Kontrollierter durch die Pandemie: Gensequenzierung kann helfen
Die genomische Überwachung von SARS-CoV-2 ermöglicht es, früh neue Varianten zu erkennen. Das hilft, effektivere Maßnahmen gegen die Pandemie zu ergreifen.
- Linda Nordling
Tulio de Oliveira wirkt einsam, als er über den Parkplatz des neuen 100 Millionen Dollar teuren biomedizinischen Forschungsgebäudes der Stellenbosch University schreitet. Es ist Anfang Januar, Hochsommer in Südafrika, und die meisten Studierenden und Angestellten sind im Urlaub. Aber nicht de Oliveira. Er telefoniert gerade mit dem Präsidenten des Landes, Cyril Ramaphosa.
Sie sprechen bereits zum zweiten Mal innerhalb von etwas mehr als einem Monat miteinander. Das erste Mal, nachdem de Oliveiras Genomsequenzierungslabor eine neue Covid-Variante entdeckt hatte. Heute haben sie ein anderes Thema – welches, darf Oliveira nicht verraten. Das Telefonat dauert schon eine Weile, und de Oliveira geht dabei auf und ab. Er ist, wie er von sich sagt, kein geduldiger Mensch. Aber dennoch genießt er, dass er mit seiner Wissenschaft direkten Einfluss auf die Politik hat.
„Die Pandemie hat die Art und Weise, wie Wissenschaft betrieben wird, verändert“, erklärt er mir, nachdem er seinen Anruf beendet hat. Die Wissenschaft geht schneller voran. Vor sechs Wochen hatte sein Team ein „etwas seltsames“ Gefühl, als sich in Gauteng, der bevölkerungsreichsten Provinz des Landes, plötzlich wieder Covid-Fälle häuften. Dieses ungute Gefühl löste eine Flut von Sequenzierungsaktivitäten aus. Nach nur einem Tag hatten sie die hochgradig übertragbare neue Variante, die jetzt Omikron genannt wird, identifiziert. Sie unterrichteten den Gesundheitsminister und den Präsidenten und verbrachten einen weiteren Tag mit der Überprüfung ihrer Arbeit. Dann, am 25. November, verkündete de Oliveira der Welt seine Entdeckung.
Die Entdeckung und Identifizierung der neuen Variante im November war eine wichtige Frühwarnung für den Rest der Welt. In kürzester Zeit wurden massive Anstrengungen unternommen, um herauszufinden, wie empfindlich die neue Variante auf die vorhandenen Covid-Impfstoffe reagiert und wie infektiös und tödlich sie ist. Auf politischer Ebene löste die Entdeckung Kampagnen für Auffrischungsimpfungen, neue Beschränkungen und Reiseverbote aus.
Boom bei der Sequenzierung von SARS-CoV-2
Die Ausbreitung von SARS-CoV-2 führte zu einer Lawine von Genomsequenzierungen in der ganzen Welt. Mehr als 7,5 Millionen Virus-Sequenzen wurden in die globale Datenbank GISAID hochgeladen – mehr als für irgendeinen anderen Krankheitserreger zuvor. Forschende haben Millionen von Sequenzen in Stammbäumen sortiert, um die Entwicklung des Virus zu verfolgen. Es wurde auch in Teilen der Welt sequenziert, in denen diese Technologie durch SARS-CoV-2 überhaupt erst angekommen ist. Das ganze Ausmaß der Möglichkeiten, die die flächendeckende Sequenzierung von Krankheitserregern eröffnet, wird sich vermutlich erst lange nach dem Abklingen der Pandemie zeigen.
Diese Flut von Daten über das Virus macht es inzwischen möglich, nahezu in Echtzeit zu verfolgen, wie es sich weiterentwickelt. Damit habe es auch das Zusammenspiel von Wissenschaft und Politik grundlegend verändert, sagt Sharon Peacock, Leiterin des britischen Covid-Genomik-Konsortiums von der Cambridge University. „Betrachtet man frühere Bedrohungen, so wurde die Sequenzierung als Forschungsinstrument eingesetzt, und zwar retrospektiv“, sagt die Mikrobiologin. „Jetzt sehen wir, dass Sequenzierungen praktisch verwertbare Informationen liefern können.“ So versuchen Forschende zu ermitteln, wie genetische Variationen des Virus sein Verhalten im Menschen beeinflussen – um seinen nächsten Schritt vorhersagen zu können.