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Einbetonieren oder ausräumen?

Tom Schimmeck

Im Bergwerk Asse II liegen Tausende kaputte Fässer mit radioaktivem Müll. Der Schacht droht einzustürzen und abzusaufen. Wolfram König, Grüner und Atomkraftgegner, soll dafür sorgen, dass der Müll ausgeräumt wird. Sein ehemaliger Mitstreiter Michael Sailer, Chef des Öko-Instituts Darmstadt und profilierter Atom-Kritiker, will das verhindern.

Im Bergwerk Asse II liegen Tausende kaputte Fässer mit radioaktivem Müll. Der Schacht droht einzustürzen und abzusaufen. Wolfram König, Grüner und Atomkraftgegner, soll dafür sorgen, dass der Müll ausgeräumt wird. Sein ehemaliger Mitstreiter Michael Sailer, Chef des Öko-Instituts Darmstadt und profilierter Atom-Kritiker, will das verhindern.

Ein schepperndes Läuten, schon saust der Förderkorb in die Tiefe. Zehn Meter pro Sekunde. Nur freier Fall ist schneller. Unten, auf 490 Metern, stoppt das Gefährt. "Glück auf!", grüßen behelmte Menschen ganz in Weiß. Das ist der Dresscode hier: weiße Hose, weiße Jacke. Dazu: Sauerstoffselbstretter und Lampe – oder, um im Jargon zu bleiben: Geleucht. Und natürlich das Strahlenmessgerät.

Eine Unterwelt im Dämmerlicht. Unter uns, über uns, neben uns hartes Salz. Nur ein paar Schritte bis zum Einfüllraum der MAW-Kammer, dem Lager für die mittelradioaktiven Abfälle. Von hier aus wurden in den siebziger Jahren Fässer mit einem Magnetkran in eine Kaverne abgesenkt. 1293 Stück. Auf einen schönen großen Haufen in 511 Meter Tiefe. Seit 1977 ist die Elektrik gekappt, ein Bleideckel ruht auf der strahlenden Höhle. Noch heute, sagen die Strahlenschützer, sei die Radioaktivität dort etwa 400 Millisievert pro Stunde stark. Das ergibt eine tödliche Dosis bereits nach einer Arbeitsschicht. Die Kammer ist nur eine von vielen. Wie viel und welcher Atommüll in der Asse eigentlich liegt, ist nur ungefähr bekannt. Ein Großteil der insgesamt rund 126000 Fässer, die von 1967 bis 1978 hier abgekippt wurden, sind wahrscheinlich zerstört. Die Grube ist instabil, es gibt einen "Wasserzutritt" von täglich 12000 Litern. Nun droht die Grube, die über Jahre vermutlich illegal mit Atommüll beliefert wurde, abzusaufen. Die Anwohner fürchten sich vor einem atomaren Desaster – und misstrauen mittlerweile jedem.

Ausgerechnet ein Atomkraftgegner soll diesen Schlamassel aufräumen: Wolfram König, Präsident des Bundesamtes für Strahlenschutz, plant eine bis heute beispiellose Rückholaktion: Der komplette radioaktive Müll soll raus aus dem maroden Bergwerk. So wünschen es heute – offiziell – die Bundesregierung, die niedersächsische Landesregierung und alle Parlamentsparteien. Ein glaubwürdiges Vorhaben und ein mutiger Plan, käme da nicht massiver Widerspruch ausgerechnet von einem Mann, den König wohl eigentlich auf seiner Seite wähnte: von Michael Sailer, Chef des Darmstädter Öko-Instituts, einem der profiliertesten Atomkraft-Kritiker der Republik und seit 1999 Mitglied der Reaktorsicherheitskommission des Bundes. Was trennt die beiden, die jahrzehntelang gegen Atomkraft stritten und auf dem Marsch durch die Institutionen schließlich auf einflussreichen Posten landeten? Wer hat recht im Streit um das strahlende Erbe des deutschen Atomfilzes? Hat einer von beiden die Seiten gewechselt?

Wolfram König ist seit dem 1. Januar 2009 zuständig für die multiple Katastrophe Asse. Der Grüne aus Lübeck, gelernter Ingenieur für Stadtentwicklung, wird offenbar immer wieder gern gerufen, wenn es richtig schwierig wird: Denn der oberste Strahlenschützer der Republik ist auch zuständig für den Dauerstreitfall Gorleben, für die absaufende DDR-Atommüllgrube Morsleben und andere Problemzonen. 1999 hatte ihn sein Parteifreund, Umweltminister Jürgen Trittin, zum Chef des Bundesamtes für Strahlenschutz berufen. König blieb auch unter den Nachfolgern Sigmar Gabriel (SPD) und Norbert Röttgen (CDU). Die Asse ist sein bislang schwerster Fall.

König tritt stets freundlich auf. Er setzt auf Transparenz, auf Dialog, will "die Menschen mitnehmen". Sein Bundesamt residiert mitten im Krisengebiet: in Salzgitter, nur 26 Kilometer von der Asse, nur 66 Kilometer von Morsleben entfernt. Er hält Kontakt zu den Bürgerinitiativen, steht wieder und wieder Rede und Antwort. König weiß: Er manövriert auf zerstörter Vertrauensgrundlage. "Die Geschichte der Endlagerung in der Bundesrepublik seit den fünfziger, sechziger Jahren", sagt der Strahlenschützer, "ist ein Bilderbuch, in dem man nachschlagen kann, wie es nicht funktioniert."

20 Jahre Staatsdienst haben gleichwohl Spuren hinterlassen. König versucht zu trennen zwischen seiner grünen Seele und den Anforderungen seines Jobs als Behördenpräsident. Allzu oft sucht er Zuflucht in Worthülsen, redet von "fachlichen Herausforderungen" und "meldepflichtigen Ereignissen". Sein Gegenspieler spricht freier. Michael Sailer ist kein Behördenpräsident, hat keinen CDU-Minister über sich. Kann klar sagen, dass die Asse keine Panne, kein Versehen war, sondern Produkt einer skrupellosen Politik. Sie war die "falsche Wahl". Ein Forschungsbetrieb? Sailer hebt eine Braue. Dort sei über 40 Jahre lang nur "Quatsch" und "Mist" getrieben worden, man habe an "Blödsinn rumgeforscht". Während die Atombetreiber die Kammern nutzten, um ihren "ganzen Müll reinzuschmeißen".

Bereits in den siebziger Jahren demonstrierte Sailer gegen AKWs – unter anderem gegen die Inbetriebnahme von Block A in Biblis. Doch das reichte dem Chemiker nicht – 1980 stieß er zum Öko-Institut, einer Gruppe kritischer Wissenschaftler, die der aufkommenden Ökologie-Bewegung fachlich unter die Arme greifen wollte. Lange verhöhnte die verschworene Kernkraft-Branche den "Gegengutachter" mit den langen Haaren, der schon optisch nie zu ihnen passen wollte. Bis zum Ende der neunziger Jahre, sagt Sailer, gab es dieses "Atomestablishment" auch in der Wissenschaft. Dessen Außenbotschaft lautete: "Alles ist gut." Intern wurden Risiken schon mal angesprochen. Man wusste, dass auch hier Katastrophen passieren könnten. "Aber wo", fragt er, "ist das öffentlich gesagt worden?" Sailer hatte den längeren Atem. Im Jahr 1999, während der rot-grünen Koalition, wurde er Mitglied der Reaktorsicherheitskommission, war zwischenzeitlich sogar ihr Chef. Er ist Vorsitzender der Entsorgungskommission, Mitglied des Ausschusses "Endlagerung" und des Scientific and Technical Committee von Euratom. An Sailer kommt in Sachen Atom heute keiner vorbei.

"Ich bin ja eher jemand, der cool ist", erklärt er mit einem kleinen Lächeln. Ruhig sitzt Sailer in seinem Büro des Darmstädter Öko-Instituts. Man ahnt, welche Aktenberge dieser Mann bezwungen, wie viele Sitzungsschlachten er geschlagen hat. Wie oft er sich sein beinahe hüftlanges, glattes, nun ergrautes Haar gerauft hat ob der Verdrehungen, Verharmlosungen und Vertuschungen, die beim Thema Atomkraft ab Werk mitgeliefert wurden. Jahrzehnte auf dem Kampfplatz Atomkraft? Er habe "noch viele andere Sachen gemacht", lacht Sailer, "sonst hätte ich das gar nicht überlebt". Geschichte ist sein Hobby. Und Modellbau. Hinter ihm steht eine bunte Basilius-Kathedrale en miniature. Am Fenster das Schloss Hohenzollern.

Es sei eine Illusion zu glauben, meint Sailer, man käme aus dem Problem Asse "in einer Weise heraus, die dem planmäßigen Umgang mit Radioaktivität entspricht". Sailer ist gegen eine Rückholung des Mülls. Die technische Machbarkeit dieser Operation ist in seinen Augen "sehr stark infrage gestellt". Will sagen: Das ist eine Sauerei, aus der kein sauberer Weg führt.

Wie aus dem Modellbausatz wirkt auch die liebliche Landschaft um die Asse. Felder und Wälder. Mittendrin schwingt sich sanft der Asse-Heeseberg-Höhenzug. Geologisch besteht er aus Salzgestein, das vor etwa 230 Millionen Jahren entstand, umgeben von Buntsandsteinschichten und Muschelkalk. Das Salz hat sich wie ein Sattel aufgefaltet, wie ein Zahn nach oben geschoben. Das Deckgebirge darüber ist, so sagt der Fachmann, "verstürzt". In den animierten Grafiken, die das Bundesamt für Strahlenschutz gebastelt hat, sieht das 14-stöckige Bergwerk aus, als sei ein Sack Bauklötzchen über einem Mikado-Spiel ausgekippt worden. Die Klötze sind die Kammern, die Stäbe die Gänge und Schächte.

Schon anno 1906 wurde hier am Höhenzug südöstlich von Wolfenbüttel der erste Schacht abgeteuft, um Kali- und Steinsalz zu fördern, bis 1964. Zurück blieben Schächte, Gänge und 131 Kammern, meist 40 mal 60 Meter groß und 15 Meter hoch. Imposante Säle. Der Salzstock ist ausgeschabt bis an den Rand. An manchen Stellen sind es gerade noch fünf Meter bis zum Nebengebirge. Fachleute sprechen von einem "hohen Durchbauungsgrad". An der Südwestflanke finden sich viele "Störungen", sprich: Risse.

Der Staat kaufte das alte Bergwerk, ein Schnäppchen. Im Sommer 1964 wurde die GSF, die Gesellschaft für Strahlenforschung, gegründet, finanziert zu 90 Prozent vom Bund, zu 10 Prozent vom Freistaat Bayern. Nach einigen Umbenennungen heißt die GSF heute Helmholtz Zentrum München. Sie fungierte bis 2008 als Betreiber der Asse. "Es war ein grundsätzlicher Fehler", sagt Michael Sailer, ein Bergwerk als Atomlager zu wählen – voller Hohlräume, bis ans Ende der Schichten ausgebeutet, auch deshalb instabil und einsturzgefährdet. Man wusste seit 100 Jahren um die Gefahr eines Wassereinbruchs. Die Nachbarschächte Asse I und Asse III sind abgesoffen. Auch in die Asse II drang schon in den dreißiger und vierziger Jahren Wasser.

Pikantes Detail: Die Grube war nie als atomares Endlager zugelassen. Man operierte nach dem laxeren Bergrecht. Bald hieß es, das Müllproblem sei gelöst. Die marode Grube tauchte sogar in Genehmigungsbescheiden für kerntechnische Anlagen auf – als sicheres Endlager. Doch als Mitte der siebziger Jahre das Atomgesetz heraufzog, war klar: Die Asse ist niemals genehmigungsfähig. Kurz vor der Schließung 1978 kam offenbar Hektik auf. Die Fässer wurden nicht mehr gestapelt, sondern einfach abgekippt. Die Fachleute nannten es "Versturztechnik". "Der größte Teil der Abfälle", sagt Sailer, "ist erst in den letzten Jahren, kurz vor Toresschluss, absichtlich reingeknallt worden." Es war, sagt auch König, "ein Fieber".

Mit der Rückholung aber, glaubt Sailer, laufe man Gefahr, den vielen falschen Versprechungen eine weitere, gefährliche Verheißung hinzuzufügen. "Es wird den Leuten dort gepredigt", sagt Sailer, "dass man die Asse ohne Problem leer räumen kann." Das ist der Dissens.

Auf dem Weg zum Schacht kommen wir am Notfalllager vorbei, vollgepackt mit Pumpen und Schläuchen, die schnell zur Hand sein müssen, wenn die Asse abzusaufen beginnt. Bis zu 500000 Liter Wasserzufluss am Tag seien zu bewältigen, hofft der Sprecher des Strahlenschutzamtes. "Wenn es mehr wird, müssen wir die Asse aufgeben." Das ist der "worst case": Wasser bricht durch die Klüfte in die 13 strahlenden Grabkammern ein, wird massiv verseucht, wieder nach oben gepresst, kontaminiert das Grundwasser, die Umwelt.

Der Förderkorb saust tiefer, auf 750 Meter. Hier liegt das Gros des Mülls in zwölf Kammern – zwei im mittleren Teil, zehn an der Südflanke des Bergwerks. Die Luft wird noch wärmer, stickiger. Überall ist die Kraft des Gebirges sichtbar. Sie krümmt Stahlträger zu Bögen, lässt Mauern zerplatzen. Der Berg schiebt von Süden nach, presst die Hohlräume zusammen. Risse entstehen. Das Salz blättert auf. Die Tragkraft der Pfeiler und der Schweben – der sechs Meter starken Decken zwischen den Kammern – wird immer schwächer.

29 Schweben sind schon zerborsten. Die erste fiel in den achtziger Jahren. Wir stehen vor einer Wand aus weißen Ziegeln, 75 Zentimeter dick, erst vor zwei Jahren aufgemauert. Dahinter wurde Beton verpumpt. "SV-750-6" steht in Sprühschrift darauf. Heißt: stützender Versatz, auf 750 Meter Tiefe, Nummer 6. Die Auflast des Berges hat die linke Seite schon zerquetscht. Zerdrückte Ziegelsteine liegen am Boden.

Weiter zur Einlagerungskammer 8. Die Mauer hier ist fast völlig zerstört. Davor ein Deckel im Boden, eine Kontrollbohrung. Über der Kammer tritt Salzlösung ins Bergwerk. 15 bis 18 Liter pro Tag strömen in die Höhle, durchfeuchten den Müll, werden durch das Verschlussbauwerk hindurchgedrückt. Und hier aufgefangen. Verseucht mit Cäsium.

Der alte Betreiber, die Gesellschaft für Strahlenforschung, hatte versucht, das brüchige Bergwerk zu stabilisieren. In die leeren Abbaukammern an der Südwestflanke wurden über zwei Millionen Tonnen Salzgrus geblasen, feinkörnige Salzgesteinsreste. Das war billig. Der Stoff war da. "Nicht besonders fachkundig", urteilt Sailer, "wenn man es sehr höflich ausdrückt." Das Material ist wie Sand, keine Barriere gegen Wasser. Und es setzt sich ab. So entstehen Hohlräume an der Decke der Kammern. Weshalb das Bundesamt für Strahlenschutz jetzt aufwendig nacharbeiten muss. In den Gängen arbeiten gewaltige Spezialbetonmischer, um 80 Kammern dichtzumachen. Eine Art Hohlraumversiegelung. Früher, heißt es, habe sich der Berg um 20 Zentimeter pro Jahr bewegt. Jetzt seien es nur noch zehn.

Wolfram König wirkt konzentriert, wägt seine Worte genau. Er weiß: Im CDU-geführten Umweltministerium wie im Kanzleramt gilt ein grüner Behördenchef als potenzielles Sicherheitsrisiko. Denn dass die Republik nun tatsächlich langsam aussteigt aus der Atomenergie, bedeutet nicht, dass alle Schlachten geschlagen und die alten Seilschaften verschwunden sind. Man sieht es ihm an: Atompolitik ist noch immer ein Minenfeld. Es geht um viel Geld. Und um Verantwortung, moralische Altschulden. Die Asse – eine Gruft voller Lügen. Der Öffentlichkeit wurde vorgegaukelt, dass hier nur Versuche gemacht und ein paar schwach strahlende radioaktive Abfälle aus Krankenhäusern und der Forschung verstaut werden. Tatsächlich sei der Müll, resümiert König, "hauptsächlich bei der Entwicklung und beim Betrieb von Kernkraftwerken angefallen". Das zeigen auch die Inventarlisten: Abfall aus den AKWs. Und von Firmen wie AEG, Hoechst, Transnuklear und Nukem.

Das Endlagerproblem, sagt König, sei "sowohl fachlich-wissenschaftlich als auch politisch und ökonomisch systematisch unterschätzt worden". Die jetzt handelnde Generation müsse sich um die Folgen kümmern. Nicht länger auf provisorische Zwischenlager setzen. Oder gar auf Billiglösungen anderswo in der Welt. Es gehe ihm nicht darum, immer neue "Wahrheiten zu verkünden", sondern Lösungen zu finden, "zusammen mit der Bevölkerung".

Was das für die Asse heißt? König wird jetzt ganz vorsichtig. Sein Auftrag sei nicht die Rückholung des Mülls, sondern "die sichere Schließung nach den Maßstäben des Atomgesetzes". Durch Abwägen der Optionen versuche er herauszufinden, was noch möglich sei: "Nach Auswertung aller jetzigen Ergebnisse bleibt eben nur der Weg der Rückholung."

Was liegt da unten in den nuklearen Überraschungseiern? Laborabfälle, Putzlappen, Bauschutt, Schrott, Schlamm, sogar Tierkadaver. "Es bestehen Unsicherheiten", heißt es amtlicherseits, "ob das Radionuklid- und Stoffinventar der eingelagerten Abfälle seinerzeit korrekt angegeben wurde." Es gibt starke Indizien, dass geschummelt wurde. Einige für die Asse vorgesehene Fässer blieben in deutschen Zwischenlagern stehen. Etwa in Geesthacht (Schleswig-Holstein). Anno 2000 wurden dort Gebinde umgepackt, einige waren undicht und verrostet, die Abfalldeklaration "unvollständig und fehlerhaft". "Wir müssen schlicht und einfach eine falsche Deklaration von einem Teil der Fässer zumindest annehmen", erklärt König. Die Dokumentation in der Asse, sagt Sailer, war "sehr schlecht". In den Asse-Fässern, so viel ist immerhin bekannt, befinden sich zum Beispiel knapp 29 Kilogramm Plutonium und gut 30 Kilogramm Uran-235. Unschön, findet Sailer, aber "keine endlose Katastrophe". Man müsse, sagt er, die Relationen im Blick behalten: Ein einzelner Castor-Behälter, wie er in Gorleben herumsteht, ist 200-mal radioaktiver als die kompletten 47000 Kubikmeter Müll in der Asse. Und in der Gorlebener Wartehalle parken davon derzeit 113 Stück.

In welchem Zustand sind die "Gebinde"? In den zwölf Einlagerungskammern liegen hausmüllähnliche Gewerbeabfälle, "mit Radioaktivität imprägniert", sagt Sailer, in zerfallenden, korrodierenden Fässern, in Salz gepökelt, zum Teil feucht. "Matsche" nennt er das. Es besteht die Gefahr von chemischen Reaktionen, Zersetzungsprozessen, von Gasbildung. Sailer sieht drei "Problemabschnitte":

1. Ob man den Abfall überhaupt "anpacken" kann. Das werde nur mit ferngesteuerten Maschinen funktionieren, in hermetisch geschlossenen Räumen. Schon dafür gebe es "keine erprobte Technologie".

2. Es sei unklar, wie man das strahlende Material halbwegs sauber nach oben bekommt, ohne Teile des Bergwerks zu kontaminieren.

3. Auch wo man den Müll neu "konditioniert", also verpackt, ist offen. Das müsse in unmittelbarer Nähe geschehen. Weil es keine Erlaubnis geben werde, das Zeug "über öffentliches Gelände zu transportieren". Diese Anlage, warnt er, werde "die größte Abfallbehandlungsanlage" Deutschlands – weil man "ungefähr 400000 Kubikmeter radioaktive Matsche behandeln muss".

Und schließlich gebe es kein Endlager für diese Mengen. Der Schacht Konrad ist nur für 300000 Kubikmeter ausgelegt, stelle zudem scharfe Anforderungen an die Zusammensetzung der Abfälle. Was bedeute, dass an der Asse ein Zwischenlager entstehen müsste, um ein Vielfaches größer als das bislang größte im ehemaligen Kernforschungszentrum Karlsruhe. Obendrein dauere das ganze Unterfangen 25 Jahre – "wenn es extrem schnell geht". Oder auch 50 Jahre.

So wie Sailer all die Probleme fast schon genüsslich durchspielt, wirkt die ganze Operation wie ein nicht zu gewinnender Hürdenlauf. Man muss es versuchen, kontert Wolfram König. Es wäre ein "Witz der Geschichte", wenn diese technischen Herausforderungen mit heutigen finanziellen und technischen Mitteln nicht zu meistern seien: "Da glaube ich: Das ist möglich."

Andererseits, weiß auch der Strahlenschützer, gibt es keine Sicherheit für die Asse: "Nach dem jetzigen Kenntnisstand können wir maximal zehn Jahre vorausblicken, was die Standsicherheit angeht, was die Handhabungssicherheit angeht. Wir wissen aber nicht, wie es hinter der Wand aussieht. Wir wissen nicht, ob die Zuflüsse so stabil bleiben werden. Und am Ende können wir nicht ausschließen, dass es auch innerhalb kürzester Fristen zu einem nicht beherrschbaren Wasserzutritt kommt, verbunden mit einem Absaufen der Grube." Träumt Wolfram König manchmal von Zwickmühlen? Da lacht der Präsident.

"Vielleicht sitze ich hier, weil ich gelernt habe, mit Zwickmühlen umzugehen", sinniert er. "Ich glaube, wichtig ist, dass man sich nichts vormacht und auch anderen nichts vormacht, und dass man glaubwürdig ist in dem Geschäft." Vor Kammer 7 ist eine gewaltige Bohranlage aufgebaut. Sie ruht auf einem neu gegossenen Fundament, mit Spezialplatten beschichtet, mit Zeltplanen umhüllt. Es gibt Schleusen, Filteranlagen, Messgeräte, Notduschen, auch einen speziellen "Preventer" vor dem Bohrgerät, der verhindern soll, dass Stäube und Gase austreten. Vorn die Kaue für die Bohrmannschaft. Hier kann sie ihre Kleidung wechseln – normales Grubenzeug gegen Strahlenschutz-Equipment.

Der Bohrer soll sich durch den 20 Meter dicken Pfropfen aus Beton, Asphalt und Bitumen arbeiten, mit dem die Kammer verschlossen ist. Man will Sensoren und eine Kamera einführen, Proben nehmen, die Strahlung messen, um Aufschluss zu erhalten über den Zustand des gefährlichen Mülls. Laut Unterlagen liegen etwa 1500 "verstürzte" Fässer in Kammer sieben, in Salz eingelegt. Darüber stapeln sich, bis unter die Decke, betonabgeschirmte Fässer, etwa 3500 Stück. Eigentlich sollte das Bohren schon 2010 beginnen. Doch die Bürokratie aus Hannover – das niedersächsische Umweltministerium ist für die atomrechtliche Aufsicht zuständig – bremst das Bundesamt für Strahlenschutz. 1400 Einzelschritte und 32 Auflagen müssen abgearbeitet werden, bevor die Arbeiter hier mit der Bohrung beginnen können.

Neben dem Bohrgerät hängt eine Ampel. Sie steht (Mai 2012) noch immer auf Rot. Jahrzehnte hätten die Behörden "Laisser-faire geübt", sagt König, um Beherrschung bemüht. Jetzt komme "die Gegenbewegung: Besonders darauf zu achten, dass es doppelte und dreifache Absicherungen gibt". Das Atomrecht stelle grundsätzlich die richtigen Anforderungen, findet der Strahlenschützer. "Aber es ist für so einen Fall nicht geschaffen." Er warnt vor "Bewegungsunfähigkeit". Und Sailer? Rät er mit seinen Mahnungen nicht auch letztlich nur zu Untätigkeit? "Ich habe mir Technik immer kritisch angeguckt", sagt der Mann vom Öko-Institut. Sein Job sei es schließlich, die Öffentlichkeit aufzuklären. Er sei "fachlich überzeugt" von dem, was er sagt. Da könne er "nicht einknicken", meint Sailer. Wenn "ein grüner Politiker, der fachlich nicht gerade der ausgewiesene Experte ist, als Chef eines Amtes Sachen sagt, die wissenschaftlich nicht haltbar sind, dann muss ich das genauso kritisieren, als wenn ein Unionspolitiker oder ein SPD-Politiker das sagen würde."

Er werde deswegen halt attackiert, meint Sailer lakonisch. "Das ist mir die letzten 40 Jahre schon oft passiert." König kämpft unterdessen weiter gegen die Vertrauens-Kernschmelze, wühlt sich durch einen Riesenberg zerschlagenen Porzellans. Wer nicht alles versuche, die Asse so sicher wie möglich zu machen, warnt er, der nähre nur den alten Verdacht: "Dass letztendlich das eine gesagt, aber das andere eigentlich verfolgt wird." Dass es den Verantwortlichen wieder nur darum gehe, "schon festgelegte Wege zu legitimieren".

Sailer hält dagegen: Bei einer Rückholung schaffe man "30 bis 50 Jahre lang ein offenes Bergwerk, in das jederzeit Wasser eindringen kann und wo die radioaktiven Abfälle offen liegen". Das seien "optimale Freisetzungsbedingungen, wenn man es mal sehr sarkastisch formuliert". Man laufe so Gefahr, "dass die Grube völlig ungeschützt absäuft" und habe "Jahrzehnte lang ein deutlich erhöhtes Risiko".

Seine Alternative: mit der Matsche leben. Die Wege versperren. Man müsse jetzt "möglichst viel möglichst undurchlässiges Material an den richtigen Stellen einbauen". Da reduziere sich "das Risiko mit jedem Schritt". Er räumt ein, dass dies keine saubere Lösung ist. "Wenn man Glück hat", sagt Sailer, " führen diese Barrieren dazu, dass es nie mehr zu einer ernsthaften Freisetzung kommt." Glück – in Sachen Atommüll eine schwierige Kategorie.

Auch König hat Notfallpläne für den Fall des Absaufens parat. Man müsse Barrieren errichten, kritische Bereiche verfüllen, "größtmögliche Sicherheitsreserven aufbauen", sagt er. "Aber das sind keine Maßnahmen, die den Anforderungen an die Langzeitsicherheit nach dem Atomrecht entsprechen." Gleichwohl mag er nicht als bedingungsloser "Rückholer" antreten. "Ich bin sehr zurückhaltend, was die Frage angeht, ob es klug ist zu sagen: Wir werden zurückholen. Wichtig ist, dass man deutlich macht, dass es einem ernst ist." So oder so. Das Problem Asse wird den Steuerzahler noch zwei Milliarden Euro kosten. Mindestens. Bei einer aufwendigen Rückholung kann es ein Vielfaches werden.

Der Förderkorb saust nach oben. Die frische Luft tut gut. Im Schachthaus kuschelt die Grubenkatze. "Die lebt seit 1994 hier", sagt ein Bergmann. Sie nennen sie Plutonium. (bsc [1])


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