder fallen Heilpraktiker wie Stoll negativ auf. Die Ausbildung ist kaum geregelt, so gut wie jeder kann ohne praktische Kenntnisse Heilpraktiker werden. Der Berufsstand ist weltweit einmalig. Er existiert nur in Deutschland – und seit Kurzem in der Schweiz.

Ernste Krankheiten dürfen Heilpraktiker eigentlich nicht allein behandeln – außer der Patient willigt ausdrücklich ein. "Wir brauchen diesen Berufsstand nicht", sagt Jutta Hübner, Vorsitzende der Arbeitsgruppe "Prävention und Integrative Medizin in der Onkologie" der Deutschen Krebsgesellschaft. Es besteht aber offenbar Bedarf nach Menschen, die sich Zeit für Patienten nehmen und sanft behandeln. Doch die Rolle könne besser von besonders ausgebildeten Pflegern oder Arzthelfern übernommen werden, sagt Hübner.

Alternativmedizin-Experte Hans Josef Beuth gibt als positives Beispiel sogenannte Breast Care Nurses an, Arzthelferinnen, die Patientinnen und Angehörige bei Brustkrebs beraten und begleiten. Doch solange die Schulmedizin nicht genügend kompetente Ansprechpartner anbietet, die sich Zeit für ausführ-liche Beratung und eine empathische Beziehung zum Patienten nehmen, werden charismatische Heiler ihr Publikum finden.

Seit die Geistheiler Wolfgang Bittscheidt und Teresa Schuhl vorteilhaft in einigen Fernsehreportagen besprochen wurden, erfreut sich ihre Praxis in Siegburg bei Bonn großer Beliebtheit: Termine werden nur Monate im Voraus vergeben. Als wir in das Behandlungszimmer gebeten werden, ist es dunkel, die Rollos sind halb geschlossen. Auf dem dunklen Holzschreibtisch brennt eine Kerze.

Teresa Schuhl ist blond, hat blaue Augen und wirkt kühl und unnahbar, gestikuliert seltsam mit ihren Händen. Sie flüstert mehr, als dass sie spricht, ich muss mich vorbeugen, um sie zu verstehen. Ihr Rat? "Wenn Sie jetzt mein Sohn wären, dann würde ich sagen: Finger weg von der Chemo!" Für sich selbst würde sie auch so entscheiden. "Eine Möglichkeit ist Vitamin B17. Haben Sie schon was davon gehört?"

Ich habe davon gehört. Das sogenannte Vitamin B17 ist in Wahrheit überhaupt kein Vitamin, sondern ein giftiger Stoff, mit Blausäure verwandt. Er erlebt in der alternativen Szene gerade einen Boom und hat keinen nachgewiesenen Nutzen bei Krebs. Mehrere Menschen sind an einer Überdosis gestorben.

Schuhl stochert nun in meinem Seelenleben herum und im Verhältnis zwischen mir und meinen Eltern. Auch sie vermutet hinter meinem Krebs ein Trauma. "Die Schilddrüse steht für das Hormonelle. Das Gleichgewicht zwischen männlich und weiblich. Wissen Sie, wo Sie hingehören? Männlich oder weiblich?" Was will sie damit sagen?

"Ich komme aus Tadschikistan", holt die Geistheilerin aus, "da sagt man: Krankheit ist eine heilige Zeit. Wenn du krank bist, spricht Gott mit dir. Er sagt dir, was das Leben wirklich ist. Was wir leben, ist kein Leben, das ist ein Scheiß. Die Krankheit fordert uns auf, etwas zu verändern." Und weiter: "Der Tod ist das Schönste, was es gibt. Wie eine Reise in die Karibik. Warum fürchten wir uns davor? Auf diesem Folterplaneten hier?"

Nach dieser Vorrede dreht sich mir der Kopf, dabei beginnt nun erst die eigentliche Behandlung. Ich lege mich auf eine Liege. Schuhl streicht mit ihren Händen über meinen Bauch, hält meine Schulter. Dabei spricht sie Gebete. Sie wechselt in das ausgestorbene Aramäisch, das manchmal in christlichen Gottesdiensten genutzt wird. Dann lässt sie mich allein. Später empfiehlt mir ihr Partner, ein approbierter Arzt, ich solle mich über Vitamin B17 informieren, einmal im Monat zu ihnen kommen und in einer Kölner Kirche eine Kerze anzünden.

Ich laufe benebelt aus der Praxis. Später mit dem Gesagten konfrontiert, antworten die beiden nicht. Warum legt ihnen niemand ihr gefährliches Handwerk? Maia Steinert, Fachanwältin für Medizinrecht in Köln, hat oft die Hinterbliebenen von Kranken vertreten, die sich in ihrer Not an Alternativmediziner gewandt hatten und gestorben sind – obwohl sie durch die Schulmedizin hätten gerettet werden können.

Wer einem jungen Menschen mit Heilungschancen von über 50 Prozent von einer rettenden Therapie abrät, wie in meinem konstruierten Fall, macht sich der arglistigen Täuschung und Körperverletzung strafbar, sagt Steinert. Allein bei Patienten, bei denen die Möglichkeiten der Schulmedizin enden, sei eine alternative Therapie vertretbar – wenn nicht zu horrenden Kosten nutzloses Zeug angedreht wird.

Doch es ist sehr schwer, vor Gericht eine Strafe durchzusetzen, sagt Steinert. In der Regel sagten die Richter: "Selbst Schuld", wer sich sehenden Auges von einer etablierten Therapie abwende. "Es ist sehr schwierig, einem leidenschaftslosen Juristen beizubringen, dass es Niederungen des Menschen gibt." Dass man bei Todesangst besonders anfällig ist für das Charisma und die Überzeugungskraft der Alternativmediziner, die auch ich erlebt habe. Zudem fehlt den Angehörigen in ihrer Trauer oft die Kraft, um vor Gericht zu ziehen. "Das ist das Schwerste für die Familie: Sie versucht immer wieder, den Patienten von dem Scharlatan abzubringen. Und schafft es am Ende nicht."

Die Behandelnden sichern sich juristisch ab. Sie lassen die Patienten Verträge unterzeichnen, in denen steht, dass der Patient über die Schulmedizin aufgeklärt wurde und diese eigenwillig ablehne, auch wenn die Aufklärung oft nicht der Rede wert ist. Was wäre die Lösung?

Die Anwältin Maia Steinert will keine Verschärfung der Gesetze. Sie wünscht sich, dass den Alternativheilern der Boden entzogen wird – etwa indem Arztgespräche besser von den Krankenkassen honoriert werden. "Die Medizin besteht heute oft nur noch aus einem Handschlag, einem Rezept und hochtechnischen Geräten."

Es gibt zum Glück auch ungefährliche Alternativpraxen. Von den acht, die wir besucht haben, hat uns nur die Stadtwaldpraxis Köln ganz korrekt beraten. Auch hier wird ein ganzes Arsenal alternativer Behandlungen angeboten. Doch es wird unser kürzester Besuch. Die Ärztin sagt schnell und direkt: Bei Hodgkin ist Chemotherapie die einzig sinnvolle Behandlung, der Arzt, der mir die Diagnose ausgestellt hat, sei eine Koryphäe.

Wie gesagt: eine Ausnahme. Der Arzt Achim Schuppert in Bonn vermutet Handystrahlung als Ursache meines Tumors und will meine magnetische Aura messen. Ihm war es wichtig, "Elektrosmog als möglichen Schädigungsfaktor auszuschließen", schreibt er später.

Lothar Hollerbach, der eine Alternativpraxis in einer Heidelberger Stadtvilla betreibt, hält einen philosophischen Vortrag: "Wir sind geistige Wesen und nur für kurze Zeit in einem Wohnmobil, das wir Körper nennen." Jede Krise sei eine Lektion, vielleicht sei diese Lektion aber für das nächste Leben bestimmt. Er empfiehlt mir zur Gesundung unter anderem die Vorträge von Rudolf Steiner. Wie viele Patienten hat er erfolgreich behandelt? Er zähle sie nicht, winkt Hollerbach ab. Und es gehe schließlich nicht nur darum zu überleben. Manche seiner Patienten hätten "bei der nächsten Inkarnation" ein total anderes Leben führen können. Wer sich nach dem Tod sehnt – dem sei seine Praxis ans Herz gelegt. Eine Stellungnahme von Lothar Hollerbach ging nicht ein.

Im 3E-Zentrum in Remshalden schließlich, malerisch im Nordosten von Stuttgart gelegen, wieder der ganze Hokuspokus von Schuld und Sühne. Die "medizinische Leitung" Elke Tegel, eine blonde Heilpraktikerin, führt mich durch das lichte Haus, zeigt mir den "Innenweltreiseraum", in dem traumatische Situationen bearbeitet werden, den Raum für die "Heilmusik", und auch die beeindruckende Maschine für die "Hochfrequenztherapie", bei der den Zellen elektrische Energie zugeführt werde. Kosten: 13670 Euro für fünf Wochen.

Krebs, sagt die Heilpraktikerin, sei "unterdrückte Wut und unterdrückter Ärger", gerade bei einem Hodgkin-Lymphom gehe es um Schuld. Sie fragt: "Wo fühlen Sie sich schuldig? Schuldig, ein Mann zu sein?" Später rät sie zu einer "biologischen Chemotherapie" aus hoch konzentriertem Vitamin C. Das sei einer herkömmlichen Chemo weit überlegen. Die Krönung: Sie verwechselt mein gut behandelbares Hodgkin-Lymphom mit dem grundsätzlich unterschiedlichen Non-Hodgkin-Lymphom. Und rechtfertigt sich: "Bei uns geht es nicht nach Diagnose, das interessiert nicht."

Geschäftsführer Klaus Pertl verteidigt sich später schriftlich damit, dass wir nur eine "Hausführung" gemacht und kein Beratungsgespräch bekommen hätten. Der Preis beinhalte "das gesamte 5-Wochen-Programm plus Abholung von Stuttgart, plus Infusionen und Nahrungsergänzungsmittel." Therapieempfehlungen könnten nur die zwei Ärzte des Hauses aussprechen, und mit denen hätte ich ja nicht gesprochen. "Wir sind keine medizinische Praxis und kein Krankenhaus. Das bedeutet ganz automatisch, dass Sie bei uns auch keine medizinische Beratung erhalten können!", schreibt Pertl. Das Haus sei lediglich ein "Seminarzentrum".

Die Patienten sehen das ganz offensichtlich anders. Wir essen mit ihnen zu Mittag, bekommen wie sie die "Öl-Eiweiß-Kost" aus Quark und Nüssen, die den Tumor bekämpfen soll. Es ist ein herrlicher Tag, die Sonne scheint durch die Fenster, wir schauen auf den idyllischen Garten voll blühender Obstbäume. Doch es wird der bedrückendste Moment auf meiner Reise. Tischgespräch ist die Hoffnung auf die Therapie, die Heilmusik, die Innenweltreisen, die Darmspülungen. "Ich habe vieles versucht", sagt eine Patientin, "aber ich habe endlich das Gefühl, am richtigen Platz zu sein." Eine andere hat lange gespart, um sich die Therapie leisten zu können.

Ich fühle mich schäbig, will etwas sagen. Aber wer bin ich denn, diesen Menschen die Hoffnung zu nehmen? Kann es denn nicht sein, dass ein Ort wie dieser der richtige ist?

Natürlich ist die Schulmedizin nicht allmächtig, auch sie scheitert ständig an der Krankheit Krebs. Sie ist menschlich, macht Fehler, hat finanzielle Interessen, ist teils schroff und arrogant zu ihren Patienten. Sie verwirft sicher Geglaubtes, verleibt sich Neues ein, manchmal sind es auch die Theorien von Außenseitern. Doch das geschieht, der Idee nach zumindest, nach ausgiebiger Prüfung und Forschung. Die alternativen Methoden entbehren dagegen meist jeglicher Plausibilität. Sie stützen sich auf Wunschdenken und Anekdoten – und auf Angst.

Es ist diese Angst, die ich in den dürren Gesichtern meiner Tischgenossen sehe, die es macht, dass wir uns an jede scheinbar einleuchtende Erklärung klammern, an jeden möglichen Sinn, an jede noch so vage Hoffnung. Es ist diese Angst, an der sich andere Menschen bereichern.

(jle)