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Google Docs: Die Plattform des Protests

Tanya Basu
Google Docs – die Plattform des Protests

(Bild: MicroOne/Shutterstock.com)

Einfache Bedienbarkeit und schneller Zugriff haben das Online-Office des Suchmaschinenriesens zum Werkzeug der Stunde für Aktivisten gemacht.

In der Woche, nachdem George Floyd in Minneapolis durch einen örtlichen Polizisten um sein Leben kam, sind Hunderttausende Menschen auf die Straße gegangen und haben sich den weltweiten Protesten angeschlossen. Ihre Forderungen sind bekannt: ein Ende von Polizeigewalt, Alltagsrassismus und endlich mehr Gerechtigkeit unter den Bevölkerungsgruppen.

Aber eines der entscheidenden Werkzeuge für die Organisation der Proteste mag überraschen. Es handelt sich nicht etwa um eine spezielle Verschlüsselungssoftware, ein Spezialwerkzeug für Aktivisten oder ein soziales Netzwerk. Nein, besonders beliebt war bei den "Black Lives Matter"-Protesten eine Low-Tech-Lösung: Googles Cloud-Textverarbeitung Google Docs [1].

Kurz nach Beginn der Proteste hat sich Google Docs zu einer Plattform gemausert, über die alles geteilt werden kann: von Literatur zu Rassismus über Vorlagen für Briefe an Familienmitglieder, die die Protestbewegung womöglich nicht verstehen, bis hin zu Protestschreiben an Politiker oder Listen von Stiftungen und Vereinen, die Spenden annehmen. Geteilte Google Docs, die jeder anonym lesen und bearbeiten kann, sind zu einem wertvollen Werkzeug für basisdemokratische Organisation geworden – sowohl im Hinblick auf das Coronavirus als auch bei mittlerweile weltweit stattfindenden Protesten gegen Polizeigewalt.

Das ist nicht neu. Tatsächlich nutzen Aktivisten und Kampagnen-Veranstalter das Textverarbeitungsprogramm seit Jahren als ein weitaus effizienteres und zugänglicheres Aktivierungsmittel als Facebook oder Twitter. Aber in diesem Umfang zeigte sich das noch nie: Ein Werkzeug wird politisiert.

Google Docs gibt es seit Oktober 2012. Das Programm erfreute sich schnell großer Beliebtheit, nicht nur, weil Google-Accounts zu dem Zeitpunkt bereits weit verbreitet waren, sondern auch, weil es mehreren Nutzern ermöglicht, zeitgleich zusammenzuarbeiten und Dokumente zu bearbeiten. Platzhirsch Microsoft Word hatte endlich richtig Konkurrenz.

Genutzt wurde Google Docs immer schon über simple Texterstellung hinaus. Jugendliche etwa haben die Software schon verwendet, um untereinander Mitschriften zu öden Seminaren auszutauschen. Kürzlich erst, im Zuge der Pandemie, wurden Google-Docs-Dokumente vielfach geteilt, um Menschen bei der Stressbewältigung im Lockdown-Zustand zu unterstützen. Der Aufruf, Zuhause zu bleiben, führte zu einer Reihe von Wohlfühl-Ratschlägen auf der Plattform – von der "New York Times", die Gedanken von Aktivisten und Journalisten auf diesem Weg veröffentlichte ("Notes from Our Homes to Yours") zu virtuellen Escape-Rooms. Bei Google Docs gab es auf Distanz durchgeführte Comedy Shows, gemeinsam entwickelte und zu lösende Kreuzworträtsel und gemeinschaftliche Einkaufslisten für Menschen in Not.

Schon als es bei der US-Präsidentschaftswahl im Jahr 2016 zu einer rasant ansteigenden Verbreitung von Falschinformationen im Internet kam, entwickelte Google Docs sich zu einem politischen Mittel. Melissa Zimdars, Assistant Professor of Communication am Merrimack College, nutzte die Software zur Erstellung eines 34-seitigen Dokuments mit dem Titel: "False, Misleading, Clickbaity-y, and/or Satirical 'News' Sources", um Fake-News-Schleudern aufzudecken.

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Zimdars inspirierte damit einen Anstieg an Google-Docs-Dokumenten mit politischem Inhalt, geschrieben von Akademikern, die bei den Midterms 2018 darin eine niedrigschwellige Möglichkeit sahen, Wahlkampf für die liberalen Demokraten zu machen. Auch nach der Wahl wurde Google Docs weiterverwendet, um gegen Einwanderungsverbote zu protestieren und die #MeToo-Bewegung voranzutreiben.

Nun, in Folge von George Floyds Tötung am Memorial-Day-Wochenende, nutzen Gruppen die Software, um sich zu organisieren. Eines der am meisten abgerufenen Google Docs der letzten Woche ist das Dokument "Resources for Accountability and Actions for Black Lives", indem klare Schritte angegeben werden, die Menschen unternehmen können, um Opfer von Polizeigewalt zu unterstützen. Organisiert wurde die Zusammentragung von Carlisa Johnson, eine 28-jährige Journalismus-Masterstudentin der Georgia State University. Sie entwarf das Google Doc unmittelbar nach George Floyds Tod, doch entsprechende Quellen hatte sie schon nach dem Tod von Ahmaud Arbery begonnen zu sammeln.

Arbery wurde im Februar von einem Vater und Sohn getötet, die erst im Mai festgenommen wurden, als ein Video des Vorfalls an die Öffentlichkeit geriet. "Ich betreibe das [das Teilen von Links als Handlungsanweisung] seit 2014, in meinem eigenen Familien- und Freundeskreis", sagt Johnson. Sie hatte zuvor noch nie so ein öffentliches Google Doc kreiert, wählte die Plattform aber vor Facebook und Twitter, weil sie so leicht zugänglich ist: "Hyperlinks sind die kürzesten und knappsten Wege, um an Inhalte zu gelangen, und auf Facebook oder Twitter geht das nicht. Wenn es heißt, dass man seinen Abgeordneten kontaktieren soll, dann wissen viele Leute nicht, wie das geht." Direkte Links zu Google Docs erleichtere es Menschen sehr, sich einzubringen.

Ein anderes viral gegangenes Google Doc, das in Folge von George Floyds Tötung mit einer Liste von Ressourcen und Organisationen, die Spenden akzeptieren, aufgekommen ist, wurde von einem unbekannten Aktivisten erstellt, der als Indigo bekannt ist, sein Geschlecht als non-binär identifiziert und das Pseudonym verwendet, um sich nicht vor seiner Familie zu outen. Indigo sagt, dass der einfache Zugang und die Bearbeitung in Echtzeit die Hauptvorteile von Google Docs gegenüber Social Media darstellen: "Es ist mir wichtig, dass Menschen an der Basis Zugang zu diesem Material haben, insbesondere die, denen es an rechtlicher Beratung fehlt, an Beistand im Gefängnis." Google Docs sei das Medium, das alle, mit denen ich sie sich organisiert habe, nutzen – und viele andere.

Genau wie Johnson hat auch Indigo Ressourcen gesammelt nach Floyds Tötung – "Unmengen an Links mit Lesezeichen versehen und mir selbst gemailt" – und bemerkt, dass er einfach "nicht mehr hinterherkam." Das schien anderen auch so zu gehen. Indigo war frustriert mit Twitter, obwohl auch er fand: "Wenn man etwas selten Phänomenales findet, muss man es in dem Moment retweeten, liken, oder teilen – ansonsten ist es für immer weg." Google Docs wird so zum Archiv.

"Was Google Docs so besonders macht im Vergleich zu einem Newsfeed ist die Beständigkeit und Bearbeitbarkeit", sagt Clay Shirky, stellvertretender Institutsleiter für Bildungstechnologie an der New York University. 2008 schrieb Shirky das Sachbuch "Here comes Everybody: The Power of Organizing Without Organisations", in dem er darstellt, wie das Internet und soziale Medien moderne Protestbewegungen geformt haben. Shirky meint, dass obwohl soziale Medien gut darin sind, um Inhalte zu verbreiten, sie sich doch als deutlich weniger effizient erweisen, eine stabile Sammlung an Informationen bereitzustellen, zu der ein Nutzer zurückkehren kann.

Was Google-Docs-Texte so besonders attraktiv mache, sei, dass sie sowohl dynamisch als auch stabil in einem sind. Sie sind editierbar und können gleichzeitig auf unzähligen Bildschirmen betrachtet werden, aber sie sind auch einfach zu Teilen über Tweets oder Posts. "Die Menschen wollen ein beständiges Artefakt", sagt Shirkey. "Wenn Sie Teil eines aktionenorientierten Netzwerks sind, dann brauchen Sie einen Gegenstand, über den sie sich mit Menschen koordinieren können, die nicht Teil des Austauschs und der Plattform sind, die sie benutzen." Raus aus dem Feed, heißt hier die Devise.

Doch während Google Docs einfach zu nutzen und Dokumente leicht zu teilen sind, bleibt die Frage offen, wie privat Nutzer sich dort aufhalten können. Demonstranten haben begonnen, ihr Handy nur im Flugmodus zu nutzen, sodass ihre Daten und Ortsinformationen nicht verfolgt werden können, neben der Verschleierung von weiteren identifizierenden Merkmalen. Signal, eine Messenger-App mit der Nachrichten verschlüsselt gesendet und empfangen werden können, ist eine der am häufigsten heruntergeladenen Apps der letzten Wochen. Sensible Daten in einem öffentlich einsehbaren Dokument anzugeben könnte sich derzeit riskant anfühlen. "Da haben wir sicher Bedenken", sagt Aktivistin Johnson.

Als sie das Dokument erstmalig erstellte, betitelte sie sich selbst als "C. Johnson", um nicht so leicht identifizierbar zu sein. Doch als sie erkannte, dass sie eine wichtige Rolle zu übernehmen hatte, schrieb sie ihren Namen aus, schließlich will sie sich als schwarze Frau kenntlich machen. "Viele sind in der Lage, mehr zu riskieren", sagt sie, und fügt hinzu, dass Bedenken um die Privatsphäre nicht so bedeutsam seien wie die Notwendigkeit von Aktivismus. Indigo hat einen ähnlichen Gedanken: "Die Bedrohung, gehackt zu werden ist real, insbesondere weil Google Docs kostenfrei ist und so gar nicht geschützt. Ich habe Back-up-Dokumente und alle Vorkehrungen getroffen, die mir möglich waren."

Shirky sagt, dass es eine weit verbreitete Fehlannahme sei, dass Demonstranten sich als Privatperson vorm Staat schützen wollten. "Den meisten geht es um Aktivismus, nicht um Privatsphäre", sagt er.

(bsc [3])


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