Die dritte Revolution

Das Jahr 2004 könnte sich in der Rückschau als das Jahr erweisen, in dem wir Kontakt zu den Gegenständen aufnahmen. RFID-Funkchips für die Logistik gehören dazu

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Lesezeit: 28 Min.
Von
  • Stefan Schmitt
  • Peter Schüler

Das Handy vibriert, doch die Nachricht, die es empfangen hat, kommt nicht von einem Menschen. Sie kommt von einem Ding –- Kühlschrank, Apfel, Schreibtisch, was auch immer. Alles was man für diese Art der Kontaktaufnahme tun muss, ist den Gegenstand mit einem visitenkartengroßen Etikett zu bekleben, das Nokia zusammen mit der neuen Plastikoberschale "Xpresson Shell" zum Aufstecken auf sein Modell 5140 liefert. Im Plastik steckt ein Lesegerät, im Etikett ein Funkchip. Geht man mit dem Handy ganz nahe an den Aufkleber heran oder berührt ihn, teilt der Chip seinen Namen in Form einer Codenummer mit. Das Handy vibriert dann binnen weniger als einer Sekunde und zeigt so, dass der Aufkleber erkannt wurde.

Kommunizieren durch Antippen, Dinge anklicken wie einen Hyperlink -– viel spricht dafür, dass 2004 in der Rückschau das Jahr markieren wird, in dem wir mit den Dingen Kontakt aufnahmen. Computer und ihre den Erdball umspannenden Netzwerke waren bislang blind für die nicht-digitale Welt, hatten keine Verbindung zu den Dingen, Objekten und Gegenständen, aus denen sich die Umwelt für den Menschen zusammensetzt. Durch mühsam getippte Eingaben musste er sie den Rechnern begreiflich machen. Macht Nokias Beispiel Schule, öffnet sich für Computer der Blick auf die reale Welt -- vermittelt durch Gesten wie Berühren oder Zeigen, die bislang nur von Mensch zu Mensch funktionierten.

Klingt kompliziert? Ein paar Beispiele zeigen konkret, welche nützlichen Anwendungen aus der Verbindung von virtueller und realer Welt möglich werden: MÜNCHEN. Im Ubicom-Projekt der Fraunhofer-Einrichtung für Systeme der Kommunikationstechnik kommt an jeden Türrahmen ein Funketikett. Wechselt Dong-Hak Kim den Raum, schwenkt er seinen Palmtop mit Lesegerät an der Markierung vorbei. Ein System namens "Personal Office Gateway" registriert den Ortswechsel, leitet Anrufe für Kim in den neuen Raum weiter und schaltet für ihn dort gleich Geräte wie PC, Drucker oder Beamer frei. Wenn Kims Kollegin Dorothea Gothan ein Buch aus dem Bestand des Instituts entnimmt, registriert ein Lesegerät an ihrem PC das Funketikett auf dem Buchrücken. Wer im Intranet nun nach diesem Buch sucht, wird an Dorothea verwiesen. Der stellvertretende Projektleiter Richard Wimmer zeichnet das Bild vom komplett verlinkten Büro: "Es ist durchaus denkbar, eine solche Umgebung mit entsprechenden Suchmaschinen abzuscannen. Nach dem Motto, wen oder was finde ich gerade wo?"

AMSTERDAM. Andrew Goldman zückt sein Handy vor dem bunten Werbeposter in einem Amsterdamer Kongresszentrum. Der PR-Mann von Philips berührt mit seinem Telefon das DIN-A1-Bild mit dem Konterfei der Videospiel-Lady Lara Croft. Es piept, als das Telefon den im Poster versteckten Funkchip erkennt und dem Handy die Download-Adresse für das Tomb-Raider-Videospiel übermittelt. Über den Daten- funk GPRS kann es das Spiel gleich herunterladen. Philips hat das zusammen mit Universal Music und, für die Bezahlung, dem Kreditkarten-Unternehmen Visa schon demonstriert. TOKIO. Der japanische Telefonriese NTT DoCoMo liefert seit diesem Sommer Handys mit den neuartigen "FeliCa"-Chips von Sony aus. Die so ausgestatteten Geräte sollen für Zugangskontrollen, Identifikation und Bezahlvorgänge gut sein. "Unser Ziel ist es, dass im Jahr 2009 Millionen von Menschen ohne Brieftaschen herumlaufen", sagt Takeshi Natsuno von NTT DoCoMo. In diesem Fall fungiert das Telefon nicht als Lesegerät, sondern selbst als der Gegenstand, der via Funkabfrage Informationen preisgibt.

HELSINKI. Statt zweimal auf die Uhr, einmal auf den Fahrplan und mehrmals in die Luft zu gucken, rätselnd, ob der Bus wohl pünktlich sein wird, lädt ein schlichter Aufkleber an einer Bushaltestelle zur Echtzeit-Nachfrage ein. "Der Chip hat eine Codenummer für die Haltestelle gespeichert. Berührt man ihn mit einem GPRS-fähigen Lesegerät, wird beim Server der Verkehrsbetriebe angefragt: Wann genau kommt welcher Bus als Nächstes hier vorbei?", beschreibt ein Nokia-Mitarbeiter den Prototypen. "Es ist, als greife man nach der Information." Nach dem Muster dieser Beispiele könnten in Zukunft Millionen, wenn nicht Milliarden von Gegenständen mit funkfähigen Etiketten ausgerüstet und so von Computern ansprechbar werden. Im Logistik-Bereich läuft derzeit eine Welle der Vernetzung mit den so genannten RFID (für Radio Frequency Identification)- Tags. Wie die Nokia-Etikette haben sie eine eindeutige Identifizierungsnummer gespeichert, die auf Anforderung an ein Lesegerät gefunkt wird. So lassen sich Teile und Produkte über die gesamte Produktions- und später die Lieferkette verfolgen. Aber die Entwicklung geht noch deutlich weiter: Statt nur vorgegebene Informationen auszuspucken, können die aufgerüsteten Dinge mittels Sensoren auch selbst Daten erfassen; und sie können sich mit benachbarten Gegenständen austauschen und Informationen über einen stärkeren Sender oder das Internet auch an weit entfernte Computer schicken.

Auf der Fahrt vom Zentrum nach Espoo, einer der Städte des Ballungsraums Helsinki, kreuzt das Taxi unzählige Brücken. Eiszeitlich abgeschliffene Felsrücken gucken aus dem Wasser, aus den kargen Nadel- und Birkenwäldchen stechen die Stahl- und Glastürme der rauschenden 90er Jahre hervor. Hier liegt das Nokia-Hauptquartier - trotzige Glaskörper, die den wolkigen finnischen Himmel spiegeln. Dazu dutzende andere Kommunikationsfirmen, die Technische Universität von Helsinki. Dann links um die Ecke, hinter Tannen: VTT Micronova. Fünfstöckig, Holz und Glas, offenes Atrium, 2600 Quadratmeter Reinraum und eine Caféteria, in der Piroggen gereicht werden.

Micronova ist das Werk von Heikki Seppä, angestoßen Mitte der neunziger Jahre, um VTTs Forschungsaktivitäten zu Mikroelektronik, Mikrosensorik und Telekommunikation unter einem Dach zu vereinen. Heute fungiert Seppä, ein kleiner Mann mit Glatze, Vollbart und unruhigen Augen hinter einer runden Brille, als Forschungsdirektor des Instituts VTT Information Technology, das alle diese Aktivitäten beherbergt. Er spricht schnell, wippt in seinem Freischwinger, schnellt vor und deutet auf ein Bild seines Sohnes, das an der Wand hängt: "Wenn ich meinen Jungen jetzt anrufen wollte - wäre es da nicht toll, wenn ich einfach mit dem Telefon Richtung Bild zeigen und es antippen könnte? Das Bild würde die Nummer kennen, das Telefon wählen, ich müsste nur noch sprechen." "Wir hatten zwei Revolutionen", sagt Seppä, "zuerst die der Dinge. Industriell können wir Gegenstände sehr schnell und effektiv fertigen. Dann kam die Informations-Revolution, die es uns erlaubt hat, Informationen zu generieren, zu speichern und zu übertragen - nur begrenzt durch die Geschwindigkeit des Lichts. Aber es mangelt noch an der Verbindung zwischen diesen Welten. Wenn wir das Wissen zu den Dingen bringen und ohne Umweg über die virtuelle Welt darauf zugreifen können –- das wird die dritte Revolution."

Seppäs Gruppe betreibt den Umsturz nach Kräften: Sie will den Dingen digitale Informationen entlocken, ohne dass der Nutzer dabei mit komplizierter Technik konfrontiert wird. "Angenommen, Tags messen Feuchtigkeit, Temperatur und sonst was in einem Raum - diese Messwerte über eine Art Menü in einem Gerät zu suchen, wäre viel zu kompliziert", sagt der Chef-Forscher. VTT entwickelt deshalb drei maßgebliche Interfaces: touch me, point me und sweep me. Wenn man mit einem Lesegerät auf ein smartes Objekt zeigt, es berührt oder darüber streicht, wird seine Information angezeigt. Seppä nennt das "Physical Browsing". So wie im Web alles über Mausklicks läuft, soll sein Echte-Welt-Netz auf der Basis von Handbewegungen funktionieren.

VTT nimmt teil am EU-Forschungsprojekt Mimosa ("Microsystems Platform for Mobile Services and Applications"). Das 20-Millionen-Euro-Programm soll Nutzern einen "sanften Übergang von gegenwärtigen mobilen Diensten zu Diensten in einer intelligenten Umgebung" ermöglichen – beschäftigt sich also mit einer zukünftigen Gestalt der Verbindung zwischen virtueller und realer Welt. Doch wie realistisch ist die Vision? Helfen dürfte auf jeden Fall die Tatsache, dass einfache RFID-Tags zurzeit schwer in Mode sind - obwohl sie im Prinzip eine alte Idee, technische Probleme ungelöst und dringende Fragen von Datenschützern unbeantwortet sind (siehe Kasten Seite 28). Die weltweiten Umsätze mit RFID-Hardware sollen von rund 1,5 Milliarden US-Dollar in diesem auf mehr als das Doppelte im Jahr 2008 ansteigen, prognostiziert ABI Research. Alle Eintrittskarten für die Fußball-WM 2006 zum Beispiel werden mit Funkchips versehen oder, auf neudeutsch: "getaggt". Die heiße Abkürzung steht für eine Schmalspur-Funktechnik: Das elektrische Feld eines Lesegeräts induziert Spannung in die Antenne einer kleinen Schaltung ohne eigene Stromversorgung. Gerade genug, um einen kleinen Speicherinhalt, typischerweise die Identifikationsnummer, zurück ans Lesegerät zu schicken. Außerhalb eines Feldes richtiger Frequenz verharren die Transponder (von "transmit" und "respond") im Koma.

Da recht simpel aufgebaut, sind diese "passiven Tags" günstig, mangels Batterie sind sie wartungsfrei. In unterschiedlichen Frequenzbändern werden solche Transponder seit über 20 Jahren benutzt: Für berührungslose Skikarten oder Autoschlüssel, als Markierung von Rindern und Schweinen, in so genannten Smartcards, in der Produktion oder in der Logistik. Ende des zwanzigsten Jahrhunderts aber kamen zum Wissen um die Transpondertechnik die Möglichkeiten hinzu, die das sprießende Internet plötzlich bot: Am MIT formten Forscher wie David Brock und Sanjay Sarma 1999 das Auto-ID Center. Was, so ihre Idee, wenn man jede Coladose und jedes andere Produkt auf dem Planeten mit einer simplen, aber einzigartigen Nummer versehen würde? Was, wenn jede dieser Nummern automatisch erkannt ("Auto-ID") und dann einem Datenbankeintrag im Netz zugeordnet werden könnte?

Die MIT-Idee wurde unter dem etwas irreführenden Namen "Internet der Dinge" populär. Er kann bedeuten, dass jeder Gegenstand von jedem Ort der Welt aus angesprochen werden kann - muss er aber nicht. Nicht die Art der Vernetzung ist hier entscheidend, sondern der Gedanke der Adressierung: Indem jedes Objekt im Internet der Dinge eine einzigartige Nummer erhält, kann es eindeutig verfolgt, mit entfernt gespeicherten Daten in Zusammenhang gebracht und damit quasi verlinkt werden. Logistik und der Wunsch, Lieferketten besser zu kontrollieren, sind die Triebfedern der aktuellen RFID-Entwicklung. Airbus in Hamburg heftet Tags mit großem Speicher als digitalen Laufzettel auf teure Werkzeuge und verkürzt so deren Transportwege rund um den Globus. Die Fraport AG, Besitzerin des Frankfurter Flughafens, taggt testweise nicht nur Koffer, sondern auch Gepäckwagen, Servicefahrzeuge und ganze Gebäudeinstallationen. VEM Motors aus Wernigerode versieht seine Elektromotoren mit Smart Tags, die als lebenslängliches Logbuch Leistungsdaten, Einsatz und Wartung dokumentieren. Vereinzelt kommen auch schon Endverbraucher mit den neuen RFID-Anwendungen in Berührung: etwa in Israel mit drahtlosen Parktickets oder im New Yorker Prada-Store in Soho. Dort lesen Geräte in allen Umkleidekabinen die Funketiketten an den Kleiderbügeln - und preisen dann weitere Nobeltextilien an, die zum gewählten Stück passen sollen. Noch ist vieles davon Klein-Klein, oft nur eine unerhebliche Weiterentwicklung der schlichten Barcodes.

"Was wir sehen, sind viele closed loops, aber noch keine open loops", versucht Elgar Fleisch den prinzipiellen Unterschied zu erklären: Geschlossene Schleifen bedeuten für ihn, dass Anschaffung und Nutzen einer Tag-Lösung auf einen Betrieb oder einen Prozess begrenzt sind. "Sie finden praktisch keinen großen Produzenten mehr, der nicht irgendwo intern RFID-Tags einsetzt. Dies sind aber Insellösungen, die nicht über den definierten Rahmen hinausgehen, für den sie geplant wurden. Die ungelöste Frage in open loops, die nicht an organisatorischen Grenzen Halt machen, ist hingegen noch immer: Wer bezahlt das Tag, und wer hat den Nutzen davon?"

Fleisch forscht an der Universität St. Gallen und ist Europas RFID-Vordenker. Als Co-Direktor des M-Lab, einer Kooperation mit der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich, lotet er betriebswirtschaftliche Aspekte der Post-PC-Ära aus. Dazu gehören auch jene offenen Tag-Schleifen: Szenarien, in denen ein Etikett auf einem Gegenstand mehreren Zwecken dient, manchmal auch ganz anderen, als der Aufklebende dabei im Sinn hatte. "Die informationelle Welt wird mit der physischen Welt verschmolzen, über das Internet der Dinge", sagt auch Fleisch. Eine Fusion der Welten also - aber irgendjemand muss sie bezahlen. "Das ist ein Henne-Ei-Problem", sagt Fleisch "weil die Technologie dazu noch zu teuer scheint, kann sie sich keiner leisten und umgekehrt."

Mit anderen Worten: Der Stückpreis der funkenden Aufkleber muss so weit sinken, dass nicht nur der interne Einsatz, sondern auch das Weiterverschenken qua Auslieferung rentabel erscheint. Erst dann können aus geschlossenen Schleifen offene werden und aus dem Intranet ein Internet der Dinge im Sinne von Seppäs Physical-Browsing-Szenario. Gegenwärtig ist ein Richtwert für recht dumme Tags 30 Cent. Einen Dammbruch in der Verbreitung erwarten Beobachter, wenn der Preis die Schwelle von fünf Eurocent pro Stück unterschreitet und sich in Richtung ein Cent bewegt. "Wir sind dramatisch von der Stückzahl abhängig. Bei einer Milliarde baugleicher Tags im Jahr kämen wir ganz schnell in den Fünf-Cent-Bereich, das ist nichts Utopisches", sagt Reinhard Kalla, bei Philips Semiconductors in Hamburg für die RFID-Entwicklung zuständig. Menge also. Zum Vergleich: Im vergangenen Jahr umfasste der Gesamtmarkt für RFIDTags aller Art laut Kalla rund eine Milliarde Stück. "Für Kugelschreiber oder Radiergummis wären aber auch fünf Cent noch zu teuer", gibt er zu bedenken.

Siebenhundert Kilometer weiter südlich grübelt Werner Weber über Hürde Nummer zwei. Der Physiker und Chefwissenschaftler der Infineon-Forschungsabteilung macht folgende Rechnung auf: "Der Quadratmillimeter Silizium kostet circa zehn Cent in der Herstellung, und das wird auch ziemlich konstant so bleiben. Dazu kommen für einen Transponder noch Antennen- und Verpackungskosten." Jeder Posten macht jeweils ein Drittel aus. Webers Leute forschen nach Einsparpotenzial: Einerseits verkleinerten sie einen Transponder, indem sie ihn als reine Wechselstromschaltung konstruierten. Ein Gleichrichter für den induzierten Strom und damit 20 bis 30 Prozent der Fläche können so eingespart werden. So passen mehr Transponder auf einen Wafer. Nach dem Vereinzeln bedampfte man bei Prototypen der Halbleiterkrümelchen außerdem zwei Seiten mit Metall, was zu deutlich größeren Anschlusskontakten führt. Weil die Montagerobotor bei der Verbindung von Chip und Antenne dadurch weniger präzise sein müssen, arbeiten sie bis um das Fünffache schneller. Ein paar Jahre weiter und potenziell einige Zehntelcent billiger kommt Kunststoff ins Spiel. Karlheinz Bock zückt eine Visitenkarte und dreht sie mit dem Gesicht nach unten. Über die Rückseite ziehen sich Leiterbahnen, gedruckt wie mit einem Tintenstrahldrucker, mittendrin der winzige Kern eines Mikrochips.

Noch ist das Herz konventionell, doch Bock will da weg: "Einen Polymer-Chip muss ich nicht unbedingt verkleinern, um ihn billiger zu machen." Bock leitet die Polymerelektronik-Entwicklung am Fraunhofer-Institut Zuverlässigkeit und Mikrointegration in München. "Wir wollen nicht die kleinsten und schnellsten Polymer-Transistoren machen, sondern die Low-cost-fähigsten, zum Aufdampfen oder Drucken. Einfache, wegwerfbare Tags und Sensoren sind unser Ziel" -– wie geschaffen als Tags für Einwegverpackungen wie Milchtüten oder Joghurtbecher.

"Natürlich wäre das toll, wenn wir eines Tages gleich eine Präsentation über die Firma mit unserer Karte überreichen könnten - im Moment passt aber eher ein Hyperlink drauf", sagt Bock. Doch bereits der würde ausreichen, um als Teil eines Internets der Dinge durchzugehen: Vom Lesegerät erfasst, ließe sich damit automatisch die Unternehmens-Website in einem Browser auf dem Handy oder dem Bürocomputer aufrufen; oder man könnte die relevanten Daten direkt in seine elektronische Kontaktliste übernehmen lassen. Fünf Jahre akademischer Forschung sieht ein Industrievertreter noch zwischen dem Jetzt und RFID-Tags auf reiner Polymerbasis. Es bleibt viel zu tun. Doch das Moore'sche Gesetz von den stetig sinkenden Kosten in der Mikroelektronik, zusammen mit der steigenden Nachfrage aus Closed-loop-Projekten, lässt den angestrebten einen Cent pro Funkchip nicht unrealistisch erscheinen. Anwendungen, die nicht über einen quasi lokalen Kontakt zwischen Transponder, Reader und einem PC hinausgehen, dürften auf Dauer wohl nur eine Minderheit stellen: ABI Research prognostiziert, dass bis 2009 die Hälfte aller Mobiltelefone RFID-fähig sein wird.

Anfang 2005 sollen die ersten Modelle mit der von Philips und Sony entwickelten Near Field Communication (NFC)- Technologie, einer speziellen RFID-Variante, auf den Markt kommen (siehe Kasten oben). Von ihnen erwartet Erik Mi- chielsen, Analyst bei ABI, eine Initialzündung für den Markt. Auch Francisco Ibáñez-Gallardo, der für die Europäische Kommission das Mimosa-Programm betreut, sieht Handys als "Türöffner für neue Dienste".

VTT-Forscher Seppä spricht vom "persönlichen, vertrauenswürdigen Gerät", wenn er sein RFID-Terminal umreißt. Nicht nur müsse das Gerät in der Lage sein, abhängig vom Kontext zu entscheiden: Was kann der Nutzer meinen? Kontakt zu welchem Transponder ist gerade sinnvoll? Es würde auch eine Menge Passwörter (etwa für Tags, auf die nicht jeder zugreifen darf) enthalten - und persönliche Daten. Seppä illustriert das am Beispiel des Allergikers, der unverträgliche Substanzen im Gerät auflisten könne, um beim Browsen eines Produkts und eventuell nach einer Datenbankabfrage der Inhaltsstoffe automatisch gewarnt zu werden. Kurze Lesedistanzen – bei NFC-Demonstrationen war das Browsen bislang ein regelrechtes Antippen, und auch Seppä spricht von Zentimetern - werden als Sicherheits-Plus angeführt: Es soll verhindern, dass ein Mithörer die Antwort eines angesprochenen Transponders aufschnappen kann. Antennen und Reichweiten sind Gegenstand eifriger Forschung - in Stein gemeißelt ist die Reichweitenbeschränkung nicht.

Auch hinsichtlich Fähigkeiten und Intelligenz dürften die Tags noch zulegen. Das aktuell obere Ende der Leistungspalette kann man heute bei Tulpen und Kiwis sehen und bei Microsensys. Reinhard Jurisch, Geschäftsführer des Erfurter Unternehmens, hält ein Lesegerät an ein rundes Döschen, metallen und etwa daumendick. "21° C" zeigt das Display an. Außerdem kann Jurisch sich überzeugen, dass auch in den letzten Stunden Raumtemperatur herrschte. Sein "Telid3T" ist ein Datalogger, eine Art Fühler mit Notizbuch - allerdings batteriebetrieben, also ein "aktiver Tag". In programmierbaren Intervallen misst er die Temperatur der Umgebung, notiert sie und verfällt in einen Schlaf. Speicher und Sensor sind an einen RFID-Transponder gekoppelt. "Fast zweitausend Messwerte kann ich speichern und auslesen, das reicht, um eine gesamte Kühlkette zu verfolgen", sagt Jurisch. Kiwis aus Neuseeland oder Blumen auf ihrem Weg von Holland quer durchs Bundesgebiet reisen bereits mit dieser Protokoll-Begleitung.

"In Zukunft wird man RFID-Chips und Sensorelemente gleich im Siliziumdesign vereinigen", erwartet Jurisch. Einiges deutet darauf hin, dass Dinge auf diese Weise empfindlich, vielleicht sogar gesprächig werden: Fortschritte in der Mikromechanik machen eine Vielzahl von feinen Fühlern aus dem Chip-Baustoff Silizium möglich (siehe auch Technology Review 02/04). "Bei Druck und Temperatur werden Sensor-Tags auch in den Massenmarkt Einzug halten", glaubt Jurisch. In Autoreifen oder ihren Ventilen, diese Erwartung herrscht quer durch die Branche, werden passive Druckfühler in den kommenden Jahren zum Standard - und wie besser ausmessen als kontaktlos? Auch in Seppäs Team wird an Reifen- Transpondern gearbeitet. "Am liebsten würde ich auch gleich Sensoren im Asphalt vergraben", schwärmt er, "die könnten dann Informationen über die Fahrbahnbeschaffenheit an ein Lesegerät im Auto weitergeben, das warnt, wenn es nass ist, gefroren oder besonders heiß. Das könnte auch den Zusatznutzen einer Autobahn steigern. Immerhin werden immer mehr davon privat finanziert und gebaut." Dem Thermometer- Tag hilft die EU-Kommission auf die Sprünge: Von 2005 an schreibt sie eine lückenlose Nachverfolgbarkeit der Transportwege von Lebensmitteln vor.

"Wenn wir erst einmal hunderte von Tags um uns herum haben - wie sollen die sich verständlich machen?", fragt EU-Mann Ibáñez-Gallardo. Seine Antwort: "Kommunikation zwischen den Tags." Bei solchen "Sensornetzwerken", die etwa untereinander Messwerte austauschen und abgleichen, endet nicht nur die bekannte Teilung in Leser und Transponder. Zugleich gewinnen die Tags Autonomie. Kein Nutzer steuert, wie sie ihre Netze ad hoc, also im Stegreif, spinnen. Die Entwicklung zeigt: Wenn kleine Systeme ein Massenphänomen werden, sind sie gar nicht einzeln per Leser zu kontrollieren. Selbstorganisation wird gerade außerhalb klar definierter Installationen wie Fabriken ein Muss.

Die Netzwerke des Unternehmens Ember aus Boston sind ein Beispiel für diese Funktion: Sie stecken bereits in einigen US-Motels, wo sie über den Strom sparenden Funkstandard ZigBee Zimmerklimaanlagen steuern. Ihre begrenzte Reichweite gleichen ZigBee-Geräte aus, indem sie sich zu einem spontanen "Mesh"-Netzwerk zusammenschließen, das bis zum Steuercomputer an der Rezeption heranreicht. Besonders Militärs interessieren sich für die geschrumpfte Ausgabe solcher Netzwerker: Eifrig wird in den Labors in Richtung "Smart Dust" gedacht - Kleinstsensoren, die sich unsichtbar über ein Gebiet legen und Umgebungsinformationen aus ihm herausschaffen können. Die "nodes" genannten Prototypen haben zwar noch eher die Größe einer Walnuss, und der bisherige Netzwerkrekord liegt bei nur 900 solcher Staubklumpen. Doch Geld ist für diese Stoßrichtung des Internets der Dinge reichlich vorhanden. "Sicherheit und Verteidigung ist vielleicht das Feld, das sich am schnellsten entwickeln wird", schätzt Adrian Tuck von Ember.

Allerdings: Um sich greifendes Tagging führt zu Datenströmen, die in diesem Umfang sonst nur aus der Satellitenkommunikation bekannt sind. Für den physikalisch browsenden Nutzer ist vielleicht nur hier und da ein Tag zu sehen – doch dahinter ist massive Aufrüstung der Computerwelt erforderlich. Auch an der Integration der Tag-Telegramme in die bestehende IT-Infrastruktur entscheidet sich, ob die Heirat zwischen physikalischer und virtueller Welt klappt. "Nur dort, wo das Mehr an Daten auch zu einer Verbesserung führen kann, ist der Einsatz sinnvoll", beschreibt Kurt Rindle von IBM diese Abwägung. Denn Massen von erfassten Daten bedeuten zunächst einmal auch: jede Menge potenziell unnütze Informationen. Dem sollen lokales Speichern im Tag einerseits und gnadenlose Selektion ausgelesener Informationen andererseits entgegenwirken. Entscheidungen sollen weg vom zentralen Server hin zu vielen eingebetteten Geräten dazwischen verlagert werden. Zum Beispiel beim Tag, der übers Laufband rauscht und "alles in Ordnung" signalisiert: Schon das Lesegerät am Laufbandrand soll entscheiden können, diese Meldung erst gar nicht weiterzuleiten.

Das ist die eine Herausforderung. Eng mit ihr verbunden ist diejenige, weit verstreute Gegenstände in zentrale Geschäftsprozesse einzubinden. Genau das aber macht die Macht von RFID und anderem Dinge-Funk aus. Greg Papadopoulos, Chief Technology Officer bei Sun Microsystems, spricht von einer "Explosion am äußeren Rand", was Zahl und Fähigkeiten smarter Objekte angeht. Per Internet könnten Unternehmen längst an die Kunden ausgelieferte Produkte an der langen Datenleine halten, indem sie entfernte IP-fähige Lesegeräte oder Zugangspunkte für lokale Netze abfragen und so Zustandsinformationen erhalten. Das ermöglicht radikal neue Geschäftsmodelle: Weiß ein Unternehmen über Zustand und Leistung seiner Produkte beständig Bescheid, kann es statt Düsentriebwerken Schub, statt Druckern beschriebene Seiten und statt Filteranlagen die Reinigung einer genau erfassten Menge Wasser in Rechnung stellen - Computing on demand, also der Abruf und die Abrechnung nur von Rechenkraft bei Bedarf, ist nichts dagegen.

Für Betriebswirte haben solche Gedankenspiele ihren Reiz. Doch es wundert wenig, dass selbsttätig kommunikative Geräte und unüberschaubar vernetzte Dinge bei Datenschützern eher Horrorvorstellungen hervorrufen. Dass der Schutz von Privatsphäre und persönlichen Daten mittlerweile seinen Platz auf der RFID-Agenda hat, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die smarte Umgebung informationelle Selbstbestimmung beschneiden wird. "Plötzlich", sagt M-Lab-Forscher Fleisch, "ist die Welt voller Sensoren, Kameras und Mikrofone - man weiß nicht mehr so genau, mit wem man redet. Früher musste man Millionen aufwenden, um sich unsterblich zu machen. Heute kommt man gar nicht mehr aus dem Internet heraus. Schon heute ist Privatheit ein Luxus." Unter Datenschützern gilt es als Dogma und Erfahrungswert zugleich, dass Daten, wenn sie erst einmal gespeichert wurden, auch irgendwann missbraucht werden. Welches weitere Konfliktpotenzial in der Tag-Technologie steckt, zeigt Lorenz Hilty, Informatiker, Risikoforscher und Co-Autor der Schweizer Studie "Das Vorsorgeprinzip in der Informationsgesellschaft".

Von acht möglichen Konfliktfeldern, die Hilty in Zusammenhang mit RFID nennt, beschäftigen sich zwar nur zwei mit dem Missbrauch von Informationen –- Faktoren wie zunehmender Energieverbrauch oder die Schadstoffbelastung durch Elektronik-Müll spielen ebenfalls eine Rolle. Aber analog zur Angst vor schädlicher Mobilfunkstrahlung könnte die gesteigerte Exposition durch Leser und Basisstationen von RFID-Installationen Angst vor gesundheitlichen Schäden und damit Ablehnung hervorrufen, so die Studie. Und ein Blick auf den Mobilfunk zeigt: Obwohl noch nichts bewiesen wurde, ist "Handystrahlung" zumindest eine soziale Realität, und die kann Nutzerverhalten prägen. Aber dieser Schuh lässt sich, ebenfalls unter Nutzung der Handy-Analogie, auch umdrehen: "Der Konsument wird das erst akzeptieren, wenn er einen Nutzen sieht. Wenn ich mit meinem Handy nicht telefonieren könnte, würde ich mich auch nicht seiner Strahlung aussetzen", sagt Fleisch. "Das Thema Privacy ist ein ernst zu nehmender Stolperstein, aber kein unüberwindliches Hindernis", lautet seine Einschätzung. VTT-Forscher Seppä wiederum geht das Datenschutz-Problem mit einer vielleicht für Finnland typischen Hacker-Denkweise an: "Wenn die Leute erst einmal Tags kaufen können, sie programmieren und selbst kontrollieren, ganz ähnlich wie sie das mit Linux tun, werden sie schon ihre Furcht verlieren." Vielleicht ist das kein probates Mittel für die Masse der Nutzer. In jedem Fall aber kann öffentlicher Widerstand auch dabei helfen, Produkte besser zu machen. Schließt sich also tatsächlich die letzte Lücke des Informationszeitalters? Was wird dann aus den noch stummen Gegenständen um uns herum: Datenträger? Computerdinge? Smartefakte?

"Was sind Dinge? Atome, eine Hülle? Was die Dinge uns mitteilen, wurde bislang hauptsächlich durch die Physik geprägt, ihre Farbe, ihre Form –- jetzt erweitern wir einfach den Informationsanteil", sinniert Elgar Fleisch und gibt gleich das neue Motto vor: "Gute Dinge wollen kommunizieren." Auch das Echte-Welt-Internet muss sich daran messen lassen, ob es Zeit, Geld oder Aufwand sparen kann. Aber die Chancen dafür stehen gut: "Der Waschmaschinen-Techniker mit RFID-Handy kann durch einfaches Antippen des Etiketts an der Maschine automatisch eine Botschaft für den Disponenten daheim abschicken: Datum, Zeit und Kundennummer - Auftrag erledigt", sagt Gerhard Romen von Nokia. "Genauso kann sich ein Wachmann auf seinem Rundgang melden, indem er mit dem Telefon an Kontrollpunkten aufgeklebte Tags berührt. Dann weiß die Zentrale sofort: Der Bereich ist in Ordnung, und dem Mann geht es gut."

"Haben Sie mal versucht, eine Bluetooth-Verbindung zwischen zwei Handys zu installieren in einem Raum voller Geräte?", fragt Philips-Mann Kalla rhetorisch. "Mit NFC tippen Sie die Geräte einfach aneinander, eines fungiert als RFIDTag, das andere als Reader, die Bluetooth-Verbindung baut sich dann von allein auf." Eine einzige Handbewegung erspart dem Nutzer mehrere Tastendrücke und das Hangeln durch die lange Liste möglicher Verbindungspartner für sein Telefon. Das ist Demo-Realität in diesem Jahr und ab dem kommenden Jahr für jedermann zu kaufen. Doch wie sich die anklickbare Welt letztlich für den Nutzer entwickeln wird, hängt von vielen Faktoren ab –- Kosten, Ideen, Gesetzen gar und Erfahrungen. Rein technisch gesehen, surfen die bisher bekannten Konzepte nur an der Oberfläche des Machbaren. Doch die Erfahrung mit dem originalen Internet lehrt: Auf einer neuen Netz-Infrastruktur können mit der Zeit ganz neue nützliche –- und überraschende –- Anwendungen entstehen. (sma)