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Gig Economy bei Foodora und Deliveroo: Die Folgen der Arbeitsorganisation mit Apps

Torsten Kleinz
Gig Economy bei Foodora und Deliveroo: Folgen der Arbeitsorganisation mit Apps

Foodora-Lieferradler in Berlin.

(Bild: dpa)

Wissenschaftler haben die Auswirkungen der neuen Arbeitsorganisation vor allem für Mitarbeiter anhand von Essenslieferdiensten untersucht.

In der sogenannten Gig Economy sind die Arbeitnehmer oft auf sich alleine gestellt – sie stehen in der Regel nur per App mit ihren Auftraggebern in Kontakt. Eine App ist Werkzeug und Überwachungs-Tool zugleich. Eine aktuelle Studie im Auftrag der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung zeigt: Die Apps versprechen den Arbeitnehmern neue Freiheiten, üben aber auch eine ungeahnte Kontrolle aus.

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Die neuen Essensplattformen haben zumindest in deutschen Großstädten bereits das Stadtbild verändert. Nicht nur sind die Fahrer der Lieferdienste mit ihren neonfarbenen Essensrucksäcken gerade mittags und abends zu Tausenden auf den Straßen unterwegs – immer mehr Restaurants spezialisieren sich auf die Lieferungen. Auch der Büroalltag ändert sich: Statt gemeinsam in die Mittagspause zu gehen, wird stattdessen in vielen Büros der Online-Bestellzettel herumgereicht. Einfach alle Gerichte auf einem Online-Formular zusammenfassen, abschicken und wenig später steht ein Radfahrer mit dem gewünschten Essen vor der Tür.

Wie dieses Geschäft genau organisiert ist, haben Soziologinnen zusammen mit Juristinnen der Europa-Universität Viadrina anhand der Essenslieferdienste Foodora und Deliveroo überprüft. Zentrale Erkenntnis der Studie [2]: Die Apps sind inzwischen ein zentraler Faktor des Plattformgeschäfts und bestimmen den Arbeitsalltag der Mitarbeiter. Die Fahrer sehen eher ihre Chefs selten oder sind in den Büros der Internet-Firmen wenig anzutreffen. Stattdessen läuft fast die gesamte Kommunikation und Organisation über die Apps, die die Unternehmen ihren Fahrern zur Verfügung stellen.

Beide Anbieter haben dabei gegensätzliche Ansätze. Während Foodora seine Fahrer sozialversicherungspflichtig unter Vertrag nimmt und sie per Stunde bezahlt, setzt Deliveroo auf ein System freier Unternehmer, die auf eigene Rechnung das Essen ausfahren. Die Entscheidung, welches System für die Fahrer einträglicher ist, ist dabei nicht pauschal im Voraus zu beantworten. Deliveroo-Fahrer erhalten in Berlin pro Lieferung 5 Euro und können sich insbesondere zu Stoßzeiten in lukrativen Gegenden ein einträgliches Auskommen sichern. Die Foodora-Angestellten hingegen erhalten etwas mehr als den Mindestlohn – gehen dafür aber nicht leer aus, wenn Auftragsflaute herrscht oder sie in einer wenig lukrativen Schicht eingeteilt werden.

Zentrales Management-Problem beider Anbieter ist es, so viele Fahrer auf die Straße zu bekommen, wie gerade benötigt werden. Ein Mittel dafür sind die Apps [3]. Die Fahrer müssen jeden einzelnen Arbeitsschritt von der Annahme des Auftrags über die Entgegennahme des Essens bis hin zur tatsächlichen Übergabe an den Kunden per App dokumentieren – über die GPS-Funktion sind zudem die Bewegungsprofile der Fahrer transparent. Zudem kontrollieren die Plattformen über ihre Apps die komplette Kommunikation. Zumindest zum überwiegenden Teil: Lokal organisieren sich die Fahrer zuweilen selbst über Chat-Gruppen und Betriebsräte.

Wie Gespräche der Forscher ergeben haben, schätzen die Fahrer den friktionslosen Alltag ohne Meetings oder Chef-Kontakte. Insbesondere Deliveroo bietet seinen Fahrern weitgehende Freiheiten. Die Fahrer können sich kurzfristig entschließen, mehrere Monate keine Schicht zu übernehmen – oder parallel für andere Lieferdienste arbeiten. Wenn alles gut läuft, sind die Fahrer mit dem System recht zufrieden, da es ihnen mehr Kontrolle über die Arbeitszeit lässt als viele andere Jobs. Für Deliveroo sind diese Freiheiten dringend notwendig: Würden die Behörden die Fahrer als weisungsgebundene Scheinselbständige einstufen, müsste das Unternehmen Sozialversicherungsbeiträge zahlen.

Kontrolle können die Plattformen dennoch ausüben. Sie bestimmen, welche Fahrer die erste Wahl bei den verfügbaren Schichten bekommen. Aufgrund von Erfahrungswerten können die Fahrer recht schnell herausfinden, wo sich Schichten besonders lohnen. Die Fahrer sind also motiviert, sich im Angesicht der Algorithmen als besonders effektiv zu präsentieren.

Die Forscher kritisieren dabei, dass den Lieferfahrer hierbei bestimmte Informationen vorenthalten werden. Sie können vor einer Auftragsannahme noch nicht sehen, wohin genau eine Lieferung geht. Fahrer können sich daher nicht die trinkgeldfreudigsten Kunden mit kurzer Anfahrt heraussuchen. Gleichzeitig haben die Fahrer auch weniger Kontrolle über ihre Arbeitswege. Die Kriterien, wonach die Fahrer bewertet werden, sind zumindest nicht ganz transparent.

Die Fahrer stehen somit in einem Wettbewerb zueinander, ohne genau zu wissen, in welchen Punkten sie sich gegenseitig übertreffen sollen. Dies steht laut Studie in direktem Kontrast zum Status als Unternehmer. Dem Fahrer fehle schließlich entscheidende Informationen für eine rationale unternehmerische Entscheidung.

Zumindest laut Foodora stellt sich die derzeitige Situation noch anders dar. Denn für einen internen Konkurrenzkampf fehlt es der Plattform schlicht an Fahrern, wie das Unternehmen im Gespräch mit heise online klarstellt. Die App sei auch im derzeitigen Zustand nicht die zentrale Schaltstelle, so wie sie von den Forschern dargestellt wurde.

"Es sind bisher noch viele Kommunikationsprozesse jenseits der App notwendig", sagt Foodora-Sprecher Vincent Pfeifer im Gespräch mit heise online. Die Restaurants seien oft die Arbeit mit den Apps nicht gewohnt und orderten einen Fahrer zum Abholen, noch bevor mit dem Kochen begonnen wurde. Auch tauchten einige Fahrer schlichtweg nicht zu ihren gebuchten Schichten auf. Einfach die Gehälter der Fahrer zu erhöhen, sei momentan nicht möglich – so macht Foodora derzeit noch Verluste mit seinem Liefermodell.

Folge: Die Mitarbeiter in den Büros müssten herumtelefonieren, um die Lieferungen wieder zu organisieren. Im schlimmsten Fall muss die Plattform auf Nachfrager-Seite die Notbremse ziehen. Wenn keine Fahrer zur Verfügung stehen, bekommen die Kunden nur den Pick-Up-Service angeboten. Ihr Essen müssen sie dann selbst abholen. Die Gig-Ökonomie funktioniert nur so weit, wie es Arbeitnehmer gibt, die "Gigs" suchen.

Siehe dazu auch:

(anw [5])


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https://www.heise.de/-4285433

Links in diesem Artikel:
[1] https://jobs.heise.de?wt_mc=intern.newsticker.dossier.jobs
[2] https://www.boeckler.de/117819_117902.htm
[3] https://www.heise.de/thema/Apps#liste
[4] https://www.heise.de/news/Deutsche-Bahn-Apps-fuer-Mitarbeiter-statt-Zettelwirtschaft-4192573.html
[5] mailto:anw@heise.de