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Die neue Revolution

Marcel Grzanna

China erlebt gut 60 Jahre nach Maos Staatsgründung den Aufbruch in die Zivilgesellschaft. Soziale Netzwerke haben Kräfte entfesselt, die von der kontrollwütigen Partei kaum noch beherrscht werden können.

China erlebt gut 60 Jahre nach Maos Staatsgründung den Aufbruch in die Zivilgesellschaft. Soziale Netzwerke haben Kräfte entfesselt, die von der kontrollwütigen Partei kaum noch beherrscht werden können.

"Meine Eltern streiten sich." "Mein Freund hat mich verlassen." "Ich hasse die Schule." Jeden Tag findet Zhang Xiuli mehrere Tausend solcher Hilferufe in ihrem E-Mail-Postfach. Halb China kennt die pensionierte Lehrerin mittlerweile als Briefkasten-Oma 2.0. Gerade jüngere Leute fragen sie gern über das Internet um Rat. "Ich kann das gar nicht alles beantworten", bedauert die 76-Jährige.

Ihre neue Strategie ist deshalb das Mikroblogging: Über drei verschiedene Kurzmitteilungsdienste bietet sie Chinas Jugend Lebenshilfe in 140 Zeichen frei Haus. Dort empfiehlt sie: "Eltern und Kinder müssen sich mit gegenseitigem Respekt behandeln." Oder sie gibt jungen Müttern den Rat: "Lasst die Kinder schreien, wenn sie wollen. Das ist wichtig für ihre psychologische Entwicklung." Täglich lesen 150000 Menschen, was Frau Zhang im Netz zwitschert. Diese neue Form der Kommunikation ist für sie ein Segen. "Es ist in China nicht üblich, offen über Probleme zu reden", sagt sie. "Aber Menschen brauchen Kanäle, über die sie sich äußern können. Im Internet kann man das völlig anonym tun." Das Web verändert das Leben, hat die alte Dame festgestellt.

Doch nicht nur ihr Leben hat sich verändert. Gut 60 Jahre nach Maos Staatsgründung hat eine jahrzehntelang bevormundete Masse begonnen, über soziale Netzwerke drastisch Einfluss zu nehmen auf die politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung ihres Landes. Die kontrollwütige Kommunistische Partei Chinas kann diesen Prozess kaum noch bremsen, der "Point of no return" ist längst überschritten.

Die Angst vor der Macht des Webs stand den Offiziellen der ostchinesischen Stadt Wenzhou Ende Juli letzten Jahres förmlich ins Gesicht geschrieben. Am 23. Juli 2011 ereignete sich dort ein Zugunglück mit offiziell 40 Toten und knapp 200 Verletzten. Die Reaktionen darauf übertrafen alle Befürchtungen der Behörden. Millionen Kommentare in Mikroblogs begleiteten die Bergungsarbeiten. Die Empörung darüber,

dass die Verantwortlichen die Hintergründe der Katastrophe zunächst vertuschen wollten, schwebte wie eine dunkle Wolke über den Funktionären. Sie waren es gewohnt, die öffentliche Meinung nach Gutdünken zu steuern. Jetzt waren sie ge- zwungen, vor der Öffentlichkeit Rechenschaft abzulegen. Die Wut im Internet bewirkte, dass Ministerpräsident Wen Jiabao vor Ort eine spontane Pressekonferenz gewährte, was sonst nie vorkommt.

"Die Regierung hat beim Zugunglück in Wenzhou ihre Kontrolle über die Informationen an die sozialen Medien verloren", sagt Professor Wang Sixin von der Universität für Kommunikation in Peking. Journalisten und normale Bürger bloggten vom Ort des Geschehens über das, was sie sahen – und zwar schneller, als die Offiziellen über schönfärberische Sprachregelungen nachdenken konnten. Das nötigte die Regierung zu mehr Transparenz.

"Soziale Medien bieten Chinas Öffentlichkeit einen neuen Kanal, Informationen zu suchen oder sie selbst zu verbreiten", sagt Professor Wang, der das für eine gute Sache hält. Der Staat sieht das naturgemäß anders, weil die Kontrolle von Informationen zu den wichtigsten Werkzeugen eines autoritären Systems gehört. "Die neuen Medien bedeuten für die Regierung eine riesige Herausforderung. Sie machen die Kontrolle der Bürger unweigerlich schwieriger", sagt Wang.

Tagtäglich werden die sogenannten Weibos, wie Mikroblogs à la Twitter auf Mandarin heißen, beliebter. 2009 ging es los. Seitdem wachsen die Nutzerzahlen rasant. Im Jahr 2011 explodierten sie förmlich – 550 Millionen Konten sind mittlerweile in China registriert. Milliarden Nachrichten werden wöchentlich gepostet oder weiterverbreitet. Diese Flut an Kommentaren und Informationen lässt sich von den Zensoren des Staates nicht mehr zeitnah kontrollieren.

Regelmäßig macht die Kollektivkraft aus dem Netz ihren neuen Einfluss geltend und weist auf Missstände hin. Der 15-jährige Sohn eines namhaften Generals der Volksbefreiungsarmee bekam das im September zu spüren. Er saß im BMW eines Freundes, als der Wagen mit einem anderen Fahrzeug zusammenstieß. Daraufhin prügelte der Junge auf Zeugen des Unfalls ein und warnte die Geschädigten davor, die Polizei zu rufen. Mikroblogs verbreiteten die Geschichte, der 15- Jährige wurde später mit einer Erziehungsmaßnahme bestraft.

Über Mikroblogs entwickelte sich auch eine einzigartige Solidaraktion für den chinesischen Künstler Ai Weiwei. Dem Dissidenten wurde eine absurd hohe Steuernachzahlung aufgebrummt, die er binnen weniger Tage begleichen sollte. Andernfalls drohte ihm Haft. Tausende spendeten dem Künstler Geld, damit der die Forderung begleichen konnte.

Der Weibo-Gemeinde gelang es zudem, das entführte Kind eines Arbeiters aus der Provinz Hubei aufzuspüren. Ein Internetnutzer hatte ein Foto des Kindes verbreitet, wie es an einer Straßenkreuzung in den Armen einer Frau zum Betteln missbraucht wurde. Per Schneeballsystem wurden immer mehr Menschen auf den Fall aufmerksam, bis das Foto schließlich auch die Eltern des Jungen erreichte. Ein anderes Kind benötigte dringend Spender für eine seltene Blutgruppe. Binnen zwei Tagen meldeten sich über Weibo zwei Kandidaten. In Nanjing retteten Umweltaktivisten einen Wald vor dem Abholzen. Sie lancierten eine Protestaktion, indem sie dazu aufriefen, dem PR-Büro der Behörden ihre Porträtfotos mit lächelnden Gesichtern zu mailen. Schon nach wenigen Hundert Fotos knickten die Behörden ein.

Die Menschen haben ihre neuen Möglichkeiten lieben gelernt. In einem Staat, der kein Interesse daran hat, selbstständige und mündige Bürger heranzuziehen, erweitern sie über soziale Medien ihren Horizont. "Die Leute teilen einen Raum miteinander, den sie zuvor nicht hatten: den öffentlichen Raum", sagt Michael Anti, chinesischer Journalist und Blogger. "Die Entwicklung wird uns dabei helfen, uns selbst zu helfen."

Der 36-Jährige heißt eigentlich Zhao Jing, aber seit einem Jahrzehnt nennt er sich als Protest gegen das Establishment "Anti". Letzten September bekam er in Potsdam für seinen Kampf gegen die Zensur den "M100 Sanssouci Media Award" verliehen. Soziale Medien seien das Update der Generation Internet, meint Anti. Er will damit sagen: Das Internet hat die Menschen Chinas miteinander verbunden, aber erst durch soziale Medien nähern sie sich einander. "Die Leute befinden sich im Aufbruch in die Zivilgesellschaft. Insofern sind soziale Medien revolutionär", sagt der Blogger.

Diese Zivilgesellschaft wurde bisher unter anderem von der Struktur des chinesischen Vereinswesens ausgebremst. Wer beispielsweise gern tanzt, zeichnet oder sich für die Umwelt engagiert, darf zwar einen entsprechenden Verein gründen, braucht dafür aber einen staatlichen Träger – etwa einen Verband, eine Verwaltungsabteilung oder auch die kommunistische Jugend-liga. "Bereits die Suche nach einer Trägereinheit entpuppt sich häufig als aussichtslos für die Aktivisten", sagt Maria Bondes vom Institut für Asienstudien in Hamburg.

Ist diese Hürde genommen, legt die Regierung den Aktivisten neue Steine in den Weg. Auf jeder der vier Verwaltungsebenen Staat, Provinz, Bezirk und Stadt darf sich nur jeweils eine Organisation pro Themenfeld registrieren lassen, und ihr Handlungsradius beschränkt sich auf ihren Verwaltungs-bereich. Somit verhindert der Staat, dass sich Allianzen aus verschiedenen Gruppen bilden. Auch eine vertikale Verknüpfung über verschiedene Ebenen der Verwaltung lässt der Staat nicht zu. "Auf jeder Ebene kochen die Aktivisten ihr eigenes Süppchen", sagt Bondes, deren Doktorarbeit sich mit dem Einfluss sozialer Medien auf den Aktivismus in China befasst. Überall im Land durften sich die Weltverbesserer tummeln, aber zusammenkommen konnten sie nicht. Die Schlagkraft des zivilen Engagements konnte auf diese Art und Weise entschärft werden – bis die sozialen Netzwerke kamen. "Das gesamte Umfeld des Aktivismus hat sich von heute auf morgen verändert", sagt Doktorandin Bondes. "Die Aktivisten generieren über Weibo neue Mitglieder oder Geld und werben für ihre Aktionen."

Die Regierung möchte sich der umtriebigen Online-Gemeinde allerdings nicht kampflos geschlagen geben. Das Zentralkomitee der Partei verkündete kürzlich, es wolle das Web künftig stärker lenken, um ein "zivilisiertes" Internet zu schaffen. Dazu nahm die Partei Vertreter der wichtigsten chinesischen Internetfirmen ins Gebet. Neben den größten Mikroblog-Betreibern Tencent und Sina mussten auch der Suchmaschinenriese Baidu und die Verkaufsplattform Alibaba ihre Unterstützung für das "zivilisierte Internet" zusagen. Um keinen Ärger mit den Behörden zu riskieren, fügten sich die Bosse.

Als sehr wahrscheinlich gilt die Einführung einer Identifizierungspflicht. Wer sich im Netz äußert, darf das dann nicht mehr anonym tun, sondern nur noch unter echtem Namen. In der Blogosphäre wird seit Monaten zudem über weitere Kontrollmaßnahmen spekuliert. Manche rechnen mit einer zahlenmäßigen Begrenzung der Weibo-Konten, andere fürchten, Kommentare würden bald nur noch mit Zeitverzögerung veröffentlicht. Die Dynamik, mit der sich eine unabhängige öffentliche Meinung entwickelt, würde dadurch viel an Schwung verlieren – und die Regierung hätte mehr Zeit, die Deutungshoheit über aktuelle Vorgänge zu erobern.

Außerdem mobilisiert die Führung ihre eigenen Medien, um die Revolution einzudämmen. Unter dem Vorwand, die Bevölkerung zu schützen, startete sie eine Diffamierungskampagne. "Mikroblogs – Die neue Gerüchteküche" titelte die staatliche Zeitung "China Daily". Die Botschaft: Jeder Chinese kann Opfer von Gerüchten im Internet werden. Deshalb empfehlen die staatlichen Medien Vorsicht bei der Weitergabe von Online-Informationen. Jüngst erließ die General Administration of Press and Publication (GAPP), eine Aufsichts- und Lizenzierungsbehörde für alle Publikationen im Land, neue Regeln für klassische Medien wie Zeitungen oder Bücher: Demnach dürfen sie Informationen aus dem Internet nur noch veröffentlichen, wenn sie durch eine zweite Quelle bestätigt werden. Damit soll das Internet als Informationsquelle für klassische Medien ausgetrocknet werden.

Parallel dazu motiviert der Staat seine Beamten und Institutionen dazu, die sozialen Medien für eigene Zwecke zu nutzen. Staatliche Organe eröffnen eigene Mikroblogs, Videoplattformen und Suchmaschinen, um zumindest einen Teil der Internetgemeinde kontrollieren und steuern zu können. Und die Parteischule in Peking bietet städtischen Beamten Schulungen im Umgang mit den neuen Medien an. Sie sollen unter anderem lernen, das Internet als Seismograf für die emotionalen Schwingungen an der Basis des Volkes zu verstehen und frühzeitig steuernd einzugreifen. Solcher Nachhilfeunterricht ist auch bitter nötig. Das ganze Land lachte sich schief über einen verheirateten Beamten, der über den Kurznachrichtendienst "Sina.Weibo" ein Schäferstündchen mit seiner Geliebten verabredete. "Das kann doch keiner lesen?", postete er völlig ahnungslos in die Runde, bevor er die Dame um die Rechnungen von ihrer letzten Shoppingtour bat.

Soziale Medien stecken aber nicht nur für Parteifunktionäre voller Überraschungen. Auch internationale Unternehmen spüren die neue Macht aus dem Netz. Ein chinesischer Blogger nutzte seine digitale Plattform kürzlich dazu, den Weltkonzern Siemens anzuprangern, weil er unzufrieden war mit der Qualität der Kühlschränke. Seine Schimpftiraden multiplizierte die Netzgemeinde tausendfach. Die Anti-Siemens-Kampagne gipfelte schließlich in einer öffentlichen Demolierung von Kühlschränken vor der chinesischen Siemens-Zentrale in Peking.

"In China kann sich der schlechte Effekt für die Unternehmen potenzieren, weil mehrere Hundert Millionen Menschen Mikroblogs benutzen", sagt Harrison Xing, Chef von "Tencent.Weibo", mit 300 Millionen Registrierungen der populärste Anbieter von Mikroblogs.

Andererseits bieten sich neue Möglichkeiten für die Firmen. Allein bei Tencent sind es 15000 ausländische und nationale Unternehmen, die über Mikroblogs die Aufmerksamkeit der Nutzer gewinnen wollen. Volkswagen hat mit seinem People's Car Project neues Terrain betreten. Das Unternehmen forderte mithilfe der sozialen Medien chinesische Konsumenten dazu auf, sich an der Entwicklung des Autos von morgen mit ihrem individuellen Input zu beteiligen. "So versuchen wir herauszufinden, wie weit Personalisierung von Produkten in China gehen soll", sagt Christian Claussen, Chef der China-Markenpflege von VW. Das Projekt ist ein Erfolg. Bislang sind über 90000 Ideen bei Volkswagen China eingegangen.

Seit einer Weile zwitschern auch die Diplomaten der Bundesrepublik auf Mandarin. "Weiplomacy" nennt sich der neue Trend. "Es muss ständig aktualisiert werden. Die Leute wollen etwas geboten bekommen", sagt Frank Hartmann, Pressechef der deutschen Botschaft. Gut 40 Prozent der mehreren Tausend Botschaftsleser sind unter 30 Jahre alt. Eine ausgewogene Mischung an Themen zu finden und attraktiv zu bleiben, entpuppt sich als hartes Stück Arbeit für die Mitarbeiter. Das Spektrum ihrer Beiträge bewegt sich zwischen nüchterner politischer Verlautbarung, nützlichen Informationen, Werbung für das Reiseland Deutschland und reiner Unterhaltung. Über konkrete Themen wollen die Deutschen mit den chinesischen Bürgern verstärkt in den Dialog treten. Manche Nutzer wollen mehr erfahren über Kultur oder Geschichte der Bundesrepublik, andere beschweren sich über unfreundliche Gesichter in der Visastelle.

Wieder andere rufen über das Angebot der Deutschen zur Revolution auf. "Was die in Libyen können, das können wir auch", schrieb einer. Für die Botschaft ist das eine heikle Angelegenheit, weil sie sich von jeglichen Aufrufen zur politischen Umwälzung im Land fernhalten muss. Sie entschied aber, die Bemerkung nicht zu zensieren. Im Zweifelsfall werden das die Chinesen ohnehin selbst übernehmen. Diese Erfahrungen haben britische und amerikanische Diplomaten bereits gemacht. Sie wollten über ihre Mikroblogs unter anderem eine Diskussion über Internetfreiheit entfachen. Ihre Kommentare wurden von den Plattformbetreibern gelöscht, vermutlich im Auftrag der chinesischen Zensoren.

Die Internetnutzer in China schlagen solchen Kontrollen seit Jahren immer wieder ein Schnippchen. Sie nutzen beispielsweise sogenannte VPN-Tunnel ("Virtual Private Network"), um die IP-Adresse ihres Computers zu verschleiern. Oder sie bedienen sich verschlüsselter Botschaften, um die Zensoren zu täuschen. Aktivisten, die zum Beispiel den unter Hausarrest stehenden, blinden Rechtsanwalt Chen Guangcheng besuchen wollen, sprechen von "Abenteuer-Tourismus nach Shandong", der Heimatprovinz des Anwalts. Oder sie geben Parolen für seine Befreiung aus wie "Lasst es Licht werden" (die Silbe "Guang" in seinem Vornamen bedeutet zugleich "Licht").

Es ist anzunehmen, dass die Internetzensoren der Volksrepublik auch solche Codierungen immer öfter entlarven werden. Aber dann wird die Internetgemeinde ein neues Schlupfloch finden. Der Wettlauf zwischen Bürgern und Regierung um die Hoheit im Web verspricht spannend zu bleiben. (bsc [1])


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