Energieversorgung: Welchen Netzausbau wir brauchen

Mit der Energiewende müssen neue Netze her. Doch wie und wo gezielt ausbauen?

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Von
  • Sascha Rentzing

Eher beiläufig verkündete Martin Rühl, Chef der Stadtwerke Wolfhagen, kürzlich ein ehrgeiziges Vorhaben. Die hessische Kleinstadt mit ihren knapp 13000 Einwohnern und mittelständischen Industriebetrieben soll sich künftig zu 90 Prozent selbst mit erneuerbaren Energien versorgen. Rein rechnerisch ist dies zwar bereits 2015 geglückt.

Doch weil sich der Energieüberschuss an hellen oder windreichen Tagen nicht speichern lässt, mussten die Wolfhagener an dunklen und windarmen Tagen Strom von außen beziehen. Dies will Rühl nun ändern – jedenfalls bis auf die letzten zehn Prozent. Gelingt der Plan, dürfte die Debatte um den Netzausbau eine neue Richtung nehmen.

In Deutschland fließt der Strom durch insgesamt vier Netze. Wenn er weite Strecken zurücklegen muss, geschieht dies mithilfe der Übertragungsnetze. Die drei Verteilnetz-Ebenen bringen die Energie zum Verbraucher. Da erneuerbare Quellen ihre Energie zu mehr als 90 Prozent in die Verteilnetze einspeisen, bieten sich lokale und regionale Lösungen an. Dennoch wollen die vier für den Netzausbau verantwortlichen Übertragungsnetzbetreiber Tennet, Amprion, 50Hertz und TransnetBW die Sache anders angehen. Ihr aktueller Netzentwicklungsplan sieht drei neue Höchstspannungstrassen mit fast 3000 Kilometern Gesamtlänge vor.

Als sogenannte HGÜ-Leitungen (Hochspannungs-Gleichstrom-Übertragung) sollen die geplanten Stromautobahnen künftig bis zu acht Gigawatt Strom nach Süddeutschland abtransportieren – und so vor allem für Entlastung in den Windgebieten Norddeutschlands sorgen. Zusätzlich zum Neubau soll noch einmal die gleiche Länge im bestehenden Netz optimiert werden. Veranschlagte Gesamtkosten: 22 bis 25 Milliarden Euro.

Wolfhagen will zeigen, dass die vorgesehenen Maßnahmen zu weit gehen. Zu diesem Zweck wollen die Stadtwerke zunächst das sogenannte Lastmanagement testen. Hierzu haben sie Elektrogeräte in Haushalten mit intelligenter Steuerungselektronik ausgestattet und variable Tarife entwickelt, die Anreize für einen angebotsorientierten Stromverbrauch setzen sollen. Noch stehen hinter dem Projekt allerdings Fragezeichen: Reichen die finanziellen Anreize, um die Haushalte zum Mitmachen zu bewegen? Und inwieweit kann dadurch der Stromaustausch mit anderen Regionen tatsächlich reduziert werden? Die Stadtwerke sind nach einer Potenzialanalyse immerhin optimistisch. Zudem gibt es Überlegungen, auch die örtlichen Industriebetriebe in das Verbrauchsmanagement einzubinden.

Läge der Fokus stärker auf solchen regionalen Lösungen, ließen sich nach Berechnungen der TU Berlin zwei Trassen und damit ein großer Teil der Netzausbaukosten sparen. Nur die Stromautobahn von Nord nach Süd, die 800 Kilometer lange SuedLink-Trasse, werde benötigt. Sie soll bis zu vier Gigawatt Windstrom von Schleswig-Holstein nach Bayern transportieren, das mit dem Ende der Atomkraft 2022 besonders auf Stromlieferungen angewiesen sein wird. Die geplante Ultranet-Trasse im Westen und die Süd-Ost-Passage zwischen Magdeburg und Gundremmingen seien dagegen überflüssig. Denn ihre Planung basiere darauf, dass Kohlemeiler auch bei starkem Wind weiterlaufen, wenn also mehr als genug Ökostrom vorhanden ist. „Das heißt, nicht die Erneuerbaren, sondern der hohe Überschuss des Kohlestroms braucht zusätzliche Netze“, resümiert der Infrastrukturexperte Christian von Hirschhausen von der TU Berlin.

Gegen einen umfassenden Trassenbau spricht auch, dass Baden-Württemberg – ein weiterer potenzieller Großabnehmer des Küstenstroms – künftig mehr eigene Windenergie produzieren will. Die grün-schwarze Landesregierung hat angekündigt, bis 2020 zehn Prozent des regionalen Strombedarfs aus Windkraft zu decken, was bedeutet, dass die installierte Windleistung von derzeit rund 700 Megawatt in den kommenden vier Jahren mehr als verdoppelt werden muss. Dann wären auch weniger Energieimporte aus dem Norden nötig. Stattdessen bräuchte man eher regionale Maßnahmen, um die Windkraft mit der im Land stark ausgeprägten Photovoltaik in Einklang zu bringen.

Dafür müssten vor allem die Verteilnetze ausgebaut werden. Denn sie sind nicht für die Strommengen ausgelegt, die sie etwa aus Solaranlagen ableiten sollen. Aber ausgerechnet hier setzt die Politik keine Zeichen. Während die Deutsche Energie-Agentur den Investitionsbedarf bis 2030 auf insgesamt 25 Milliarden Euro schätzt, würgen die derzeitigen Rahmenbedingungen den Ausbau ab, sagt Stefan Luig vom Verband kommunaler Unternehmen. Selbst einfache Maßnahmen kommen kaum voran. Über eine intelligente Steuerung der bestehenden Verteilnetze ließe sich die Aufnahmekapazität mit relativ geringem Aufwand deutlich steigern. Doch die Anreize dazu fehlen, kritisiert von Hirschhausen: „Stattdessen hält die Bundesregierung an ihren Plänen für einen völlig überdimensionierten Netzausbau fest.“

Dabei gäbe es die nötigen Technologien, betont Patrick Graichen von der Denkfabrik Agora Energiewende. Ein Ansatz seien regelbare Ortsnetztransformatoren (Ront). Sie wandeln die 20 Kilovolt aus dem Mittelspannungsnetz auf 400 Volt für die Niederspannungsnetze um. Das Besondere dabei: Während klassische Trafos ein festes Übersetzungsverhältnis von Eingangs- und Ausgangsspannung haben, steuern die neuen Modelle die Spannung in Abhängigkeit von der Netzbelastung. So lässt sich mehr Ökostrom einspeisen, ohne die Leitungen zu überfordern.

In der Gemeinde Wildpoldsried im Allgäu zeigen die modernen Trafos bereits ihren Nutzen. Das Allgäuer Überlandwerk hat dort gemeinsam mit Partnern ein intelligentes Netz mit Ront, einem Lithium-Ionen-Speicher und einer speziellen, von Siemens entwickelten Software installiert, die Ökostromerzeugung, Verbrauchsverhalten und Speicherung aufeinander abstimmt. Durch die Maßnahme hat das Überlandwerk nach eigenen Angaben in den vergangenen Jahren Netzausbaukosten in Höhe von 600000 Euro gespart, rund 20 Prozent der Gesamtkosten.

Demnächst soll nun mithilfe der in Wildpoldsried installierten Smart-Grid-Infrastruktur inklusive der regelbaren Trafos und des Speichers ein regionales, in sich geschlossenes Inselnetz erprobt werden, ein sogenanntes Microgrid. Sollte dann etwa im übergeordneten Hauptnetz eine Störung auftreten, könnte das Wildpoldsrieder Netz die Gemeinde autark weiterversorgen.

Im nächsten Schritt will das Überlandwerk untersuchen, wie sich das Microgrid zu einem virtuellen Kraftwerk erweitern lässt. Die Idee ist ein intelligentes Zusammenspiel von Erneuerbaren mit weiteren Komponenten wie Stromspeichern. So ließe sich die Strommenge im Netz regulieren und das System stabil halten. Kein konventionelles Großkraftwerk müsste mehr einspringen, um Schwankungen auszugleichen. Die Überlandtrassen, die heute noch als Nabelschnur dienen, wären vielfach unnötig. (bsc)