GPS – Der "magische Kompass" mit gewollter Ungenauigkeit

GPS ist ein Service der US-Luftwaffe. Doch ein Jahrzehnt lang amputierte sie es absichtlich. Lesen Sie, warum Sie Bill Clinton Ihr Frühstück verdanken.

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GPS in einem Flugzeugcockpit

(Bild: Daniel AJ Sokolov)

Lesezeit: 13 Min.
Inhaltsverzeichnis

Seit genau 20 Jahren profitiert die Welt von viel genaueren Signalen des GPS (Global Positioning System), die zuvor US-Militärs und bestimmten Verbündeten vorbehalten waren. Am 1. Mai 2000 befahl der damalige US-Präsident Bill Clinton, eine extra eingebaute Ungenauigkeit abzuschalten, was in den Morgenstunden des 2. Mai europäischer Zeit umgesetzt wurde.

Ab März 1990 hatte die US-Luftwaffe, die die GPS-Satelliten betreibt, mit dem öffentlich verfügbaren GPS-Signal absichtlich ungenaue Zeitangaben übertragen, um sich selbst den Vorteil genauerer Ortung mit dem verschlüsselten militärischen GPS-Funk zu schaffen. Das Konzept der absichtlichen Verschlechterung ist als "Selective Availability" (SA; selektive Verfügbarkeit) oder als "accuracy denial" (Genauigkeitsverweigerung) bekannt.

Mit Abschaltung von Selective Availability am 2. Mai 2000 sank die Abweichung schlagartig auf einen Bruchteil.

(Bild: US Space Command (gemeinfrei))

Mit der Abschaltung der SA erhöhte sich die Genauigkeit der binnen Minuten erzielbaren Ortsbestimmung schlagartig um den Faktor zehn. Waren zuvor Fehler von bis zu 100 Metern (horizontal) üblich, reduzierte sich das auf meist bis zu zehn, manchmal bis zu 20 Meter. Und diese verbliebenen Abweichungen waren keine Absicht, sondern vorwiegend durch Umweltbedingungen verursacht.

Hersteller von GPS-Empfängern, Luft- und Seefahrer, Militärs und einige andere "Insider" nahmen die lang ersehnte Nachricht von der SA-Abschaltung mit Begeisterung auf. Für die breite Öffentlichkeit war es nur bedingt ein Thema.

Faksimile - New York Times vom 15. Juni 2000

(Bild: NYT)

So berichtete die New York Times erst eineinhalb Monate später: "Pentagon lässt Zivilisten die besten GPS-Daten nutzen". Auf den benachbarten Seiten der Ausgabe vom 15. Juni 2000 wurde über Feldversuche mit Videostreaming zu Mobiltelefonen sowie die Hoffnung von Kurzfilm-Studios auf mehr Zuschauer im Internet berichtet. Ein ISP warb bei Unternehmen für den Umstieg von 56k-Einwählverbindungen auf DSL.

Langfristig haben die Auswirkungen der SA-Abschaltung die kühnsten Träume des Jahres 2000 übertroffen. Es dürfte heute auf der Erde mehr GPS-Empfänger geben als Menschen. Ganze Geschäftszweige sind neu entstanden, an die damals niemand gedacht hat, etwa ortsbasierte Dating-Apps, ortsbasierte Reklame oder Spiele wie Ingress und Pokemon Go.

Lieferketten wären ohne GPS unvorstellbar, von der gegebenen Qualität der Welternährung ohne Präzisionsackerbau ganz zu schweigen. Fast alle Lebensmittel, die wir heute einkaufen, haben mit Hilfe genauer GPS-Daten in den Laden gefunden.

Der GPS-Markt setzt jährlich hunderte Milliarden Euro um. Das Verfahren ist vielleicht sogar zu erfolgreich: Schon seit geraumer Zeit betrachtet das US-Ministerium für Heimatsicherheit die umfassende Abhängigkeit von GPS als Risiko für die nationale Sicherheit des Landes.

US-Präsident William Jefferson Clinton im Jahr 2001

(Bild: Helene C. Stikkel/DoD (gemeinfrei))

Warum Präsident Bill (William) Clinton SA vor 20 Jahren hat abschalten lassen, ist nicht abschließend geklärt. Bereits 1996 hatte er die "Akzeptanz und Integration von GPS in friedliche zivile, kommerzielle und wissenschaftliche Anwendungen weltweit" als Ziel ausgegeben. Das sollte auch private Investitionen ankurbeln, was ja durchaus geglückt ist.

1996 setzte Clinton eine Regierungskommission ein, und Washington beschloss, SA zehn Jahre später abzuschalten. Doch bereits vier Jahre später ist es dazu gekommen. Damals soll es, wenn die

stolzen Angaben des Weißen Hauses stimmen, über vier Millionen GPS-Benutzer weltweit gegeben haben.

Eine Theorie, warum Clinton im Mai 2000 SA hat abschalten lassen, bezieht sich auf Europas Pläne zur Installation eines eigenen Satellitennavigationssystems – das heutige Galileo, das vielleicht dieses Jahr endlich die volle Konstellationsstärke erreichen wird. Die US-Regierung wollte vermeiden, dass sich Europa mit einem eigenen System emanzipiert. Und einer der Gründe für das europäische Projekt war, der Selective Availability zu entkommen und bessere Ortung zu erreichen.

Eine andere Theorie sieht in der Abschaltung von SA einen Schachzug nach dem Motto Teile und Herrsche: Clinton wollte eine Keil zwischen die Teilnehmer der Weltfunkkonferenz 2000 in Istanbul treiben. Wieder andere meinen, die Verbesserung sei als Wahlhilfe für Clintons Vizepräsidenten Al Gore gedacht gewesen.

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GPS-Satelliten senden Signale mit sehr exaktem Zeitstempel aus. Der Empfänger kann errechnen, wie lange das Signal unterwegs war, und daraus ableiten, wie lange die vom Funksignal zurückgelegte Strecke war. Empfängt man Signale von mindestens vier GPS-Satelliten, deren Aufenthaltsort zum Sendezeitpunkt bekannt ist, kann man daraus die eigene Position errechnen. Bei Selective Availability sendeten die Satelliten absichtlich minimal falsche Zeitstempel. Schon Abweichungen von Sekundenbruchteilen führen zu ungenauen Ergebnissen.

Gore wollte US-Präsident werden und konnte im November 2000 auch die meisten Stimmen auf sich vereinen. Nach höchst umstrittenen Merkwürdigkeiten bei der Auszählung in Florida erhielt allerdings George W. Bush die meisten Wahlmännerstimmen und wurde Präsident. Die Parallelen zu US-Wahl vor bald dreieinhalb Jahren, als Clintons Gemahlin Hillary mehr Stimmen erhielt als Donald Trump, sind unübersehbar.

Natürlich gibt es noch weitere Vermutungen über Clintons Motive. Tatsache ist, dass Selective Availability zu einem absurden Theater mit enormen Kosten verkommen war. Einerseits mussten die Streitkräfte für spezielle GPS-Empfänger tief in die Tasche greifen, um nicht selbst unter SA zu leiden. Dafür wurden auch noch Jahre später Millionen budgetiert.

Gleichzeitig investierten das Verkehrsministerium und die Luftfahrtbehörde FAA jährlich Millionen, um SA entgegenzuwirken. Mit fixen Bodenstationen wurden Korrekturdaten berechnet, um insbesondere Frachtschiffe und Flugzeuge in die Lage zu versetzen, die absichtlichen Verschlechterungen durch SA auszugleichen.

Die Idee dahinter ist schnell erklärt: Wenn man schon genau weiß, wo man sich befindet, muss man die eigene Position nur mit der durch GPS berechneten vergleichen – und schon weiß man, welche Differenz man herausrechnen muss. Diese Information kann man dann mit Dritten in der Umgebung teilen, beispielsweise per Funk oder sonst über das Internet. Weil sich die SA-Fehler in einer Region nicht rasend schnell ändern, funktioniert dieses Differential-Verfahren recht gut.

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NASA

Während die USA mit einer Hand Geld für SA ausgaben, gaben sie mit der anderen Geld für Anti-SA aus. Nicht nur Clinton dürfte den Sinn dieses Haushaltsgebarens hinterfragt haben. Auffallend ist, dass von damals auch keine kritischen Stimmen zur SA-Abschaltung überliefert sind.

Differential-GPS wird übrigens auch heute noch angewandt, um jene kleineren Berechnungsfehler zu minimieren, die durch laufende Veränderungen in der Atmosphäre verursacht werden. Neben kommerziellen Anbietern stellt das International GNSS Service kostenlos Korrekturdaten bereit, die man beispielsweise mit der kostenfreien App PPP WizLite nutzen kann (ab Android Nougat). Android selbst unterstützt ab Android P präzise Ortung mit Differerential-GPS.

Clinton betonte am 1. Mai 2000, dass SA im Anlassfall regional wieder aktiviert werden könnte. Unklar ist, ob das je gemacht wurde. Großräumige Störungen sind jedenfalls nicht bekannt. Spätere US-Regierungen haben versichert, SA nie wieder einsetzen zu wollen. Die ab 2018 gestarteten GPS-Satelliten des dritten Blocks sollen gar nicht mehr in der Lage sein, SA-Störungen einzuspeisen.

US-Präsident George Walker Bush im Jahr 2006

(Bild: Shealah Craighead/Weißes Haus (gemeinfrei))

2004 hat allerdings Clintons Nachfolger George W. Bush Pläne für temporäre Abschaltungen von GPS ausarbeiten lassen. Im Dezember des Jahres bestätigte das Weiße Haus, dass Selective Availability nicht mehr genutzt werden würde – aber im Sinne der nationalen Sicherheit könnte der Präsident Teile des GPS-Systems überhaupt deaktivieren lassen.

Ein solcher Schritt dürfte heutzutage der US-Wirtschaft enormen Schaden zufügen, durchaus vergleichbar mit der Coronavirus-Pandemie. Zudem gibt es mit dem russischen Glonass, dem chinesischen BeiDou und dem europäischen Galileo Alternativen, die den Zweck einer GPS-Abschaltung unterwandern würden. Eine GPS-Abschaltung wäre absurd – was aber nichts beweist, wie die Geschichte zeigt:

So streuten GPS-Ortungen mit Selective Availability - ein Beispiel vom 1. Mai 2000.

(Bild: NOAA (gemeinfrei))

Selective Availability war am 25. März 1990 aktiviert worden. Am 2. August des Jahres brachten die USA den achten GPS-Satelliten des zweiten Blocks ins All. Damit stieg die Zahl aktiver GPS-Satelliten auf 14. Am selben Tag besetzte der Irak das Nachbarland Kuwait. Iraks Diktator Saddam Hussein sollte sich verkalkuliert haben.

Im Oktober und November 1990 starteten die USA, wie schon lange geplant, zwei weitere GPS-Satelliten. Damit war das Navigationssystem ab Dezember mit Einschränkungen einsatzfähig. Weil sich der Krieg bereits im Sommer 1990 abgezeichnet hatte, wurden für die im Herbst gestarteten GPS-Satelliten neue Umlaufbahnen programmiert. Das verbesserte die GPS-Abdeckung in der Golfregion, so dass Bodentruppen fast 24 Stunden am Tag, Kampfflugzeuge fast 18 Stunden täglich GPS nutzen konnten.

Die Chuzpe: Gerade im Krieg mussten die USA Selective Availability abschalten. Denn die US-Streitkräfte hatten zunächst nur 500 militärische GPS-Vorführgeräte zur Verfügung und musste sich mit zivilen Geräten aushelfen. Da kam SA ungelegen und wurde vorübergehend deaktiviert.

So wenig streuten Ortungen nach Abschaltung von Selective Availability - ein Beispiel vom 3. Mai 2000.

(Bild: NOAA (gemeinfrei))

Doch auch die zivilen Produktionskapazitäten reichten bei Weitem nicht aus, um die Truppen umfassend mit GPS-Geräten zu versorgen. Nicht wenige US-Soldaten sollen ihre Familien gebeten haben, GPS-Empfänger per Feldpost zu schicken. Die Furcht, irakische Soldaten könnten sich ebenfalls ausstatten, erwies sich als unbegründet.

Tatsächlich dürfte es an GPS gelegen haben, dass der Krieg 1990/1991 gegen den Irak dermaßen einseitig verlaufen ist. Die Amerikaner und ihre Verbündeten waren plötzlich nicht nur in der Lage, in der Wüste Haken zu schlagen ohne sich zu verlaufen. Sie konnten auch in Sandstürmen zielgerichtet angreifen. Davon waren die irakischen Streitkräfte völlig überrumpelt. Hinzu kam ein bescheidenes Arsenal GPS-gesteuerter Raketen. Nur 42 sollen eingesetzt worden sein, das aber mit Erfolg, nicht zuletzt psychisch und propagandamäßig.

Im Juli 1991, nach geschlagenem Golfkrieg, schaltete die Luftwaffe SA wieder ein. Während des Haiti-Feldzuges 1994 wurde SA noch einmal vorübergehend deaktiviert. Es sollte trotzdem noch sechs Jahre dauern, bis der SA-Unfug beendet wurde.

Der Golfkrieg hat in gewisser Hinsicht den Grundstein für den Erfolg von GPS auch außerhalb militärischer Belange gelegt. Neben US-Soldaten kehrte auch mehr als eine halbe Million Soldaten verbündeter Streitkräfte vom Schlachtfeld nach Hause. Sie brachten Geschichten über den "magischen Kompass GPS" mit nach Hause. Die beiden Kriegsjahre sahen auch einen sprunghaften Anstieg GPS-bezogener Patentanmeldungen.

Ende August 1991 gestatteten die USA generell den Export ziviler GPS-Geräte. Eine Woche später versprachen sie, das GPS-System ab 1993 auf kontinuierlicher Basis weltweit bereitzustellen – und zwar gebührenfrei für mindestens zehn Jahre. Bis heute ist von Gebühren keine Rede.

Wann GPS wirklich "fertig" war, ist eine Frage der Definition. Am 8. Dezember 1993 erklärte die US-Luftwaffe die "Initial Operational Capability" des GPS-Systems – diese "anfängliche Einsatzbereitschaft" bezog sich auf zivile Nutzung. (In dem Jahr waren übrigens die ersten GPS-Empfänger in der Größe von Computerchips vorgestellt worden.) Drei Monate später wurde der 24. GPS-Satellit des zweiten Blocks gestartet, womit die Satellitenkonstellation "vollständig" wurde. Am 17. Juli 1995 erklärte die Luftwaffe "Full Operational Capability" – das System hatte die Funktionstests der Militärs bestanden.

Auch die Anfänge von GPS sind nicht so deutlich festzumachen. Am 22. Februar 1978 wurde erstmals ein GPS-Satellit erfolgreich ins All geschossen. Die US-Streitkräfte hatten die konkrete Planung spätestens in den frühen 1970er-Jahren begonnen. 1972 wurden in der White Sands Missile Range in Neumexiko Tests mit zwei Empfänger-Prototypen durchgeführt, wobei Pseudo-Satelliten per Flugzeug über das Gebiet geflogen wurden. 1974 gelangte erstmals eine Atomuhr an Bord eines Satelliten ins All. Die sehr exakten Zeitangaben sind unbedingte Voraussetzung für die Funktionsweise von GPS, Galileo und Co.

Spätestens im selben Jahr, 1974, wurde das Systems ausdrücklich sowohl für militärische als auch zivile Nutzung konzipiert. Die Mär, US-Präsident Ronald Reagan habe GPS der zivilen Welt geschenkt, ist also nicht haltbar. Bereits zu Reagans Zeit gab es kommerziell verfügbare GPS-Empfänger, wenngleich sie sauteuer und alles andere als tragbar waren.

Schon in den 1960ern hatten Atom-U-Boote der Vereinigten Staaten Satellitenortungsexperimente durchgeführt, wobei sie bei sechs Satelliten auf polaren Umlaufbahnen Dopplereffekte ausnutzen. Arthur C. Clarke, Autor des von Stanley Kubrick als 2001: Odyssey im Weltraum verfilmten Romans, beschrieb die Idee eines satellitengestützten Ortungssystems bereits im August 1956 in einem Brief: "In vielleicht 30 Jahren (könnten drei Satelliten) ein Positions-Findungs-Grid ermöglichen, mit dem sich jeder auf der Erde selbst lokalisieren kann, durch ein paar Einstellungen auf einem Gerät der Größe einer Armbanduhr."

2001 - Odyssee im Weltraum (30 Bilder)

Für das erste Kapitel setzte Kubrick Frontprojektionen ein, bei denen der Hintergrund (Fotoaufnahmen aus Afrika) mit einem Beamer über einen halbdurchlässigen Spiegel auf eine besonders stark reflektierende Leinwand geworfen wird. In den Affenkostümen agieren Tänzer, die sich ein Jahr auf die Szenen vorbereiteten.
(Bild: Metro-Goldwyn-Mayer)

Man bedenke: Erst am 4. Oktober 1957, 14 Monate nachdem Clarke den Brief geschrieben hatte, startete die Sowjetunion den ersten Satelliten überhaupt: Sputnik. Die USA arbeiteten damals ebenfalls an einem künstlichen Erdtrabanten. Um diesen verfolgen zu können, hatten sie elf Bodenstationen über den Globus verstreut. Dieses "Minitrack"-Netz ging gerade einmal drei Tage vor Sputniks Start in Betrieb. So konnten die USA Sputnik genau verfolgen.

Der Gedanke, den Spieß umzudrehen, lag nahe: Wenn man mit Bodenstationen Satelliten verorten kann, müsste man doch auch mit Satelliten Bodenstationen verorten können...

Hinweis: 1 Satz wurde entfernt. Die Coronavirus-Tracing-Apps benötigen kein GPS. (ds)