zurück zum Artikel

Enduro-Neuvorstellung auf der EICMA: MV Agusta Lucky Explorer 9.5 und 5.5

Ingo Gach

Mit den Enduro-Modellen knüpft MV Agusta an die Tradition der erfolgreichen Paris-Dakar-Teilnehmer in den 80ern an.

(Bild: MV Agusta)

Die beiden Adventure-Modelle von MV Agusta im Rallye-Stil sind auf der fast verwaisten Motorradmesse EICMA eine der wenigen attraktiven Überraschungen.

Die Präsentationen auf der EICMA 2021 verliefen ernüchternd. Etliche namhafte Hersteller waren gar nicht erst zur Messe in Mailand angereist, unter anderem BMW, KTM und Harley-Davidson, sogar Ducati verzichtete auf sein Heimspiel. Eine der wenigen attraktiven Überraschungen boten da die beiden Adventure-Modelle von MV Agusta.

Die Pandemie-Pause 2020 lehrte die Aussteller, dass sie ihre neuen Modelle prima online präsentieren und dabei auch noch kräftig Geld sparen konnten. Unzählige breite Kanäle im Internet legen die Hersteller nicht mehr auf einen fixen Termin fest, an dem einem noch dazu schon mal die Schau gestohlen werden konnte. Die ungeteilte Aufmerksamkeit von Öffentlichkeit und Medien genießt, wer zur Zeit der EICMA seine Modelle online präsentiert, jede Neuheit zu einem eigenen Termin. Den Stand kann man sich sparen.

Die auf der EICMA 2021 noch anwesenden Marken zeigten fast nur bekannte Modelle, bei denen ein paar Details oder Lackierungen neu waren. Wirklich neue Motorräder fehlten, bis MV Agusta die Tücher von seinen verhüllten Bikes zog. Es waren zwei Adventure-Modelle, die in aller Stille als "Lucky-Explorer-Projekt" entwickelt worden waren. Die 9.5 und 5.5 zeigen sich im Rallye-Stil und wirken ausgesprochen attraktiv. Zwar kursierten schon im Vorfeld Gerüchte, dass der MV Agusta-Besitzer Timur Sardarov gerne seine Modellpalette auf das angesagte Reiseenduro-Segment erweitern wolle, aber gleich zwei so weit gediehene Motorräder hatte wohl niemand erwartet.

MV Agusta legt bei dem "Lucky-Explorer-Projekt" seine Unternehmensgeschichte großzügig aus. Ab Mitte der 1980er Jahre, als sich die Ära der Rallye Paris-Dakar auf ihrem Höhepunkt befand, baute Cagiva die Enduro Elefant mit einem 650er-, dann 750er- und schließlich 900er-Zweizylinder. Die Marke des cleveren Geschäftsmanns Claudio Castiglioni schickte ein Werksteam ins Rennen und 1990 gelang Alessandro de Petri auf der Cagiva Elefant 900 mit dem Sponsor Lucky Explorer ein beachtlicher dritter Platz bei der Paris-Dakar.

MV Agusta Lucky Explorer 9.5 und 5.5 (0 Bilder) [1]

[2]

Ein Jahr später trug die Serienmaschine Cagiva Elefant 900 i.e. die Lackierung des Werksbikes mit dem "Lucky-Explorer"-Schriftzug. Die Motoren der Elefant-Modelle stammten von Ducati, die damals vorübergehend zum Cagiva-Konzern gehörten. 1992 kaufte Castiglioni auch noch die Markenrechte an der insolventen Firma MV Agusta und baute Ende der 1990er Jahre wieder Motorräder unter dem legendären Namen. So kommt es, dass sich heute eine MV Agusta mit den Lorbeeren einer Cagiva schmücken kann, die von einem Ducati-Motor angetrieben wurde.

Die kleine historische Unkorrektheit soll jedoch den gelungenen Auftritt der neuen MV Agusta Lucky Explorer 9.5 und 5.5 nicht schmälern. Dabei handelt es sich um zwei Modelle, die sich zwar optisch ähneln, aber technisch nichts miteinander zu tun haben. MV Agusta kooperiert mit der chinesischen QJ Motor Company, die für den Vertrieb der Edel-Motorräder in China sorgt und außerdem Besitzer der einst italienischen Marke Benelli ist.

Die 5.5 basiert auf der Benelli TRK 502 X [3], die in Italien zu den Bestsellern gehört. Somit wird zumindest die kleinere der beiden neuen Lucky-Explorer-Modelle wieder von einem fremden Motor angetrieben, diesmal nicht von Ducati, sondern von QJ. Optisch geht die MV Agusta einen eigenen Weg, das ist die Marke mit dem Premium-Anspruch ihrer Kundschaft schuldig. Die 5.5 wirkt mehr wie eine Rallye-Maschine und verzichtet auf einen Entenschnabel. Eine Halbschalenverkleidung mit Doppel-LED-Scheinwerfer und hohem Windschild sowie Handprotektoren schützen den Fahrer.

Der Tank beschert mit 20 Liter eine üppige Reichweite und übernimmt beim Übergang zur Verkleidung auf beiden Seiten den Kreis des einstigen Lucky-Explorers-Logos, um dort die Kühler einzulassen. Den Stahlrohrrahmen scheint die MV Agusta von der Benelli übernommen zu haben, die Schwinge ist hingegen neu geformt. Der Schalldämpfer ist enduro-typisch hochgelegt, es kommen geländetaugliche Drahtspeichenräder zum Einsatz, wenn auch vorne nur mit 19 und nicht mit 21 Zoll Durchmesser. Die Federelemente stammen von KYB, die Bremsen von Brembo. Der Radstand mit 1505 Millimeter und die Sitzhöhe mit 860 Millimeter sind mit der Benelli identisch.

MV Agusta hat sich des Zweizylinders von QJ angenommen und ihn sowohl in Bohrung, als auch im Hub vergrößert, um 554 Kubikzentimeter zu erhalten. Mit 35 kW (48 PS) produziert er zwar die identische Höchstleistung, allerdings schon eintausend Touren früher, bei 7500/min. Beim Drehmoment liegt er mit 51 Nm bei 5500/min vorn, da die TRK 502 X nur auf 46 Nm bei 6000/min kommt. MV Agusta gibt für die 5.5 ein Trockengewicht von 220 Kilogramm an, mit allen Flüssigkeiten dürfte sie wohl die 235 Kilogramm der TRK 502 X erreichen.

Die 9.5 hingegen ist eine eigenständige Entwicklung von MV Agusta mit neuem Motor. Der Dreizylinder basiert in den Grundzügen zwar auf dem hauseigenen 800er-Motor [4], bekam aber geänderte Zylinderköpfe mit angepassten Einlass- und Auslassventilen, eine Kurbelwelle mit 120 Grad Hubzapfenversatz und geschmiedete Leichtmetallkolben. Auch Kühlflüssigkeits- und Ölkreislauf wurden neu gestaltet. Mit ihren 931 Kubikzentimeter leistet die 9.5 123 PS bei 10.000/min sowie 102 Nm bei 7000/min. Das ist schon ordentlich, zumal sie laut Hersteller 220 Kilogramm trocken auf die Waage bringen soll. Damit wäre sie so schwer wie die 5.5, leistet aber rund zweieinhalb Mal soviel.

Auch die 9.5 hat einen Stahlrohrrahmen und Drahtspeichenräder, erfreulicherweise aber in 21 Zoll vorne und 18 Zoll hinten für ernsthafte Offroad-Ritte. Bei der Federung folgt MV Agusta dem Trend der semi-aktiven Fahrwerke in großen Reiseenduros und griff zu einem von Sachs. Auf 220 Millimeter Federweg vorne und 210 Millimeter hinten entscheidet das Steuergerät über die Dämpfkraft. Im Cockpit findet sich ein sieben Zoll großes TFT-Display, das per Bluetooth mit dem Smartphone kommuniziert. MV Agusta sorgt für eine umfassende Sicherheitsausstattung in Form von elektronischen Assistenzsystemen, unter anderem achtstufiger Schlupfregelung, Kurven-ABS von Conti und Launch-Control.

Die 9.5 wirkt, als wäre sie auf dem Weg zur Wüstenrallye. Ein steil stehender Windschild überragt die Frontverkleidung, stabile Handprotektoren schützen die Handhebel und Finger und ein solider Motorschutz umhüllt den Bug. Auch bei der 9.5 sind die beiden Kühler seitlich im Übergang von der Verkleidung zum 20-Liter-Tank eingelassen, dennoch wirkt die MV Agusta nicht übertrieben breit. Ein Heckträger, Aufnahmen für Koffer und massive Soziusgriffe sind Serie.

MV Agusta Lucky Explorer 9.5 und 5.5 Teil 2 (8 Bilder) [5]

[6]
Die 9.5 ist eine eigenständige Entwicklung von MV Agusta mit neuem Motor.

Ob auch der transparente Kupplungsdeckel und die Schalldämpferhalterung sowie Krümmerblende aus Kohlefaserlaminat ihren Weg in die Serie finden, wird sich zeigen. Die Bremsscheiben-Cover scheinen nicht der Weisheit letzter Schluss, denn sie schützen die Scheiben zwar vor Matsch und Steinen, behindern aber die Kühlung durch den Fahrtwind. Dass die radial montierten Brembo-Bremsen gut zupacken können, darf vorausgesetzt werden, denn MV Agusta gibt für die 9.5 eine Höchstgeschwindigkeit von 240 km/h an. Gegen Aufpreis kann für die 9.5 eine Rekluse-Kupplung geordert werden, die beim Anfahren oder einem Stopp Kuppeln per Handhebel überflüssig macht. Beim Schalten muss freilich weiterhin ausgekuppelt werden. Für eine Afrika-Durchquerung scheint sie aber wenig geeignet, weil man mit ihr im Fall einer schlappen Batterie das Krad nicht anschieben oder anrollen lassen kann.

Die Lucky Explorer 9.5 und 5.5 dürften sich nur unwesentlich von der Serie unterscheiden. Ob sie die Namensgebung beibehalten oder ein "Elefant" hinzufügen wird, hat MV Agusta bislang nicht verraten. Auf jeden Fall werden die beiden attraktiven Reiseenduros für Aufsehen sorgen. Wann die Produktion anläuft und die ersten Exemplare ihren Weg nach Deutschland finden, ist noch genauso offen wie die Preisgestaltung.

Hersteller MV Agusta
Modell 9.5
Motor und Antrieb
Motorart Otto
Zylinder 3
Ventile pro Zylinder 4
Hubraum in ccm 931
Leistung in kW (PS) 90 (123)
bei U/min 13.000
Drehmoment in Nm 102
bei U/min 10.000
Antrieb Dichtringkette
Getriebe Sequenzielles Schaltgetriebe
Gänge 6
Fahrwerk
Radaufhängung vorn Upside-down-Gabel
Radaufhängung hinten Zweiarmschwinge mit Zentralfederbein
Reifengröße vorn 90/90-21
Reifengröße hinten 150/70-18
Bremsen vorn Doppelscheibe, 320 mm; Vierkolben-Festsattel
Bremsen hinten Einzelscheibe, 265 mm; Zweikolben-Festsattel
Maße und Gewichte
Radstand in mm 1580
Gewicht leer in kg 220
Tankinhalt in Litern 20
Sitzhöhe in mm 850 / 870

(fpi [7])


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-6276292

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.heise.de/bilderstrecke/bilderstrecke_6276302.html?back=6276292;back=6276292
[2] https://www.heise.de/bilderstrecke/bilderstrecke_6276302.html?back=6276292;back=6276292
[3] https://www.heise.de/autos/artikel/Benelli-TRK-502-Italienerin-made-in-China-3835484.html
[4] https://www.heise.de/tests/Fahrbericht-MV-Agusta-Superveloce-800-4923599.html
[5] https://www.heise.de/bilderstrecke/bilderstrecke_6276300.html?back=6276292
[6] https://www.heise.de/bilderstrecke/bilderstrecke_6276300.html?back=6276292
[7] mailto:fpi@heise.de