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Großhirnrinde aus Silizium

Emily Singer

Elektronische Modelle unseres Denkapparats, die mit Hilfe spezieller Prozessoren entstehen, könnten unser Verständnis für die Abläufe im Gehirn deutlich verbessern.

Forscher an der Stanford University arbeiten derzeit an einem ambitionierten Projekt: Sie wollen unsere Großhirnrinde in Silizium nachbilden. Dieses vom Menschen gemachte Gehirn könnte der Wissenschaft helfen, zu ergründen, wie der evolutionsbiologisch jüngste Teil unseres Denkapparats komplexe Aufgaben erledigt – und uns Sprache verstehen, Gesichter erkennen und unseren Tag strukturieren lässt.

"Unser Gehirn erledigt diese Dinge auf technisch wie konzeptionell einzigartige Weise – es kann Probleme spielend lösen, die für die größten und modernsten digitalen Maschinen bislang nicht zu knacken sind", sagt ProfessorRodney Douglas [1] vom Zürcher Institut für Neuroinformatik, der das Stanford-Vorhaben kennt. Man könne nur dann ein vertieftes Verständnis für diese Vorgänge entwickeln, wenn man versuche, sie in Hardware nachzubauen.

Hirnzellen kommunizieren untereinander mit zahlreichen elektrischen Impulsen. Chemische Signale verändern dann die elektrischen Eigenschaften einzelner Zellen kurzerhand, was wiederum elektrische Veränderungen der nächsten Zelle im "Schaltkreis" bewirkt. Der Mikroelektronik-Pionier Carver Mead [2] fand in den Achtzigerjahren am California Institute of Technology heraus, dass dieselben Transistoren, aus denen die Schaltkreise von Computerprozessoren bestehen, sich auch dazu nutzen lassen, Schaltungen zu bauen, die das elektrische Verhalten von Neuronen nachahmen. Seither arbeiten Wissenschaftler und Ingenieure daran, immer komplexere künstliche Nervenzellen auf Silizium-Basis zu entwickeln. Im Modell nachgebildet wurden unter anderem die Netzhaut, die Innenohrschnecke, die für die Umwandlung von Schallwellen in Nervensignale zuständig ist, sowie der für die Erinnerung wichtige Hirnteil Hippocampus. Der Fachbegriff für die Erstellung solcher Modelle nennt sich Neuromorphing.

Kwabena Boahen [3], Neuroingenieur an der Stanford University, geht nun zusammen mit einem Forscherteam noch einen Schritt weiter: Er will unsere Großhirnrinde "in Silizium gießen". Es könnte das größte Neuromorphing-Projekt aller Zeiten werden. Die erste Version des Modells soll aus 16 Chips bestehen, die jeweils eine 256 × 256 Felder große Ansammlung künstlicher Hirnzellen aus Silizium enthalten. Einzelne Gruppen dieser Hirnzellen können verschiedene elektrische Eigenschaften besitzen, die sich an den verschiedenen Zelltypen der Großhirnrinde orientieren. Damit lassen sich dann bestimmte Verbindungen programmieren, um den Aufbau der einzelnen Teile der Großhirnrinde nachzubilden.

"Wir haben dabei vor, verschiedene Verbindungsmuster und verschiedene Abläufe durchzuprobieren", erklärt Boahen. Das sei bislang so niemals möglich gewesen. In der Endphase sollen Chips stehen, die andere Forscher dann erwerben können, um ihre eigenen Theorien zur Funktionsweise der Großhirnrinde auszutesten. Dieses neue Wissen ließe sich dann in die nächste Generation der Chips integrieren, erklärt Boahen.

Terrence Sejnowski [4], Chef des Computational Neurobiology Laboratory am Salk Institute im kalifornischen La Jolla, hält das Vorhaben für äußerst spannend: "Die Technologie ist so weit fortgeschritten, dass man endlich über große Simulationen nachdenken kann." Sejnowski untersucht zurzeit, wie der Thalamus, der verschiedene Bereiche des Gehirns verbindet und Informationen weiterleitet, mit der Großhirnrinde interagiert. "Aktuell ist es uns nur möglich, kleine Simulationen mit hunderten oder tausenden Hirnzellen zu fahren. Es wäre natürlich toll, wenn wir dies sichtbar nach oben skalieren könnten."

Boahens Modell wird über eine Million Zellen verfügen und mit dem Äquivalent von 300 Teraflops laufen. Durch die Verwendung dedizierter Hardware kann die Simulation in Echtzeit arbeiten – ganz im Gegensatz zu bisherigen Software-Simulationen [5]. "Statt tausende Software-Befehle zu durchlaufen, fließt hier nur ein Strom durch Transistoren, wie das auch bei normalen Hirnzellen der Fall ist", erklärt der Neuroingenieur.

Die Umsetzung des Projektes steht allerdings noch vor einigen Hürden. "Boahen muss es schaffen, eine große Anzahl von Chips korrekt miteinander arbeiten zu lassen", meint der Zürcher Experte Douglas. Bisher habe noch niemand eine derart große Struktur gebaut. Sollte sie funktionieren, könnte dies ein Wendepunkt für das Forschungsfeld Neuromorphing bedeuten: "Wir befinden uns heute erst in einer Phase, die man mit den Anfängen der Computerchip-Industrie vergleichen könnte." Mit verschiedenartigen Logik-Gattern habe man damals schon länger gespielt: "Die Forscher brauchten aber erst eine ganz andere Weltsicht, um echte Prozessoren zu bauen."

Neben der Vermittlung eines besseren Verständnisses für die Abläufe im Gehirn könnte die künstliche Großhirnrinde auch zu ganz praktischen Ergebnissen führen – etwa bei der Entwicklung besserer Hirn-Maschine-Schnittstellen. Gert Cauwenberghs, Neuroingenieur an der University of California in San Diego, freut sich hierbei vor allem über den Echtzeit-Ansatz der Technik: "Wir könnten so im Prinzip ein echtes Interface bauen." Verliere ein Mensch dann motorische oder sensorische Fähigkeiten, könne man diese womöglich eines Tages durch so produzierbare Technologien ersetzen. (wst [6])


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https://www.heise.de/-279491

Links in diesem Artikel:
[1] http://www.ini.uzh.ch/~rjd/
[2] http://www.cs.caltech.edu/cspeople/faculty/mead_c.html
[3] http://bioengineering.stanford.edu/faculty/boahen.html
[4] http://www.salk.edu/faculty/faculty/details.php?id=48
[5] https://www.heise.de/hintergrund/Geist-in-der-Maschine-277969.html
[6] mailto:wst@technology-review.de