Die Wiedergeburt des Web

Das klassische browserbasierte Web wurde bereits totgesagt, doch der neue Standard HTML5 bringt frischen Wind ins Netz – und macht für Nutzer einiges einfacher.

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Lesezeit: 8 Min.
Von
  • Bobbie Johnson

Das klassische browserbasierte Web wurde bereits totgesagt, doch der neue Standard HTML5 bringt frischen Wind ins Netz – und macht für Nutzer einiges einfacher.

Das World Wide Web ist in die Jahre gekommen, auch wenn man es ihm nicht anmerkt. Im Gegenteil: Anders als in den neunziger Jahren, als die Internetseiten nur Texte und statische Bilder zeigten, quillt das Netz mittlerweile über vor Multimedia-Angeboten, und Dienste bieten Funktionen statt nur Informationen. Wer etwa bei Google Maps ein Strichmännchen auf die Karte zieht, kann sich so reale Fotos der gewählten Gegend anzeigen lassen. Doch der Preis für den Fortschritt ist hoch: Moderne Sites kommen kaum noch ohne Zusatzprogramme wie Flash oder Silverlight aus, die den Umgang mit Multimediadaten erst ermöglichen. Die kleinen Helfer, die sich die Nutzer als „Plug-ins“ auf ihrem Rechner installieren müssen, macht die Browser komplex und langsam. Vor allem auf kleinen Mobilgeräten ist das unakzeptabel, sodass hier häufig kleine, spezialisierte „Apps“ anstelle eines aufgepumpten Browsers die Rolle als Tor ins Internet übernehmen.

Mit dem offenen Programmierstandard HTML, der einst die Grundlage für das klassische Web schuf, ist der Massenbetrieb auf der weltweiten Datenautobahn kaum noch zu vereinbaren. „Das Web ist tot“, verkündete das US-Magazin „Wired“ deshalb im September auf seiner Titelseite. Doch der Alarmismus war übertrieben: Eine Gruppe von rebellischen Programmierern ist auf dem besten Weg, das universelle Web fit zu machen für die multimediale Zukunft und vor allem für die zunehmende Nutzung auf kleinen Mobilgeräten. Diese Rückbesinnung auf Standards macht Web-Entwicklung wieder einfacher und billiger – und hat das Potenzial, eine neue Welle von Innovationen auszulösen.

Als Tim Berners-Lee Ende der achtziger Jahre seine Idee für ein riesiges Netz aus Dokumenten ausbrütete, musste er irgendwie festlegen, wie die einzelnen Seiten aussehen und wie sie miteinander verbunden sein sollten. Bestehende Programmiersprachen eigneten sich dafür nicht, also entwickelte er eine eigene. Das Ergebnis HTML, die Hypertext Markup Language, wurde sozusagen die Muttersprache des World Wide Web. Und es verkörperte dabei das Ideal, Wissen zu teilen. Denn statt wie proprietäre Software den Quellcode zu verstecken, lässt HTML sich in die Karten schauen. Auf jeder Website kann der Nutzer den Quellcode aufrufen und damit die Programmierung analysieren.

Ende der neunziger Jahre allerdings musste sich Berners-Lee fragen, ob HTML sich nicht überlebt hatte. Der Internet-Boom war in vollem Gang, und HTML war mit der Komplexität überfordert, die Nutzer und Unternehmen vom Web zunehmend erwarteten. Das World Wide Web Consortium (W3C), ein mit der Weiterentwicklung des Internets befasstes Gremium der wichtigsten Netz-Unternehmen wie Microsoft und Apple, setzte sich für neue Regeln in der Web-Programmierung ein. Sie sollten vor allem den Austausch von Daten zwischen den Servern der Website-Betreiber und den Computern der Nutzer erleichtern. Unter der Führung von Berners-Lee beschloss folglich das am Massachusetts Institute of Technology nahe Boston ansässige W3C, die Entwicklung von HTML einzustellen.

Als Alternative entstand XHTML. Die Web-Industrie unterstützte zunächst den Umstieg, zog sich aber bald wieder zurück. Denn XHTML war nicht vollständig „rückwärtskompatibel“, erforderte also, dass alte Webseiten für den neuen Standard neu geschrieben werden mussten. Zudem reagierte XHTML unglaublich streng auf schlampige Programmierung. Das alte Web war sehr nachsichtig mit Fehlern der Web-Programmierer umgegangen: Schlechter Code wurde einfach übergangen. Das neue System aber verlangte, dass jede Seite mit unkorrekter Programmierung eine Fehlermeldung auslöste. Im Labor war das kein Problem gewesen, doch in der Praxis hatten selbst sehr erfahrene Web-Entwickler Schwierigkeiten damit.

Und so bildete sich eine Gruppe von Abtrünnigen. Auf einem W3C-Workshop im Hauptquartier des Flash-Herstellers Adobe in Kalifornien kam es 2004 zum Showdown. „Die Frage war: Evolution oder Revolution“, erinnert sich Håkon Wium Lie, Technikchef beim Browser-Hersteller Opera, einem der Veranstalter des damaligen Workshops. „Sollten wir HTML, wie es im Web benutzt wurde, weiterentwickeln, oder sollten wir versuchen, eine neue, sauberere Sprache zu schaffen?“

Ian Hickson, ein Programmierer im Team von Wium Lie, stellte die Weiterentwicklung von HTML zur Abstimmung – und unterlag: Mit einer Mehrheit von 11 zu 8 Stimmen wurde die Wiederaufnahme der W3C-Arbeit an HTML abgelehnt. Jedoch hatten einige der Leute, die hinter Hicksons Vorschlag standen, eine wichtige Gemeinsamkeit. Sie arbeiteten bei Microsoft, Apple oder Mozilla – sämtlich Organisationen, die selbst Browser entwickelten. „Als klar wurde, dass sie sich einig waren, hatten sie keine andere Wahl, als etwas zu tun“, sagt Tantek Çelik, damals Microsoft-Vertreter beim W3C und heute tätig für Mozilla, den Hersteller des Firefox-Browsers.

„Etwas tun“ bedeutete in diesem Fall nicht weniger als einen Aufstand. Zwei Tage nach dem Treffen gab eine von Mozilla, Opera und Apple angeführte Gruppe bekannt, dass sie eine neue Organisation zur Weiterarbeit an HTML bilden würde. Fast sofort begann sie damit, eine neue Version zu entwerfen, und Hickson wurde zum offiziellen „Editor“ bestimmt. Das Update bekam den Namen HTML5, weil es die fünfte wichtige Version der HTML-Spezifikation darstellt.Während die meisten Browser-Hersteller auf die Weiterentwicklung von HTML setzten, plagte sich das W3C unter Führung von Berners-Lee weiter mit einer neuen Version von XHTML ab. Ende 2006 aber gab Berners-Lee sich geschlagen und wechselte ins andere Lager: Das W3C würde zusammen mit den Rebellen an HTML5 arbeiten, „um eine der Kronjuwelen der Web-Technologie“ zu schaffen, gab er bekannt.

„Das W3C hatte schlicht aus den Augen verloren, dass es selbst überhaupt keine Macht hat“, kommentiert Hickson, der heute für Google arbeitet, die damalige Situation. „Jeder kann eine Spezifikation schreiben, aber wenn niemand sie übernimmt, ist sie nichts weiter als ein besonders langweiliges Stück Science-Fiction.“

Das zentrale Anliegen von HTML5 besteht darin, dass Websites von verlinkten Seiten zu echten Programmen werden. Mit dem neuen Element Canvas zum Beispiel können Web-Designer bewegliche Grafiken einbinden und so Spiele oder Animationen im Web realisieren. Außerdem sieht die Sprache eigene Tags für Video- und Audio-Inhalte vor, was den Umgang mit Multimedia im Web dramatisch vereinfachen dürfte: Einen Videoclip oder ein Lied zu integrieren wird so einfach werden wie das Veröffentlichen von reinem Text oder Bildern.

Schon heute ist das Web voller Musik und Videos – YouTube allein soll inzwischen für zehn Prozent des weltweiten Internet-Datenverkehrs verantwortlich sein. Aber HTML5, das für Multimedia-Elemente keine komplexe Programmierung und keine Extra-Software wie Flash mehr erfordert, wird hier ordentlich aufräumen. Das Programmieren von Webseiten wird wieder einfacher, und – für die Nutzer besonders wichtig – die Browser laufen wieder schneller.

Und auch der Sicherheit ist zumindest teilweise gedient: Für Internet-Kriminelle dürfte es schwieriger werden, Anwender dazu zu bringen, scheinbar hilfreiche Plug-ins zu installieren, die in Wirklichkeit als sogenannte „Trojaner“ Daten ausspionieren oder den Rechner zum Server umfunktionieren, mit dem illegale Dokumente verbreitet werden.

Zu guten Teilen nimmt HTML5 schlicht das Beste von dem, was es im Web bereits gibt, und macht es zum Standard. So ist es bei Google Mail schon heute möglich, eine Datei vom Desktop auf das Browserfenster zu ziehen und sie so an eine E-Mail zu hängen. Dieser Trick wird jetzt auch in HTML5 festgeschrieben, sodass „Drag & Drop“ zum Teil des für jedermann nutzbaren Werkzeugkastens für Webseiten wird.

Aber die Technologie eröffnet auch ganz neue Möglichkeiten. Unter anderem haben Entwickler jetzt die Option, Browser größere Mengen Daten speichern zu lassen. Die neuen Spezifikationen empfehlen fünf Megabyte pro Web-Domain und damit tausendmal mehr als bislang. Dadurch könnten Nutzer auch dann mit Webseiten arbeiten, wenn sie gerade nicht online sind. Unvernetzte Zeit in der U-Bahn ließe sich dann beispielsweise nutzen, um die Mannschaftsaufstellung in einem Onlinespiel zu verändern oder um E-Mails zu schreiben. „Wenn man dann wieder verbunden ist, kümmert sich die Website um die Synchronisierung“, erklärt Anne van Kesteren, Software-Entwicklerin für offene Standards bei Opera. Die Speichermöglichkeit....

(kd)