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Fliegen retten Fische

Jan Berndorff

Von Jahr zu Jahr isst der Mensch mehr Fisch aus Aquakultur. Doch die Überfischung geht weiter, denn auch Zuchtfische brauchen als Futter Wildfische. Nun wollen Forscher das Problem lösen: mit Gentechnologie, vegetarischen Lachsen – und Insektenmehl.

Von Jahr zu Jahr isst der Mensch mehr Fisch aus Aquakultur. Doch die Überfischung geht weiter, denn auch Zuchtfische brauchen als Futter Wildfische. Nun wollen Forscher das Problem lösen: mit Gentechnologie, vegetarischen Lachsen – und Insektenmehl.

Dirk Wessendorf wartet. Nicht auf den Reporter, der heute seine Fabrik anschauen möchte – der ist pünktlich. Nein, Wessendorf wartet auf die EU. "Wenn die in Brüssel endlich in die Puschen kommen, können wir mit unserer Produktion durchstarten." Der 43-jährige gelernte Bauingenieur sitzt in seinem Architekturbüro in Ahaus-Alstätte nahe der niederländischen Grenze. Doch es geht heute nicht um Giebel und Glasbaustein. Sondern um Maden und Mehl. In einer Fabrikhalle außerhalb des Ortes züchtet Wessendorf Insekten. Bislang nebenberuflich. Doch wenn alles klappt, wie er sich das vorstellt, hängt er demnächst die Architektur an den Nagel. Denn Insektenzucht könnte ein einträgliches Geschäft werden. Mehl aus Fliegenmaden gilt als vielversprechende Alternative zu Fischmehl.

Fischmehl ist ein weltweit begehrtes Futtermittel. Sein Wert hat sich in den letzten zehn Jahren verdreifacht. Eine Tonne kostet inzwischen über 2000 US-Dollar. Der größte Abnehmer, die Aquakultur-Wirtschaft, wächst stetig. Sie muss den weltweit steigenden Fischbedarf decken, weil die Wildfischerei stagniert. Schon jetzt sind viele Arten in den Meeren überfischt, mehr geben die Meere einfach nicht her. Das gilt allerdings genauso für Fischmehl: Es besteht zum Teil aus Filetier-Resten der Speisefische, vor allem aber aus extra gefangenen kleinen Fischlein wie Sardellen und Anchovis. Die Zuchtfische futtern mehr von ihnen, als sie nachher selbst an Gewicht auf den Teller bringen. Bis jetzt verschärfen Aquakulturen daher die Überfischung, statt sie zu lindern. Es muss also Ersatz für Fischmehl her.

Allerdings will die EU derzeit noch nicht so, wie Weissendorf will: Seit der BSE-Krise verbietet sie – mit Ausnahme von Fischmehl – das Verfüttern von verarbeiteten tierischen Proteinen an Nutztiere. Das gilt auch für Insekten, an sie hatte zum Zeitpunkt der Regelung schlicht keiner gedacht. So wartet Wessendorf darauf, dass Brüssel diese Proteinquelle endlich vom Verbot ausnimmt. Viele Experten glauben, nächstes Jahr sei es so weit. Das sagen sie zwar schon seit fünf Jahren. Aber die Zeit arbeitet für die alternativen Eiweißquellen. Denn mit jedem Jahr wird das Problem drängender.

Andere Möglichkeiten scheinen nahezu ausgereizt zu sein. Darunter fallen unter anderem die Versuche, die beliebten Raubfische in Vegetarier zu verwandeln. "Die Futterpellets für fleischfressende Zuchtfische wie Lachs, Forelle oder Wolfsbarsch, die im Westen am häufigsten gegessen werden, bestehen schon heute nur noch zu 10 bis 20 Prozent aus Fischmehl und -öl", sagt Ulfert Focken von der Abteilung für Fischereiökologie am Johann Heinrich von Thünen-Institut in Braunschweig. "Sonst könnte die Aquakultur gar nicht wachsen." Mussten früher pro Kilogramm Lachs noch rund vier Kilogramm Futterfische eingesetzt werden, erreicht man heute in fortschrittlichen Zuchten schon ein Verhältnis von eins zu eins. "Regenbogenforellen haben wir sogar schon erfolgreich ganz ohne Fischmehl gezüchtet", sagt Margareth Øverland von der norwegischen Universität für Lebenswissenschaften in Ås.

Diese Errungenschaft auf andere Arten zu übertragen und im Großmaßstab einzuführen, dürfte allerdings schwer werden. Insgesamt brauchen Fische in ihrem Futter rund 40 verschiedene Nährstoffe in einem gewissen Verhältnis. Versuche, unter anderem an Lachsen, haben gezeigt, dass rund die Hälfte des Fischmehlanteils ohne Einbußen im Wachstum durch pflanzliche Mehle ersetzt werden kann. Drückt man den Anteil jedoch weiter, wird es kritisch: Landpflanzen fehlen einige wichtige Aminosäuren wie etwa Methionin und Lysin. Diese müssen dann künstlich zugesetzt werden. Des Weiteren ist rein vegetarische Kost für sie schwer verdaulich. Lachse etwa, die nur mit Soja ernährt werden, leiden unter chronischer Darmentzündung. Darum muss man Soja für Fischfutter aufbereiten, bei empfindlichen Fischarten sogar die Proteine isolieren. All das treibt Aufwand und Kosten in die Höhe.

So könnte bald die Stunde des Insektenmehls schlagen. Fünf Minuten von seinem Büro entfernt hat Wessendorf mit Helfern den Nebenerwerb aufgebaut, im Gebäude einer ehemaligen Textilfabrik. In der Fußballfeld-großen Halle aus Backstein stehen weiße, jeweils etwa zwei Kubikmeter große Sperrholzkästen, in denen es wimmelt und wuselt: "Hermetia illucens, die Soldatenfliege", sagt Wessendorf. In jedem Kasten schwirren Tausende herum – völlig harmlos, auch wenn ihr Name anderes suggeriert. Wir treten in einen Raum, in dem zwei Brutkästen zum Experimentieren stehen – und jede Menge anderer Kram: Kisten, Werkzeuge, Apparate, es erinnert an eine Hinterhof-werkstatt. Über fünf Jahre wurde hier getüftelt: "Die Soldatenfliege stammt aus dem Süden, sie braucht es warm und feucht, und normalerweise legt sie nur im Sommer Eier. Wir haben lange experimentiert, um die richtigen Bedingungen auch hinsichtlich Licht und Futter herauszufinden, damit sie sich wohlfühlt und das ganze Jahr über fortpflanzt."

Und das kommt dabei heraus: Ich greife beherzt in eine offene Kiste, bei deren Anblick die Bewohner des RTL-Dschungelcamps Appetit bekämen. Randvoll winden sich dicke hellbraune Maden, jede rund zwei Zentimeter lang. Überraschenderweise fühlen sie sich überhaupt nicht glitschig, sondern angenehm trocken und lauwarm an. Zwischen den Maden bröseln dunkelbraune Krümel. "Madenkacke", sagt Wessendorf. Meine Hand zuckt zurück. Doch der Züchter versichert: "Keine Sorge, die ist absolut steril und stellt sogar guten Dünger dar. Die Krümel stecken voller Stickstoff und Phosphate." Letztlich produzierten die Maden nichts anderes als die Organismen im Komposthaufen: fruchtbare Erde.

Eine Kiste weiter sieht man, was sie gefressen haben: eine bunte Pampe aus pflanzlichen Lebensmittelresten, die Wessendorf von Bauern, Brauern und Supermärkten bekommt. "Da kippen wir die Fliegeneier aus den Brutkästen rein, und binnen weniger Tage werden daraus im Raum nebenan schöne fette Maden plus Dünger." Den Raum betreten wir lieber nicht: Darin stinkt es wie im Schweinestall – Ammoniak. "Den Geruch kriegen Sie nicht mehr aus den Kleidern raus."

Die Nährstoffe aus den organischen Abfällen lagern die Maden in ihrem Körper ein. Sie bestehen zu 42 Prozent aus Proteinen und 35 Prozent aus Fett, dazu Mineralien und Vitaminen. Werden die Maden getrocknet und gemahlen, stecken im Mehl die Proteine und im Öl die Fette. Bislang verkauft Wessendorf lebende Maden als Futter an Vogel- und Reptilienhalter, das Mehl gepresst zu Powerriegeln für Heimtiere. Fällt das Verbot, darf er Mehl und Öl auch an Nutztierhalter liefern – und da locken natürlich viel größere Aufträge. Denn auch Hühner- und Schweinefarmen füttern zu etwa fünf Prozent mit Fischmehl. "Ich habe schon Anfragen aus ganz Europa, selbst aus Indien. Das wird ein Milliardenmarkt."

An dem wollen auch andere teilhaben. Südlich von Berlin gibt es eine ähnliche Insektenzucht, ebenso in den Niederlanden und in Frankreich – alle bereit, richtig loszulegen. Außerhalb Europas hat man das sogar schon getan: in den USA etwa oder in Südafrika, wo kein Futterverbot für verarbeitetes Fleisch gilt. Bei Kapstadt nimmt dieses Jahr die zurzeit größte Larvenfabrik der Welt den Betrieb auf. Vom Prinzip her funktioniert sie wie die in Ahaus. Doch die Dimension ist eine andere: Sie ist größer als das Deck eines amerikanischen Flugzeugträgers – über 300 Meter lang. Das Betreiber-Brüderpaar David und Jason Drew hat durch geschicktes Marketing Millionen Euro Fördergelder und Investitionen für ihre Firma AgriProtein akquiriert. Nach ebenfalls jahrelanger Forschung haben sie nun eine Hightech-Anlage errichtet, die bei vollem Betrieb jeden Tag 110 Tonnen Abfall verwerten soll. Im Zentrum der Anlage steht ein riesiger Roboter, der Container mit Speiseabfällen und den Endprodukten hin- und hermanövriert. Er macht ohrenbetäubenden Krach. Nebenan in den Bruträumen jedoch ist es recht still: "Dies ist eine Ruhezone. Fliegen bei der Paarung!" steht auf der Tür. Selbst dahinter riecht es nur vage nach Organischem. Dafür sorgt eine leise surrende Lüftungsautomatik.

In einem sozialen Projekt mit Unterstützung der Bill & Melinda Gates Stiftung hat AgriProtein außerdem Toilettenhäuschen in den Slums von Kapstadt aufgestellt. Sie verbessern die Hygiene vor Ort und liefern gleichzeitig Fäkalien als Nahrung für die Insektenzucht. Neben Soldatenfliegen beschäftigen die Drews auch Stuben- und Schmeißfliegen. Die Arten verwerten nicht nur unterschiedliche Abfälle, sie haben nachher auch verschiedene Proteinprofile für verschiedene Futtersorten.

Aus 110 Tonnen Abfall sollen so unter Mithilfe von zig Milliarden Fliegen 24 Tonnen Larven am Tag werden, und aus ihnen wiederum sieben Tonnen Mehl und drei Tonnen Öl. Nebenbei entstehen 20 Tonnen Düngererde. "Das sind 24 Tonnen Fisch pro Tag, die wir weniger fangen müssen", sagt Jason Drew, der schon vor der Gründung der Insektenzucht erfolgreicher Unternehmer war. "Wir recyceln also die Nährstoffe der Speisereste, die unsere Turbogesellschaft gedankenlos wegwirft, produzieren besten Dünger, und als Abfall kommt nichts als Wasser heraus. Damit schlagen wir im wahrsten Sinne mehrere Fliegen mit einer Klappe. Die industrielle Revolution ist vorüber, jetzt beginnt die Revolution der Nachhaltigkeit!"

Drew ist ein Mann großer Worte. Er hat ein Buch geschrieben: "Die Geschichte der Fliege und wie sie die Welt retten könnte". Und er hat angekündigt, bis 2020 zehn weitere Fabriken zu bauen – fünf davon in Europa. "Weltweit würde der Markt 2500 solcher Fabriken hergeben."

Manche Beobachter der Szene sind allerdings skeptisch: "Das größte Problem bei den Alternativen zum Fischmehl ist die Hochskalierung der Produktion", sagt der Aquakulturexperte Ulfert Focken. "Bislang produzieren Fliegenzüchter vielleicht einige Hundert Tonnen Mehl pro Jahr. Das ist angesichts eines weltweiten Futtermittelbedarfs in der Aquakultur von 40 bis 60 Millionen Tonnen nicht mehr als ein Fliegenschiss." In der Massenfabrikation erwartet er ungeahnte Schwierigkeiten, darunter Verunreinigungen durch Keime oder Chemikalien. Züchter selbst berichten, dass ihre Maden zu überhitzen drohen, wenn in einem Raum zu viele gleichzeitig fressen.

Auch deshalb lässt die EU die Option Insektenmehl in einem großen Forschungsprojekt namens PROteINSECT untersuchen: "Für den industriellen Maßstab brauchen wir noch einige Entwicklungsarbeit", sagt Projektleiterin Elaine Fitches von der staatlichen britischen Nahrungsmittelforschungsagentur Fera. Ende 2016 soll das Projekt abgeschlossen sein und eine entsprechende Empfehlung an die EU erfolgen.

Die Skalierung ist jedoch nicht das einzige Problem: Hinzu kommt, dass dem Insektenmehl – genau wie der vegetarischen Kost – bestimmte Omega-3-Fettsäuren fehlen. Weder Landpflanzen noch Fliegen stellen Docosahexaensäure (DHA) und Eicosapentaensäure (EPA) her. Sie stammen fast ausschließlich aus Algen, Fische reichern sie über die Nahrungskette im Körper an. Aber gerade diese Fettsäuren sind der Grund, warum viele Fisch essen. Sie gelten als besonders gesund für Herz und Hirn.

Es gibt Ansätze, auch dieses Defizit zu beheben. Am Naheliegendsten wäre, dem Pflanzen- oder Insektenmehl Algen beizumischen. "So leicht ist das aber nicht", sagt Focken. Denn die Algen müssen unter Sauerstoffausschluss trocknen, damit die Fettsäuren nicht oxidieren und damit wertlos werden. "Das ist sehr aufwendig. Um es zu umgehen, hat man versucht, konzentrierte flüssige Algenmasse beizumischen. Aber auch dafür gibt es noch keine praktikable Lösung."

Ein anderer Ansatz, DHA und EPA in die Zuchtfische zu bekommen, ist die Gentechnik. Die Lachsfarm Verlasso in Chile etwa arbeitet mit Hefen als Futterzusatz, die so manipuliert wurden, dass sie die gewünschten Omega-3-Fettsäuren produzieren. Beim Agrarforschungsinstitut Rothamsted Research in England hat man die entsprechenden Algengene in Leindotterpflanzen eingebaut. Futterversuche zeigen, dass ihr Öl dem Fischöl hinsichtlich der Fettsäuren ebenbürtig ist. Focken bezweifelt jedoch, dass sich der Ansatz durchsetzt. "Bei uns haben die Verbraucher zu große Vorbehalte. Aus meiner Sicht durchaus zurecht. Gelangt das veränderte Genmaterial in die Umwelt, wissen wir einfach nicht, was das für Folgen hat."

Der Aquakulturexperte glaubt daher, dass Fischmehl und -öl einstweilen noch unverzichtbar sind. "Wir sollten es aber effizienter nutzen, etwa indem wir in den frühen Lebensphasen der Fische nur das absolute Minimum einsetzen, das sie zum Wachsen braucht – vielleicht ein Prozent. In der Endmast laden wir sie dann mit höheren Anteilen von Fischmehl und -öl quasi auf, damit nachher alle gewünschten Nährstoffe in ihnen stecken und sie wie gewohnt nach Fisch schmecken."

Für die übrigen Mahlzeiten aber wäre Insektenmehl durchaus eine gute Option. Im Unterschied zur Vegetariervariante steht seine Erzeugung nicht in Konkurrenz zur direkten Nahrungsproduktion für den Menschen. Hinuz kommen die zwei Nebeneffekte Müllverwertung und Gewinnung organischen Düngers. "Praktisch gesehen scheint die Fliegenzucht bislang die interessanteste Proteinalternative zu sein", urteilt der Belgier Paul Vantomme von der Welternährungsorganisation FAO. "Jetzt fehlt nur noch die industrielle Größenordnung." Unternehmer wie Dirk Wessendorf und die Drew-Brüder in Südafrika halten sie für erreichbar. "Wenn ich Fliegenproteine für 1000 US-Dollar pro Tonne herstellen kann, dann sind wir so weit, die Meere zu retten", sagt Jason Drew. (bsc [1])


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