Émilie du Châtelet: "Hätte Licht Masse, wäre die Erde längst verwüstet"

Sie übersetzte und modernisierte Newtons Hauptwerk und postulierte als Erste plausibel, dass Licht masselos ist: Die französische Marquise Émilie du Châtelet.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht
Lesezeit: 7 Min.
Von
  • Veronika Szentpetery-Kessler

Sie übersetzte und modernisierte Newtons Hauptwerk und postulierte als Erste plausibel, dass Licht masselos ist: Die französische Marquise Émilie du Châtelet.

Am 17. Dezember 1706 wird Gabrielle Émilie Le Tonnelier de Breteuil als Tochter eines Barons in Paris geboren. Am 12. Juni 1725 heiratet sie den späteren königlichen Gouverneur Florent Claude du Châtelet. Sie bekommen drei Kinder. 1733 lernt Émilie den Dichter und Philosophen Voltaire kennen und beginnt eine mehr als zehnjährige Beziehung mit ihm, von 1736 bis 1737 verfassen sie gemeinsam ein allgemein verständliches Sachbuch über Arbeiten des Physikers Isaac Newton. Ein Jahr später bewerben sich beide erfolglos um den Preis der Pariser Akademie der Wissenschaften. 1745 beginnt Émilie, Newtons Hauptwerk "Philosophiae naturalis principia mathematica" zu übersetzen. Sie verbindet das Werk mit Leibniz' Erkenntnissen und fordert eine Erklärung dafür, warum Planeten durch die Gravitation nicht ineinanderstürzen. Am 10. September 1749 stirbt die Marquise kurz nach der Geburt ihrer Tochter an einer Infektion.

TR: Marquise du Châtelet, danke, dass Sie mich zu so später Stunde empfangen.

Émilie du Châtelet: Ich freue mich über Ihren Besuch, Madame. Es ist ja noch früh. Ich werde auch heute bestimmt wieder bis drei oder vier Uhr morgens am Schreibtisch sitzen.

TR: Woran arbeiten Sie so fleißig? Es heißt, dass nicht mal Ihre Schwangerschaft Sie bremsen kann.

Du Châtelet: Ich kann jetzt nicht aufhören, ich muss unbedingt vor der Geburt meines Kindes die Übersetzung und Überarbeitung von Monsieur Newtons großem Werk "Principia" vollenden. Denn ich weiß nicht, ob ich die Geburt überleben werde. Ich bin schließlich schon 42 Jahre alt.

TR: Aber Sie sind doch bei guter Gesundheit, und Ihre Schwangerschaft verläuft komplikationslos.

Du Châtelet: Das ist wahr. Aber ich spüre es, das Kind wird mein Ende sein. Die Gefahr ist groß, dass ich bei der Geburt verblute.

TR: Wenden wir uns doch Ihrer Arbeit zu. Wie haben Sie es geschafft, in Mathematik und Astronomie unterrichtet zu werden? Diese Fächer werden nicht gerade als wichtig für Frauen erachtet.

Du Châtelet: Zu Unrecht. Wir werden immer behandelt, als hätten wir weniger Verstand. Zum Glück erkannte mein Vater meine Begabung und engagierte Hauslehrer für mich. Meine Mutter fand das alles überhaupt nicht schicklich und standesgemäß, konnte sich aber gottlob nicht durchsetzen. Mein Mann Florent lässt mir aber alle Freiheiten.

TR: Warum ist es so wichtig, Newtons Werk ins Französische zu übersetzen?

Du Châtelet: Weil in dieser Form fast niemand in der Wissenschaft damit arbeiten kann. Monsieur Newton hat sein Werk auf sehr komplizierte Weise verfasst, erstens auf Latein und zweitens als komplexe geometrische Beweise. Ich übersetze also nicht nur die Sprache, sondern auch seine Mathematik – in die leichter verständliche, moderne Differenzialrechnung.

TR: Was fasziniert Sie daran, wie sind Sie mit Newton in Berührung gekommen?

Du Châtelet: Das war während meiner... nun, meiner Bekanntschaft mit dem Herzog von Richelieu. Newton ist der Erste, der erklärt, nach welchen Gesetzen Gott die Welt lenkt. Er hat sozusagen Gottes unsichtbares Zahnradwerk für das Universum entdeckt.

TR: Und wie funktioniert es?

Du Châtelet: Newton hat erkannt, dass von Planeten eine starke Anziehungskraft ausgeht, die sogenannte Gravitation, die sich im Universum ausbreitet. Er hat berechnet, wie die Planeten entlang der resultierenden Gravitationslinien ihre Bahnen ziehen.

TR: Die Differenzialrechnung hat Ihnen der Mathematiker de Maupertuis beigebracht, Sohn eines von der Krone legitimierten Piraten gegen die Engländer und Ihr...

Du Châtelet: Schweigen Sie! Woher wissen Sie von Maupertuis und mir?

TR: Ihre sehr umfangreiche Korrespondenz blieb der Nachwelt erhalten.

Du Châtelet: Aber das waren doch persönliche Briefe!

TR: Sie werden aber dafür sorgen, dass jedermann erfährt, was Sie geleistet haben. Einige Wissenschaftler werden nämlich versuchen, Ihre Entdeckungen als ihre eigenen auszugeben. Oder sie werden versuchen, sie ganz verschwinden zu lassen.

Du Châtelet: Mon dieu! Ich habe es langsam satt, dass ich nicht ernst genommen werde, nur weil ich eine Frau bin. Voltaire hat mich zwar meistens unterstützt, und wir haben lange Seite an Seite geforscht. Aber es hat sein Ego auch gewaltig gestört, dass ich Newtons Berechnungen besser verstand als er. Man stelle sich vor, er dachte, er könnte den gleichen Ruhm wie der große englische Wissenschaftler ernten, wenn er bei dem Wettbewerb der Pariser Akademie der Wissenschaften gewinnt.

TR: Welchem Wettbewerb?

Du Châtelet: Die Aufgabe bestand darin, das Wesen von Wärme, Licht und Feuer zu bestimmen. Voltaire gab ein Vermögen für Messinstrumente und Glasretorten aus, und wir haben monatelang im Wald bei Schloss Cirey experimentiert. Wir wollten wissen, ob sich Metalle verändern, wenn sie so lange erhitzt werden, bis sie glühen. Doch die Ergebnisse waren verwirrend, mal schienen die wieder abgekühlten Metallklötze schwerer und mal leichter geworden zu sein. Die Wiegemethoden waren offensichtlich viel zu ungenau.

TR: Warum schlugen Sie nicht neue Experimente vor?

Du Châtelet: Er hätte niemals akzeptiert, dass er sich verrannt hat. Deshalb konnte ich auch keine eigenen Experimente starten, auch nicht heimlich, das hätte er entdeckt. Mir blieben nur theoretische Herleitungen, die ich heimlich des Nachts in meinem Gemach anfertigte.

TR: Was haben Sie entdeckt?

Du Châtelet: Zum Beispiel, dass Licht keine Masse hat. Sonst würden die Lichtpartikel, die Newton postuliert hat, bei einem noch so geringen Gewicht eine Spur der Verwüstung auf der Erde hinterlassen – schließlich sind sie 300.000 Kilometer pro Sekunde schnell. Was aber ist dann für die große Kraft von Licht verantwortlich, die Wärme einer Kerze zum Beispiel? Dieses Geheimnis liegt wohl in den verschiedenen Farben von Licht versteckt, die nur ein Prisma hervorlocken kann. Vielleicht tragen sie unterschiedliche Wärmemengen.

TR: Eine beachtliche Schlussfolgerung, Madame. Es ist allerdings ein unsichtbarer Anteil des Lichts, der die Wärme transportiert.

Du Châtelet: Unsichtbares Licht? Wie interessant, zu gern hätte ich das experimentell untersucht.

TR: Haben Sie dann auf eigene Faust beim Wettbewerb mitgemacht?

Du Châtelet: Ja, natürlich. Doch keiner von uns gewann. Unsere Theorien waren zu radikal.

TR: Machen Sie sich nichts daraus, Marquise. Ihr Werk über Newton wird publiziert, und Ihre Arbeiten werden viele namhafte Wissenschaftler beeinflussen.

Du Châtelet: Ich danke Ihnen für die aufmunternden Worte. (vsz)