Elektronische Gesundheitskarte: Kosten und Nutzen ungleich verteilt

Auf einer Konferenz wurden die Kosten und Nutzen der elektronischen Gesundheitskarte gegenübergestellt.

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Von
  • Detlef Borchers

Mit der elektronischen Gesundheitskarte (eGK) und den "Pflichtanwendungen" werden kaum Kosten gespart. Erst mit den so genannten freiwilligen Anwendungen wie Arztbrief oder elektronische Patientenakte kann die Kosten-Nutzen-Analyse Faktoren einbeziehen, mit denen sich das größte IT-Projekt Deutschlands rechnet. Zu diesem Fazit kam die Konferenz "Die elektronische Gesundheitskarte – was sie kostet und wem sie nutzt", die vom nordrhein-westfälischen Zentrum für Telematik im Gesundheitswesen (ZTG) und dem Berliner Institut für Gesundheits- und Sozialforschung (IGES) durchgeführt wurde.

Zur Konferenz kurz vor dem Deutschen Ärztetag waren Vertreter der Ärzteschaft, der Krankenhäuser, Krankenkassen und Apotheker eingeladen, ihre jeweilige Kosten-Nutzen-Analyse (KNA) vorzutragen. Nur die Patientensicht fehlte, da Analysen aus dieser Perspektive offenbar nicht möglich sind. Es fehlten auch Vertreter der Unternehmensberatung Booz Allen Hamilton. Ihre im Auftrag der Gematik erstellte Kosten-Nutzen-Analyse war im Gesundheitsministerium auf heftige Kritik gestoßen und sollte eigentlich längst von einer neuen Analyse abgelöst worden sein. Nun ist die umfangreiche Analyse, die vom Chaos Computer Club befreit wurde, gewissermaßen das Referenzmodell. Mit einer Ausnahme beschäftigte sich jeder Vortrag der Konferenz mit der Analyse und vor allem mit dem zugehörigen Rechenwerk.

Die Ausnahme war der einleitende Vortrag des ZTG-Geschäftsführers Jürgen Sembritzki, der über den Stand der Dinge in Nordrhein-Westfalen referierte. Dort startet Anfang Juni die Modellregion Bochum-Essen mit dem so genannten 10.000er-Test. Ein weiteres NRW-Projekt mit 100 teilnehmenden Ärzten wird den XML-strukturierten elektronischen Arztbrief testen, der via Internet zwischen Praxen und Krankenhäusern ausgetauscht werden soll. Schließlich wird in NRW unter Beteiligung der Industrie bereits an der elektronischen Patientenakte gearbeitet: "Wir müssen schnell die Benefits vorantreiben, sonst ist die Motivation im Keller", erklärte Sembritzki.

Schon der IGES-Direktor Bertram Häussler ging mit der Studie von Booz Allen Hamilton hart zu Gericht. Im Vergleich mit aktuellen Studien zur Arzneimittelsicherheit aus Großbritannien und Deutschland machte er deutlich, dass die Vermeidbarkeit von Arzneimittel-Nebenwirkungen durch die Gesundheitskarte – die ursprünglich als Arzneimittelpass konzipiert wurde – massiv überschätzt wird. Unter Verweis auf eine großangelegte Studie zum Einsatz von Röntgenaufnahmen, die von seinem Institut durchgeführt wurde, entkräftete Häussler das Argument, die elektronische Gesundheitskarte könnte teure Doppeluntersuchungen vermeiden helfen. Je teurer eine Aufnahme, desto kleiner die Wahrscheinlichkeit, dass ein Arzt diese noch einmal anfertigt.

Statt der vom Gesundheitsministerium angeführten 3,5 Milliarden Euro Einsparungen könnten Häussler zufolge mit der eGK minimal 32,4 Millionen, maximal 63,7 Millionen Euro eingespart werden. Der Gesundheitsökonom ermahnte die Beteiligten, mit dem vermuteten Einsparpotenzial der Gesundheitskarte vorsichtig umzugehen. Von der Kosten-Nutzen-Analyse der Unternehmensberater übernahm Häussler die Einschätzung, dass die Ärzte zwar ein bisschen Nutzen aus der Karte ziehen könnten, dafür aber auch die höchste Ausgabelast bei der Einführung der Karte trügen und somit insgesamt die schlechteste Nutzenbilanz überhaupt hätten.

Der Volkswirt Kay Mitusch, Leiter des Instituts für Wirtschafts- und Infrastrukturpolitik der TU Berlin, versuchte sich anschließend an einem Vergleich der Gesundheitskarte mit der Einführung der LKW-Maut. Er lief darauf hinaus, dass Ärzten die Telematik-Komponenten (Kartenleser, VPN-Router) zur Verfügung gestellt werden sollten, ähnlich wie die On-Board-Units bei den LKW. Unter Verweis auf das nicht vorhersehbare Geschäft mit den Klingeltönen bei den Mobiltelefonen machte Mitusch den Zuhörern Hoffnung, dass sich mit der eGK völlig neue Geschäftsmodelle entwickeln können, an die heute niemand denken würde. In bezug auf die KNA der Unternehmensberater warnte der Volkswirt davor, die Einnahmen durch Lizenzgebühren bei der Hard- und Software zu hoch anzusetzen.

Als niedergelassener Arzt berichtete Hans-Peter Peters von der kassenärztlichen Vereinigung Westfalen-Lippe von ersten Erfahrungen mit der eGK. Er appellierte an die Verantwortlichen, schnellstens die "Stapelsignatur" einzuführen, weil die einzelne digitale Unterschrift unter einem eRezept absolut praxisfremd sei. Außerdem müssten die Schreib- und Lesevorgänge der Chipkarte erheblich verkürzt und auch der Speicher der Karte deutlich vergrößert werden, weil schon eine einfache Verordnung mit mehreren Rezepten die Kapazitätsgrenze der eGK überschreiten könne. "So, wie es jetzt ist, kann es nicht funktionieren", erklärte Peters. Umgehend müssten wirklich nutzbringende Anwendungen wie Arztbrief und elektronische Labordatenübertragung kommen, damit die eGK auch für Ärzte einen Nutzen hat.

Der IT-Leiter Michael Thoss von den DRK-Kliniken bezeichnete die Analyse von Booz Allen Hamilton als "absolut untaugliches Papier", weil die Unternehmensberater von völlig unrealistischen Annahmen über die Abläufe in einem Krankenhaus ausgegangen seien. Aus der Perspektive der Krankenhäuser mit ihren komplexen DV-Systemen berge die eGK allein mit ihren Pflichtanwendungen überhaupt kein Nutzenpotenzial. Erst mit der elektronischen Patientenakte könne man aus der Sicht der Krankenhäuser einen Nutzen sehen. Allerdings äußerte Thoss die Befürchtung, dass viele Quasi-Standards eine sektorübergreifende Akte verhindern können. Mit den verschiedenen Ansätzen zum Aufbau einer Patientenakte wie etwa der Vita-X-Akte der Compugroup (50 Prozent Marktanteil bei der Praxis-EDV), dem Lifesensor des SAP-Ablegers ICW oder der elektronischen Fallakte großer Klinikbetreiber seien Lösungen in der Welt, die nicht unbedingt kompatibel seien. Als positives Beispiel nannte Thoss den Arztbrief des Verbandes der Hersteller von IT-Lösungen für das Gesundheitswesen, der wirklich internationale Standards berücksichtige.

Robert Paquet vom Bundesverband der Betriebskrankenkassen kritisierte die Kommunikationspraxis des Gesundheitsministeriums, die in der Bevölkerung falsche Erartungen geweckt habe. Die Studie der Unternehmensberatung sei auch nicht hilfreich, weil sie zu kurze Zeiträume von fünf bis zehn Jahren betrachte. "Die Kosten werden sich wesentlich langsamer einspielen, als die Politik behauptet", erklärte Paquet, der die Chancen der eGK in mittlerer bis ferner Zukunft verortete. Aus der Sicht der Kassen sei die lebenslang gültige eindeutige Versicherungsnummer wie die eindeutigen Nummern der Leistungsträger (Ärzte und Apotheker) der wichtigste Schritt. Für die fernere Zukunft prognostizierte Paquet Lösungen im Gesundheitswesen, die die Vorteile von IT-Prozessketten voll ausspielen, etwa Filialpraxen mit angestellten Ärzten oder ganze Ärzteketten, die aus der Individualmedizin eine Markenmedizin machen werden.

Für die Bundesvereinigung der deutschen Apothekerverbände präsentierte ihr Telematikbeauftragter Claus-Werner Brill einen Erklärungsversuch, warum die Analyse von Booz Allen Hamilton mit gänzlich andere Zahlen aufwartete als die vier zuvor veröffentlichten Studien anderer Berater. Brill zufolge haben die Unternehmensberater die Kosten für die Primärsysteme (DV-Kosten in den Praxen) mit 1,6 Milliarden Euro veranschlagt, während frühere Studien diese Kosten schlicht nicht berücksichtigten. Auch fehlten in früheren Studien Angaben darüber, was der erheblich erweiterte Datenschutz und die Datensicherheit bei Einführung der eGK kosten wird. Brills Fazit: "Booz Allen Hamilton hat nichts falsch gemacht, es waren die politischen Vorgaben, die die Studie veränderten."

Zum Abschluss der Tagung sprach sich Christoph F.-J. Goetz vom Bundesgesundheitsministerium dafür aus, Kosten-Nutzen-Analysen nicht zu hoch zu bewerten. Sie würden nur aus einer Gesamtheit von vielen Szenarien einzelne herauspräparieren. In diesem Sinne sei die Analyse der viel gescholtenen Unternehmensberater mit ihren Excel-Tabellen vor allem ein Rechenwerkzeug, mit dem man verschiedene Szenarien durchspielen könne, nicht mehr und nicht weniger.

Wie die elektronische Gesundheitskarte anders berechnet werden kann, zeigt der Branchenverband Bitkom. Unabhängig von der Berliner Konferenz zur Kosten-Nutzen-Analyse veröffentlichte die Lobbyisten-Organisation der IT-Industrie eine Mitteilung, nach der mit der eGK 500 Millionen Euro jährlich im Gesundheitswesen gespart werden. (anw)