Gewaltfreie Kommunikation: Konfliktlösung in agilen Teams

Wie lassen sich im Team Konflikte lösen – im besten Fall, bevor sie eskalieren? Dazu eignet sich laut Agile Coach Bettina Ruggeri die Gewaltfreie Kommunikation.

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(Bild: PHOTOCREO Michal Bednarek/Shutterstock)

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Inhaltsverzeichnis

In der agilen Teamzusammenarbeit können wie in jeder Lebenssituation Konflikte auftreten. Ein Ansatz für die erfolgreiche Lösung von Konflikten liegt in der Gewaltfreien Kommunikation (GFK), die sich erlernen und im Arbeitsalltag umsetzen lässt. Was es damit auf sich hat, welche Situationen besonders häufig zu Konflikten führen und wie sich Konfliktpotenzial bereits in seinen Anfängen entschärfen lässt, erklärt Bettina Ruggeri anhand ihrer langjährigen Erfahrung als Agile Coach im Interview mit heise Developer.

heise Developer: Frau Ruggeri, wie hat sich Ihrer Meinung nach der Wandel hin zur agilen Softwareentwicklung auf die Unternehmenskultur ausgewirkt?

Bettina Ruggeri: Da ist meines Erachtens noch gar nicht sehr viel passiert. Zwar hat der aktuelle State Of Agile Report gemeldet, dass 86 Prozent der Unternehmen agile Praktiken anwenden, jedoch ist das selten wirklich komplett nachhaltig. Im Idealfall wirkt sich agiles Arbeiten positiv auf die Unternehmenskultur aus, weil sich Unternehmen weiterentwickeln und dafür kurze Feedbackzyklen sehr hilfreich sind. Meiner Ansicht nach hat sich agiles Arbeiten deswegen so sehr verbreitet, weil das Silo-artige Arbeiten, in dem man nicht miteinander redet, wenig zu Erfolg beiträgt.

heise Developer: Die aus der Psychologie stammende Gewaltfreie Kommunikation (GFK) lässt sich in verschiedenen Bereichen einsetzen, darunter auch in agilen Teams. Was beinhaltet das Konzept und in welchen (organisatorischen) Situationen hat es sich bewährt?

Ruggeri: Marshall B. Rosenberg hat die Gewaltfreie Kommunikation vor einiger Zeit erfunden, er stammte aus der Schule der humanistischen Psychologie. Es handelt sich dabei allerdings um eine Sprache, die nicht auf die Psychologie oder Unternehmen begrenzt ist und keine "Psychologensprache" ist, sondern die GFK ist eine Sprache, die dem Leben dienlich sein kann, indem sie ein Bewusstsein darüber schafft, wie man mit sich selbst und anderen umgeht. Sie hilft dabei, zu erkennen, dass man miteinander auch schwierige Themen besprechen kann, ohne die Beziehung zu zerstören beziehungsweise mit schwierigen Themen die Beziehung gleichzeitig pflegen kann. Ich habe aus privaten Gründen damit angefangen, Gewaltfreie Kommunikation einzusetzen, und nutze sie inzwischen überall.

Die Gewaltfreie Kommunikation beinhaltet eine bestimmte Haltung: Man geht in ein Gespräch und ist neugierig, wie es dem anderen geht, und möchte Lösungen finden, die die Bedürfnisse von allen Beteiligten erfüllen. Dem liegt der Gedanke zugrunde, dass es nur miteinander geht und nicht gegeneinander. Dabei basiert alles auf Freiwilligkeit. Ein entscheidender Bestandteil von Gewaltfreier Kommunikation ist das Konzept der Empathie und der Selbstempathie: Bei der Selbstempathie kümmert man sich zunächst um sich selbst mitsamt seinen Gefühlen und Bedürfnissen. Die Sprache der Gewaltfreien Kommunikation ist eine Ausdrucksform, die sich durch Augenhöhe, Wertschätzung und Verbindung auszeichnet. 80 Prozent der Gewaltfreien Kommunikation nutze ich, um mich selbst zu reflektieren und herauszufinden, wie es mir geht und warum ich auf einen bestimmten Umstand auf eine bestimmte Weise reagiere – dann kann man schauen, was man braucht, damit es einem selbst gut geht, und gewaltfreier nach außen kommunizieren.

Grundsätzlich erlernen kann die Gewaltfreie Kommunikation jeder, manche brauchen dafür mehr und manche weniger Zeit. Allerdings kenne ich Personen, die ihr ablehnend gegenüberstehen, weil sie sie ähnlich wie NLP (Neuro-Linguistisches Programmieren) als manipulativ erleben.

Team Up! – Gewaltfreie Kommunikation und effektive Teamführung

Am 31. März 2022 richten heise Developer und der Heidelberger dpunkt.verlag die Online-Konferenz Team Up! aus – denn Teams entwickeln sich nicht von allein. Die Konferenz richtet sich an Führungskräfte, Verantwortliche in Projektteams, HR-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter sowie Personen in agilen Rollen.

Die Experten bieten in sechs Vorträgen und einem Kurzworkshop Tipps und Anregung, wie Teams ihre Ziele klar definieren und umsetzen – damit die Lösungsansätze zum Team passen und auch in der Praxis greifen.

Auszug aus dem Programm:

Kurzworkshop

heise Developer: Wie kann man bei einem konkreten Konflikt vorgehen, beispielsweise wenn eine Person im beruflichen Kontext ein unerfĂĽlltes Anliegen hat?

Ruggeri: Die Basis ist ein Vier-Schritte-Modell: Beobachtung, Gefühl, Bedürfnis, Bitte. Diese vier Schritte sind klar definiert. Eine Beobachtung ist etwas, das keine Interpretation ist. Ein Gefühl ist kein Gedanke, sondern eine körperliche Reaktion. Gefühle entstehen, weil wir Gedanken haben. Sie entstehen nicht, weil eine Person etwas zu einer anderen sagt, sondern weil man die Worte auf gute oder schlechte Weise interpretiert und sich dementsprechend fühlt. Gefühle sind ein Hinweis darauf, ob ein Bedürfnis erfüllt ist oder nicht.

Bettina Ruggeri ist zertifizierter Coach (CAC Scrum Alliance), Path-to-CSP Educator und agile Leader (CAL Scrum Alliance). Sie arbeitet als Systemischer Coach, Mediatorin, Team-Coach und Trainerin für Gewaltfreie Kommunikation und besitzt mehr als 15 Jahre praktische Erfahrung im Einsatz von Scrum, Kanban, Skalierung mit LeSS und agilen Methoden. Mit agile-living möchte sie sich den Traum verwirklichen, Menschen und Unternehmen dabei zu unterstützen, Strategien zu entwickeln, welche die Bedürfnisse aller Beteiligten berücksichtigen, und damit nachhaltige Erfolge zu erzielen.

In einer Konfliktsituation ist auch die Bitte ein wichtiges Element, weil Menschen gut darin sind, anderen zu sagen, was sie nicht wollen. Sie sagen aber selten, was sie wollen. Manchmal sagen Leute ein bisschen, was sie wollen, aber trauen sich nicht, auf das Optimum zu gehen, um das Label "Egoist" zu vermeiden. Dadurch entsteht viel Leid. Wenn alle Menschen ihre Wünsche verbalisieren würden, gäbe es eine viel höhere Chance, dass sie eintreten. Der GFK liegt das Menschenbild zugrunde, dass Menschen gerne zu etwas beitragen, wenn sie es können. Wenn man eine Bitte an jemanden hat, ist ein "Nein" zunächst willkommen. Dann kann man herausfinden, welches Bedürfnis sich diese Person mit dem "Nein" erfüllt, und wie sich vielleicht Lösungen finden lassen, die zu einem neuen "Ja" führen.

Auch betrifft ein Konflikt stets das ganze Team. Manche Personen möchten sich nicht einmischen, haben Angst vor Konflikten oder sagen "das geht mich nichts an". Doch jeder Konflikt, der in einem Team geschieht, hat auf alle Teammitglieder Auswirkungen. Wenn man nichts tut, leidet sowohl die eigene Arbeit als auch die Zusammenarbeit des ganzen Teams.

heise Developer: Wie überall kann es auch innerhalb eines (agilen) Entwicklerteams zu zwischenmenschlichen Konflikten kommen. Welche Maßnahmen zur Konfliktlösung lassen sich innerhalb eines Teams selbst beziehungsweise von einer Teamleiterin oder einem Teamleiter ergreifen, bevor eine neutrale Person hinzugezogen wird?

Ruggeri: Da gibt es keine allgemeingültige Antwort. Es ist wie oftmals vom Kontext abhängig. Beispielsweise kommt es auf den Reifegrad eines Teams an: Wenn ein Team schon etwas Erfahrung im Umgang mit Konflikten hat, dann ist es sinnvoll, wenn es einen Konflikt selbst zu lösen versucht. Wenn das Team Hilfe braucht, dann sollte die Führungskraft dem Team die Hilfe anbieten. In manchen Konflikten ist allerdings die Führungskraft selbst Teil des Konfliktes, dann ergibt es keinen Sinn, wenn sie den Konflikt moderiert.

Was bedeutet Konflikt eigentlich? Dabei handelt es sich um eine Ist-Soll-Diskrepanz, im Sinne von "Du brauchst etwas anderes als ich". Im Arbeitsleben entstehen tagtäglich solche Ist-Soll-Diskrepanzen, jedoch arten nicht alle in einen schwerwiegenden Konflikt aus.

Wie geht man nun mit dieser Ist-Soll-Diskrepanz um? Eine gute Orientierung für Menschen, die bei Konflikten unterstützten möchten, sind die neun Stufen der Konflikteskalation von Friedrich Glasl, einem bekannten österreichischen Konfliktforscher. Die ersten drei Stufen sind die, die jeder Mensch ständig im Alltag erlebt: Am Anfang hat man eine heftige Diskussion – es geht hin und her, und die Meinungen verhärten sich. Bei der dritten Stufe möchten die Beteiligten gar nicht mehr miteinander reden, da sie es nicht mehr als sinnvoll erachten. Nach der dritten Stufe geht es so weiter, dass man polarisiert und sich Leute holt, die einen unterstützen und die gleiche Meinung vertreten. Das steigert sich bis zur höchsten Konfliktstufe 9, in der man sagt: "Ich werde dafür sorgen, dass du untergehst, und es ist mir völlig gleich, ob ich selbst mit untergehe. Dann gehen wir beide unter."

Es gibt eine Regel, die besagt, dass Personen in den ersten drei Konfliktstufen ihren Konflikt noch ganz gut selbst lösen können, unter Umständen mithilfe einer neutralen Moderation. Ab der vierten Stufe braucht es eine Mediation und ab der siebten Stufe ist ein Coaching nötig, damit die Personen wieder mediierbar werden.

heise Developer: Welche Vorgehensweisen können dazu beitragen, auch in Spannungssituationen eine Gewaltfreie Kommunikation zu erreichen?

Ruggeri: Zwischen Reiz und Reaktion gibt es einen ganz kleinen Moment, den man trainieren muss. Man muss auch anfangen, seine Trigger gut zu kennen. Dann weiß man, wenn ein bestimmter Knopf gedrückt wird, wird man wahrscheinlich ziemlich schnell hochgehen. Wenn eine solche Situation eintritt, kann man sich eine kurze Auszeit nehmen und reflektieren, was gerade mit einem passiert – und dann die vier Schritte der Gewaltfreien Kommunikation anwenden: Indem man seine Beobachtungen mitteilt, ohne zu bewerten. Indem man sagt, wie es einem damit geht, welche Bedürfnisse man gerade hat, und welche Bitte man an den anderen richtet. Oder man sagt "Ich habe da etwas beobachtet und vermute, dass das etwas bei dir auslöst", und fragt den anderen nach seiner Bitte. Im Grunde geht es darum, die Menschen da abzuholen, wo sie sind – ohne sie zu bewerten oder zu verurteilen, sondern mit Empathie für sich selbst und andere.

heise Developer: Die Gründe für Konflikte können vielfältig sein – aber womöglich haben sich in Ihrem Arbeitsalltag bestimmte wiederkehrende Konfliktherde in Softwareentwicklungsteams herauskristallisiert. Welche sind das und wie können sich diese bereits in ihren Anfängen entschärfen lassen?

Ruggeri: Jede Veränderung in einem Team birgt Konfliktpotenzial. Die Gruppendynamik verändert sich, Mitarbeiter müssen sich neu zurechtrücken und Platz machen für Neuzugänge. Diese müssen sich in ein System einfinden, das sie noch nicht kennen. Das führt zwangsläufig zu Konflikten. Früher war die Meinung verbreitet, Teams möglichst nicht zu verändern. Das funktioniert meiner Meinung nach nicht, denn Veränderungen sind unvermeidbar: Leute bekommen Kinder, ziehen um, gehen in Rente oder wechseln den Arbeitsplatz.

Daher sollte der Fokus darauf liegen, Teams dafür fit zu machen, mit diesen Veränderungen leichter umzugehen. Beispielsweise sollten Neuankömmlinge Informationen erhalten, um sich sicher zu fühlen. Informationen helfen dabei, sich zu orientieren und im Team einzufinden. Auch psychologische Sicherheit ist wichtig: Menschen brauchen Räume, in denen sie sich trauen können, sich zu zeigen. Es ist ein Irrtum, zu glauben, dass Menschen zur Arbeit gehen und ihre Emotionen an der Tür ablegen und professionell sind – man ist auch bei der Arbeit immer als ganzer Mensch dort. Der Arbeitsplatz und die Teams sollten sich so entwickeln, dass alle Menschen, die sich dort aufhalten, als gesamter Mensch sichtbar werden können.

heise Developer: Apropos gesamter Mensch: Was hat sich Ihrer Meinung nach durch das pandemiebedingt verbreitete Remote-Arbeiten verändert? Inwieweit erschwert die per Text und Videoanrufe durchgeführte Kommunikation, sich zu zeigen?

Ruggeri: Das ist je nach Person unterschiedlich. Mir fällt das Remote-Arbeiten sehr leicht, ich bin seit Anfang der Pandemie zu 100 Prozent im Homeoffice und führe ständig Coaching-Gespräche durch. Diese erfordern sehr viel Vertrauen und auch Nähe. Allerdings sind Menschen soziale Wesen und Körpersprache ist für uns ein unglaublich wichtiges Gut. In einer Videokonferenz sieht man nur einen Ausschnitt einer Person und erhält daher weniger Informationen. Auch wenn die Videoverbindung schlecht ist oder Personen ihre Kamera nicht einschalten, fehlen uns weitere Informationen, denn 75 Prozent unserer Sprache laufen über Mimik ab. Beispielsweise habe ich meine Kamera so eingestellt, dass ich nahezu den Eindruck von Blickkontakt erzeugen kann. Dass es in Teams mehr oder weniger Konflikte seit dem Remote-Arbeiten gibt, kann ich allerdings nicht feststellen.

Auch in einem remote arbeitenden Team braucht es immer wieder persönliche Begegnungen. Ich bin ein Fan von Remote-mit-Barcamp-Kombinationen mit persönlichen Begegnungen nach beispielsweise zwei Monaten des Remote-Arbeitens. Diese müssen sowohl auf beruflicher Ebene als auch bis zu einem gewissen Grad auf persönlicher Ebene stattfinden und formellen sowie informellen Austausch ermöglichen. Das ideale Verhältnis zwischen persönlichen Begegnungen und Remote-Arbeiten muss jedes Team für sich selbst herausfinden.

heise Developer: Möchten Sie abschließend unseren Leserinnen und Lesern etwas mit auf den Weg geben?

Ruggeri: Wie erwähnt, ist es wichtig, dass neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Informationen und Orientierung erhalten, um gut anzukommen. Auch sind Reflexionsräume wichtig, in denen Personen sich begegnen, Fragen stellen können und sagen können, was sie stört – unter Umständen mit begleitender Moderation. Solche Initiativen können dazu beitragen, dass Konflikte nicht eskalieren, weil sie schneller sichtbar werden. Konflikte an sich sind etwas normales.

heise Developer: Vielen Dank für das Gespräch!

Das Interview führte Maika Möbus, Redakteurin bei heise Developer.

(mai)