Es geht auch sicherer

Kreuzfahrtschiffe bieten ihren Passagieren weniger Sicherheit als möglich wäre. Moderne Rettungstechnik ist längst entwickelt, aber nicht zwingend vorgeschrieben. Und die unter Konkurrenzdruck stehenden Reedereien scheuen die Kosten.

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  • Hanns-J. Neubert
Inhaltsverzeichnis

Kreuzfahrtschiffe bieten ihren Passagieren weniger Sicherheit als möglich wäre. Moderne Rettungstechnik ist längst entwickelt, aber nicht zwingend vorgeschrieben. Und die unter Konkurrenzdruck stehenden Reedereien scheuen die Kosten.

Glück gehabt. Mehr als 99 Prozent von 4200 Schiffbrüchigen wurden gerettet. Die Umstände waren aber auch günstig, als sich das 290 Meter lange Kreuzfahrtschiff "Costa Concordia" am Freitag, dem 13. Januar 2012, gegen 22 Uhr unmittelbar vor dem kleinen Hafen der italienischen Insel Giglio nach einer Grundberührung auf die Seite legte: Das Wetter hatte mitgespielt, die See war ruhig, die Nacht sternenklar.

Es hätte viel schlimmer kommen können. Wäre das imposante Schiff aufs Meer hinausgetrieben und hätte ein Sturm die Wellen meterhoch aufgepeitscht, dann wäre es fraglich gewesen, ob die dekorativ an den Seiten aufgereihten orangefarbenen Rettungsboote ihren Dienst erfüllt hätten. "Rettungsboote sind nicht für die raue See gemacht, sie dienen eher der Beruhigung der Passagiere", meint Professor Olle Rutgersson, Chef der Arbeitsgruppe Marine Sicherheit an der Technischen Universität Chalmers in Göteborg, Schweden.

Die moderne Schifffahrt ist heutzutage von derart aufwendiger Technik dominiert, dass auch Seenot als eine Art beherrschbarer Störfall erscheint. Doch die Bergung von einem sinkenden Schiff oder die Rettung vor dem Ertrinken ist nach wie vor ein dramatischer Kampf gegen Wasser, Sturm, Kälte und Panik – besonders aber gegen die Zeit. Dies trifft vor allem dann zu, wenn große Fähren oder Kreuzfahrtschiffe havarieren, von denen inzwischen oft Tausende von Menschen in kurzer Zeit evakuiert werden müssen. Schiffbauingenieure und Seenotexperten sind deshalb auf der Suche nach immer besseren und risikoärmeren Lösungen.

Rutgersson etwa ging einen völlig neuen Weg. Seine Arbeitsgruppe konzipierte ein Schiff, das sein eigenes Rettungsboot ist, sodass Passagiere gar nicht erst Schwimmwesten anlegen oder in kippelige Boote umsteigen müssen. Damit liegt er auf der Linie der IMO, der Internationalen Maritimen Organisation in der UNO. Danach sollte ein Passagierschiff so gebaut sein, dass es im Notfall auch unter schwierigsten Bedingungen sicher in einen Hafen gelangt. Oder wenigstens ein Teil davon.

Nach Rutgerssons Vorstellungen sollen sich Passagiere und Besatzung bei Gefahr in das Panoramarestaurant oder die Diskothek zurückziehen, Räume, die üblicherweise auf dem Oberdeck der Kreuzfahrer zu finden sind. Eine solche Einheit lässt sich technisch vollständig vom übrigen Schiff abschotten. Eine unabhängige Energieversorgung und eine eigene, für die Seereisenden vorher unsichtbare Funkanlage machen das Rettungsmodul autark vom übrigen Schiff. Bei geschlossenen Türen bleiben Restaurant oder Disko völlig wasserdicht und schwimmfähig, aber auch geschützt vor Feuer. Sollte das Schiff tatsächlich sinken, lässt sich der Schutzraum von innen ausklinken. Er rutscht dann ins Meer und kann dort mitsamt den Schiffbrüchigen von Schleppern geborgen werden.

"Man fordert immer mehr Sicherheit für die Rettungssysteme auf See", sagt Rutgersson. "Dabei wäre es doch eigentlich sinnvoller, das Geld darauf zu verwenden, die Schiffe selbst sicherer zu machen." Der Rettungsraum wäre bei einem Neubau relativ einfach einzubauen, meint der Professor, und würde die Baukosten etwa für eine moderne, um die 110 Millionen Euro teure Großfähre kaum erhöhen. Trotzdem ist nicht damit zu rechnen, dass das im Herbst 2011 abgeschlossene Projekt demnächst verwirklicht wird. Die Reedereien investieren nicht mehr in die Sicherheit ihrer Passagiere und Besatzungen als minimal vorgeschrieben.

Über solch einen Rettungsraum sollten vor allem die großen Fähren verfügen, die sowohl Lastwagen als auch Passagiere befördern. Diese Schiffstypen sind besonders anfällig, weil sich die Ladeflächen nicht durch Schotten unterteilen lassen. Dringt Wasser in die Decks, die so groß wie halbe Fußball- felder sein können, bekommt das Schiff schnell Schlagseite und sinkt.

Kreuzfahrtschiffe dagegen gelten theoretisch wegen ihrer zahlreichen Kabinen als ziemlich sicher. In den vielen kleinen Räumen kann Wasser kaum hin und her schwappen, sodass das gesamte Schiff im Prinzip noch lange stabil bleiben könnte. Außerdem verhindern Stahlschotten, dass die Decks unter der Wasserlinie ganz und gar volllaufen. Diese Sicherung versagt allerdings, wenn der Rumpf durch Grundberührung einen Längsriss bekommt wie bei der "Costa Concordia".

Den Vorteil kleiner Räume hebt allerdings der verhältnismäßig geringe Tiefgang der schwimmenden Bettenburgen von nur acht bis zehn Metern wieder auf. Dadurch können die Traumschiffe zwar, zum Pläsier ihrer Kreuzfahrtgäste, dicht an malerischen Ufern entlangfahren und auch beschauliche, flache Häfen anlaufen. Aber der hohe Aufbau, zwölf und mehr Stockwerke hoch, macht die Kolosse derart kopflastig, dass sie schnell instabil werden und kentern, wenn durch ein Loch Wasser in den Rumpf eindringt.

Da man ein Schiff aber nie absolut unsinkbar bauen kann, muss es evakuiert werden können. Zwar sind moderne Rettungsboote inzwischen geschlossen, selbstaufrichtend und unsinkbar. "Aber allein die Aussetzvorrichtungen sehen immer noch so aus wie im vor-vorigen Jahrhundert", findet Ulrich Schmidt, Leiter der Dienststelle für Schiffssicherheit in Hamburg, einer Bundesoberbehörde, angesiedelt bei der Berufsgenossenschaft Verkehr. Der Einsatz von Rettungsbooten, die ja Leben erhalten sollen, berge deshalb selbst Unfallgefahr.

Wenn ein Schiff in der See rollt – seitlich in den Wellen schaukelt –, knallen die Boote beim Herablassen mit ungeheurer Wucht gegen die Bordwand. Werden sie nicht schnell genug herabgelassen, pendeln sie zu lange in den Wellentälern, und die nächste Woge reißt sie um. Wird dagegen zu viel Draht zu schnell abgerollt, verheddern sich die Boote und schlagen um, bevor sie unten sind. "Es gibt kein Rettungssystem, das die Forderung der IMO, sturmfest zu sein, wirklich erfüllt", konstatiert auch Rutgersson. Verständlicherweise traut sich niemand, Rettungsmittel in stürmischer See auf ihre Brauchbarkeit zu testen.

Der Untergang des Fährschiffs "Estonia" auf der Reise von Tallinn nach Stockholm Ende September 1994, bei dem 852 Menschen in der kalten und stürmischen Ostsee ertranken, war ein nationales Trauma für Schweden. Denn die Rettungsboote und -inseln der "Estonia", die von den eintreffenden Seenothelfern gefunden wurden, waren fast alle leer, weil die Ertrinkenden nicht die Kraft hatten, sich hineinzuziehen. Selbst Hubschrauber konnten nicht viel ausrichten. Viele der im Wasser treibenden Überlebenden, die das Glück hatten, gefunden und an Rettungsschlingen und -seilen emporgehievt zu werden, starben kurz darauf den sogenannten Bergungstod. Er tritt ein, wenn in vertikaler Lage das unterkühlte Blut aus den Gliedern in den Körperkern fließt und das Herz einen Kälteschock erleidet.

Die Rettungsboote der "Estonia" waren vergleichsweise klein. Heute sind die größten schon fast selbst Passagierschiffe und für einen Einstieg aus dem Wasser gar nicht mehr vorgesehen. Sie finden sich etwa an Bord der beiden mächtigsten Kreuzfahrtschiffe der Welt, der "Oasis of the Seas" und der "Allure of the Seas" – 17 Meter lange, motorisierte Doppelrumpfboote, in denen jeweils 370 Passagiere auf zwei Ebenen unterkommen. Insgesamt bieten die 20 Boote Platz für alle 7400 Passagiere und Besatzungsmitglieder.

Ulrich Schmidt kann da nur den Kopf schütteln: "Von diesen Megabooten halte ich gar nichts. Je mehr Menschen an Bord passen, umso mehr Schwierigkeiten gibt es im Evakuierungsfall." Eine Panik unter so vielen Menschen auf so engem Raum könne niemand mehr in den Griff bekommen.

Aufblasbare Rettungsinseln, wie sie zusätzlich an Bord mitgeführt werden, bieten keine Alternative. Sie sind ziemlich sinnlos, wenn die Menschen sie nicht direkt von Bord des havarierten Schiffs trocken besteigen können. Aus dem Wasser einzusteigen ist selbst bei gutem Wetter schwierig, eine leblos im Wasser treibende Person in die Rettungsinsel zu ziehen fast unmöglich. Bei aufgewühlter See, peitschender Gischt, panischer Angst und möglicherweise fortgeschrittenem Alter dürfte es völlig unmöglich sein, sich selbst oder andere auf diese Weise zu retten.

Sicherheitsexperte Schmidt sieht eine echte Alternative nur in den sogenannten Freifall-Rettungsbooten, wie man sie heute am Heck vieler Frachter oder an Bohrinseln sehen kann. Die Schiffbrüchigen betreten diese motorisierten Boote durch eine Hecktür, schnallen sich mit dem Rücken zur Fallrichtung in Sesseln an und fixieren den Kopf mit einem Klettband an der Kopfstütze. Mit einem einfachen Hebel lässt sich das Boot entriegeln, das dann mit dem Bug voran ins Meer stürzt. Es taucht ein paar Meter unter die Wellen, kommt wieder hoch und schwimmt dann durch den Schub des schrägen Falls weit vom Schiff weg. Bei Kreuzfahrtschiffen haben sich Freifall-Rettungsboote aber nicht durchsetzen können. Einige Reeder fürchten, dass sie durcheinanderpurzeln und sich gegenseitig schwer beschädigen, wenn sie aus mehr als zehn Metern Höhe ins Meer fallen. Anderen nehmen sie zu viel Platz weg – die Reedereien müssten dafür auf einige der teureren Kabinen verzichten: Erlebnis-Architektur schlägt Sicherheit.

Auf einigen Kreuzfahrtschiffen, etwa der "Oasis", der "Allure" und der "Aida"-Flotte sowie auf vielen Großfähren sind inzwischen aufblasbare Rettungsschläuche mit angeknöpften Rettungsinseln installiert, in die alle Passagiere hinunterrutschen. Solche sogenannten Marine Evacuation Systems (MES) haben sich durchaus bewährt. Trotzdem rüsten nur wenige Reedereien ihre Schiffe damit aus. Auch für hilflos in der See treibende Personen gibt es heute, 18 Jahre nach der "Estonia"-Katastrophe, Rettungsmethoden, die dem Bergungstod vorbeugen, indem sie helfen, die Ertrinkenden in waagerechter Lage zu bergen. Zum Beispiel der "Sealift", eine 25 bis 70 Quadratmeter große Netzplattform, die – etwa von Bord eines Rettungsfahrzeugs aus – an einem Stahlarm seitlich über die Reling geschwenkt, ins Wasser getaucht und unter den Ertrinkenden gezogen werden kann. Beim Hieven bleibt der Verunglückte auf dem Netz liegen. Dieses ist so stark, dass sich damit ganze Rettungsinseln auffischen lassen.

Mechanisch aufwendiger ist der "Rescue-Shuttle", ein Katamaran, zwischen dessen beiden Schwimmern ein zwei Meter breiter, nach unten offener Netzkäfig schwebt. Das Gerät lässt sich am besten vom Hubschrauber aus einsetzen, könnte aber auch auf größeren Schiffen bereitgehalten werden. Nachdem die Retter den Katamaran über den Ertrinkenden gezogen haben, dreht der Käfig sich in der Längsachse und nimmt dabei den Verunglückten auf. Danach dreht sich die Öffnung nach oben, sodass die Person vor dem Herausfallen gesichert ist. Ein Helfer, der in rauer See mit dem Shuttle herabgelassen wird, kann den Verunglückten auch gezielt in den Käfig hineinbugsieren.

Doch in aufgewühlter See einen Menschen überhaupt zwischen den Wellen auszumachen und ihn nicht aus den Augen zu verlieren, ist ein großes Problem. Eine Lösung könnte der automatisch gesteuerte Agapas-Rettungsroboter bieten, der ähnlich wie der Rescue-Shuttle funktioniert, aber teilautonom arbeitet. Dafür muss allerdings ein kleiner Sender in die Rettungswesten eingearbeitet sein. Der Rettungsroboter bewegt sich im Wasser selbstständig auf den Funksender zu und übermittelt gleichzeitig dessen Positionsdaten, sodass die Helfer auf dem Rettungskreuzer genau erkennen können, wo der Schiffbrüchige treibt. Mithilfe eingebauter Fernseh- und Infrarotkameras dirigieren die Helfer den Roboter dann direkt an den Ertrinkenden heran. Der klappt seinen Netzkorb über den Ertrinkenden und schwimmt automatisch mit ihm zum Schiff, wo er mit einem Kran aufgenommen wird.

Ob Agapas sich durchsetzt, ist indes ungewiss. Eine erste Version, genannt "Rettungsdelfin", wurde vor zehn Jahren vorgestellt, galt aber als nicht ausgereift. Der Delfin wurde zu einem Messgerät für die Meeresforschung umgebaut.

Die Evakuierung eines sinkenden Schiffs ist immer nur das allerletzte Mittel. Wenn auf der Brücke die richtigen Entscheidungen zur richtigen Zeit gefällt werden, kann es sich oft noch lange an der Wasseroberfläche halten und Hilfe abwarten. Aber im Seenotfall bleibt auch eine Schiffsführung alles andere als gelassen. Da helfen computergestützte Beratungssysteme, die so klar und eindeutig Ratschläge und Zustandsberichte liefern, dass auch Menschen in Panik sie verstehen und irgendwann auch die Fassung wiedergewinnen.

Auf der Fähre "Mecklenburg-Vorpommern", die zwischen Rostock und dem südschwedischen Trelleborg verkehrt, ist das Notfall-Beratungssystem "Madras" installiert. Bei Feuer und Wassereinbruch, bei Grundberührung, Rettungsaktionen und bei der Evakuierung der Fähre erscheinen klare Textanweisungen auf dem Computerbildschirm, die der Schiffsführung sagen, was als Nächstes zu tun ist.

"Da fließen das individuelle Sicherheitskonzept der Reederei ein, die Bauart des Schiffs, sein Seeverhalten, aber auch, wer an Bord wofür zuständig ist, das gesamte Management des Schiffs eben", erklärt Dirk Dreißig, Geschäftsführer der Rostocker Ingenieurgesellschaft für maritime Sicherheitstechnik und Management (MARSIG), die das System entwickelt hat. Die laufenden Informationen aus dem Schiffsbetrieb und die Vorgänge während eines Störfalls erhält der Rechner über doppelt ausgelegte Kabel von zahlreichen Messpunkten im Schiff, die Temperaturen, Wasserstände oder Rauch erfassen. Dringt etwa Wasser ein, so zeigt der Bildschirm nicht nur an, wie stabil das Schiff noch schwimmt, sondern auch, welche Maschinen wahrscheinlich ausfallen werden, wenn das Wasser bestimmte Bereiche im Schiff erreicht.

Eigentlich müsste "Madras" gleich beim Bau eines Schiffs berücksichtigt werden. Da ein Beratungssystem aber nicht vorgeschrieben ist, ordern Reeder derzeit höchstens einzelne Module zum Nachrüsten, in erster Linie Passagier- und Fährschiff-Reedereien, aber auch Eigner von Öl- und Gastankern.

Weil die Software eigentlich ein Simulationsprogramm ist, lässt sie sich auch als Grundlage für Sicherheitsschulungen in virtuellen Realitäten nutzen. Solche Ausbildungen sind für Schiffsbesatzungen neuerdings periodisch vorgeschrieben. Die Billiglösung, Auffrischungsübungen an Bord, ist nicht mehr zugelassen.

Diese Trainingseinheiten für Offiziere berücksichtigen übrigens inzwischen auch den Fall, dass ein Kapitän völlig in Apathie verfällt oder vorzeitig von Bord geht, an Land fährt und in einem Taxi verschwindet, so wie der Kapitän der "Costa Concordia". Dessen Offiziere hatten ihr letztes Training aber wohl zu einer Zeit, als diese Situation noch nicht einprogrammiert war. Anders ist das Chaos bei der Evakuierung kaum erklärbar, das vermutlich mehr als 30 Menschen ihr Leben kostete. (bsc)